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Biel

«Etwas stimmt im System nicht»

Die Stadt verschuldet sich in der Krise massiv, um ein Sparpaket und eine Steuererhöhung zu umgehen. Ist das angesichts des bereits riesigen Schuldenbergs verantwortbar? Finanzdirektorin Silvia Steidle (PRR) nimmt Stellung zur prekären Situation.

Silvia Steidle (PRR) stellt Forderungen: Die Bieler Finanzdirektorin mag nicht mehr über kleine Budgetposten wie das Ausdrucken von Berichten diskutieren. Bild: Matthias Käser

Interview: Lino Schaeren

Silvia Steidle, hat Ihnen die finanzielle Situation der Stadt Biel eigentlich schon schlaflose Nächte bereitet?

Silvia Steidle: Nein. Wenn ich nicht mehr ruhig schlafen könnte, würde ich aufhören, diesen Job zu machen. Aber Sorgen mache ich mir schon. Ich nehme die Situation sehr ernst.

Wie würden Sie die aktuelle Lage beschreiben? Steht die Stadt kurz vor dem finanziellen Abgrund?

Selbstverständlich nicht. Wir haben gewisse Reserven. Aber es ist fünf vor zwölf. Ändert sich nichts, sind die Polster in drei Jahren aufgebraucht. Das ist für eine Stadt mit der Grösse von Biel eine kurze Zeit. Wenn wir die Wende nicht hinkriegen, stehen wir Ende der Legislatur tatsächlich vor dem Abgrund.

Für 2022 haben Sie ein betriebliches Defizit von 31 Millionen Franken budgetiert. Das entspricht mehr als fünf Steuerzehnteln. Da müssen doch jetzt und heute alle Alarmglocken schrillen?

Glocken machen Lärm. Aber mit Lärm lösen wir keine Probleme. Wir haben mit dem Städteverband eine Studie erarbeitet, die klar zeigt, dass die Steuereinnahmen in den meisten grösseren Städten aufgrund der Pandemie stark eingebrochen sind. Gleichzeitig sind die Fürsorgekosten gestiegen. Ein Drittel aller Gemeinden hat 2020 in der Jahresrechnung ein Defizit ausgewiesen. Es geht also nicht nur uns schlecht. Bei uns betrug das Minus im vergangenen Jahr rund fünf Millionen Franken.

Dass es anderen in der Pandemie auch schlecht geht, macht die Situation für Biel nicht besser. Biel ist finanziell schwach aufgestellt, die Steuerkraft ist pro Kopf nur halb so hoch wie in Bern, die gesamten Steuereinnahmen werden durch die hohen Fürsorgeaufwendungen weggefressen …

… Sie sprechen die Stadt Bern an. Haben Sie das Sparpaket, das Bern schnüren muss, angeschaut?

Dort wird über Leistungsverzicht diskutiert, ja.

Ich habe das Entlastungspaket von Bern im Detail studiert. Mich nimmt natürlich wunder, ob sie dort eine Idee haben, die wir bei uns noch nicht angewandt haben. Und wissen Sie was? Vieles, was derzeit in Bern diskutiert wird, haben wir in Biel bereits durchgekaut oder sogar umgesetzt.

Bern lebte über seinen Verhältnissen und reagiert nun auf die roten Zahlen. In Biel wird das betriebliche Defizit hingegen einfach mit dem Auflösen von Reserven aufgefangen.

Biel hat nie über seinen Verhältnissen gelebt. Ob Bern das getan hat, will ich nicht beurteilen, ich konzentriere mich auf mein Budget. Und ich stelle fest: Unsere Verwaltung ist alles andere als aufgebläht. Bereits meine Vorgänger auf der Finanzdirektion haben geschaut, dass wir nicht überdotiert sind.

Die Stadt hat in den letzten fünf Jahren über 160 neue Stellen geschaffen.

Ja, aber in den obligatorischen Bereichen, die gegenfinanziert sind. Heisst: Bei den Schulen und im Sozialen. Der Kanton gibt genau vor, wo diese Ressourcen eingesetzt werden müssen. Nein, unsere Verwaltung ist wirklich nicht überdotiert. Wir haben in Biel bereits 2015 eine Haushaltssanierung durchgeführt. Der Spielraum ist bei uns längst nicht so gross wie jetzt in Bern. Auch bei den Investitionen leben wir im Vergleich mit anderen Städten nicht auf grossem Fuss. Öffentliche Infrastruktur müssen wir bereitstellen, ob wir wollen oder nicht. Wir müssen in unsere Schulhäuser investieren, weil wir den Schulraum brauchen. Die Stadt kann nur über einen sehr kleinen Teil der Ausgaben wirklich selber befinden.

Biel schüttet jedes Jahr ziemlich viele Subventionen aus …

… kommen Sie mir jetzt nicht wieder mit dem Theater-Orchester! Ich werde dem Parlament nicht noch einmal die Kürzung der Subventionen vorschlagen. Man kann nicht als Wohngemeinde attraktiv sein wollen, um mehr Steuereinnahmen zu generieren, und gleichzeitig den Menschen das kulturelle Programm wegnehmen oder das Hallenbad schliessen. Wenn der Stadtrat Leistungen abbauen will, muss er das von sich aus tun, ich empfehle das nicht. Noch einmal: Wir befinden uns aufgrund der Coronasituation in einer Sondersituation. Und jetzt werde ich sehr politisch, das dürfen Sie auch genau so schreiben.

Ich bitte darum.

Den Städten geht es in der Krise finanziell sehr schlecht. Gleichzeitig sagen mir die Regierungsrätin des Kantons Schaffhausen und der Finanzvorsteher aus Zug, dass es bei ihnen blendend läuft. Da muss ich sagen: Etwas stimmt im System nicht. Natürlich: Die wirtschaftliche Situation hat sich in der Schweiz schneller erholt als in umliegenden Ländern. Aber wenn ein Drittel der Städte in finanzielle Schieflage gerät und ich aus Zug höre, dass sie dort gleichzeitig 250 Millionen Gewinn geschrieben haben, müssen wir Grundlegendes diskutieren. Die Städte sind nicht nur wichtig als Wohnort, hier sind auch viele Firmen angesiedelt. Die Städte tragen viel zum Bruttoinlandsprodukt bei. Wenn die Attraktivität der Städte schwindet, wandern die Firmen ab, die Leute zieht es aufs Land, die Zersiedelung nimmt zu, die Energiewende wird erschwert.

Sie sprechen auf die starke Abhängigkeit Biels von der Exportindustrie an, die in dieser Krise besonders leidet.

Im Gegensatz zu Zug oder Schaffhausen haben wir in Biel kaum Briefkastenfirmen. Basel hat die Pharmaindustrie, Zürich hat Google. Biel steht in der derzeitigen Krise aber nicht alleine da. Vielen Städten geht es ähnlich. Wenn es vielen schlecht geht, ist es einfacher, sich zusammenzuschliessen und Forderungen für einen besseren Ausgleich zu deponieren. Wir setzen uns ein für unsere Bevölkerung: Es geht doch nicht, dass einige Kantone und Städte die Steuern noch weiter senken können, während Bielerinnen oder Berner auf öffentliche Toiletten verzichten müssen. Die Menschen zahlen nicht Steuern, damit, wie jetzt in Bern diskutiert, bei der Strassenreinigung gespart wird. Auch wir haben 2015 über genau darüber debattieren müssen. Das ist nicht der richtige Weg. Wir sind ein kleines Land, wir brauchen Solidarität und gegenseitiges Wohlwollen.

Was fordern Sie konkret?

Wir müssen aufgrund der Auswirkungen der eidgenössischen Steuerreform über ein neues ausgleichendes Regulierungssystem diskutieren. Müssen die Städte von der Mehrwertsteuer profitieren? Soll der Anteil der Städte an der Bundessteuer erhöht werden? Und sollten die Städte nicht direkt von den Nationalbankmilliarden profitieren? Das sind die drei klassischen Forderungen. Gleichzeitig müssen wir ganz grundsätzlich das Ausgleichssystem zwischen den Kantonen anschauen. Ich bin derzeit in meiner Rolle als Präsidentin der Konferenz der städtischen Finanzdirektorinnen und Finanzdirektoren häufig in Bundesbern. Dass die Städte mit einbezogen werden, ist schon ein Riesenfortschritt im Vergleich zu vor fünf Jahren. Wir sind bei jeder Sitzung mit dem eidgenössischen Finanzdepartement und der kantonalen Finanzdirektoren dabei.

Wenn Biel die Kurve kriegen soll, müssen Sie die Einnahmen der Stadt unabhängig von der Covid-Krise in den nächsten Jahren um 20 bis 25 Millionen steigern. Wo wollen Sie dieses Geld hernehmen?

Wir erhoffen uns wie gesagt mit dem Einsatz auf übergeordneter Ebene eine Entlastung. Gleichzeitig arbeiten wir auch auf Stadtebene an Projekten. Es ist klar: 25 Millionen generieren wir nicht, indem wir darüber diskutieren, ob die Geschäftsberichte noch auf Papier ausgedruckt werden sollen. Wir müssen grösser denken. Krisen sind eine Chance. Wenn man gezwungen ist, etwas zu unternehmen, spriessen die Ideen. Ich denke etwa an die Landpolitik. Städtischer Wohnungsbau ist ein Thema, das wir derzeit ganz, ganz seriös anschauen und berechnen.

Wieso haben Sie damit nicht viel früher begonnen? Es gibt Städte, die damit seit vielen Jahren gutes Geld machen.

Die Frage ist, wann ein Thema reif ist, um angegangen zu werden. Wir haben ab 2013 zwei Jahre intensiv mit den Wohnbaugenossenschaften darüber verhandelt, wie wir gemeinsam die Stadt entwickeln könnten. 16 Prozent der Bieler Wohnungen werden genossenschaftlich verwaltet, viele davon auf Land, das der Stadt gehört. Das ist nicht wenig. Inzwischen haben wir die Rahmenbedingungen in Reglementen geklärt und sind an einem Punkt, wo wir über die Rolle der Stadt bei der Förderung des Wohnungsbaus diskutieren können. Nicht in Konkurrenz zu den Genossenschaften, sondern in Zusammenarbeit: Wir könnten Kapital zur Verfügung stellen, die Genossenschaften das Wissen. Die Überbauung der Gurzelen ist so ein Projekt, das wir genau analysieren müssen.

Die Stadt soll das Stadionareal gemeinsam mit den Genossenschaften bebauen?

Es ist jetzt der richtige Moment, zusammen mit den Genossenschaften die besten Modelle zu entwickeln. Die Stadt hat das Land und die Möglichkeit, sich für die Entwicklung eines Projekts zu verschulden, wenn dieses gleichzeitig Mehreinnahmen generiert.

Moment. Gemeinnütziger Wohnungsbau, der Mehreinnahmen abwerfen soll, wie geht das zusammen?

Man darf dabei nicht nur Mieteinnahmen im Auge haben. Biel hat unter den grössten Schweizer Städten einen sehr hohen Anteil an Pendlerinnen und Pendlern. Wir müssen attraktive, innovative Wohnformen zu guten Konditionen fördern, damit diese Menschen ihren Wohnsitz nach Biel verlegen und hier Steuern zahlen, ihre Freizeit verbringen, konsumieren. Gleichzeitig bringt es der Stadt bedeutende Mehreinnahmen, wenn Wohnbaugenossenschaften nicht nur sanieren, sondern Neubauprojekte realisieren. Der Grund dafür ist einfach: Die Baurechtszinse für Siedlungen, die vor 60 Jahren festgelegt wurden, sind weit tiefer als jene, die heute festgelegt werden. Die heutigen Quadratmeterpreise für gemeinnützige Wohnbauträger sind zwar immer noch unter den Marktpreisen angesetzt. Realisieren einige Genossenschaften Neubauprojekte, resultieren für die Stadt dennoch Mehreinnahmen in Millionenhöhe.

Und deshalb ist es im Interesse der Stadt, allenfalls als Kapitalgeberin Genossenschaftsprojekte zu ermöglichen?

Ich bin überzeugt, wenn der Wille besteht, können wir gemeinsam vorangehen. Und was die Gurzelen betrifft, spüre ich grossen Willen. Wir müssen in den nächsten Monaten genau prüfen, wie eine Beteiligung funktionieren könnte. Die Wohnungen der Genossenschaften sind heute gut vermietet. Sie wissen, wie der Markt funktioniert. Unsere Aufgabe ist es, eine Win-win-Situation zu schaffen. Die Herausforderung ist schliesslich auch für die Genossenschaften gross: Sie wollen bis 2035 einen Anteil von 20 Prozent auf dem Bieler Wohnungsmarkt erreichen. Das bedingt massive Investitionen. Der erste, der in Biel über die Förderung von Genossenschaften gesprochen hat, war übrigens Guido Müller (Bieler Stadtpräsident von 1921 bis 1947, die Red.). Er hat damals mit ihnen zusammengearbeitet, um günstige Wohnungen für die Stadtangestellten zu schaffen. Müller war zwar bei der SP, aber trotzdem ein gescheiter Mann (lacht). Er hat Krisen stets als Chance betrachtet und das müssen wir auch tun.

Schön und gut, Sie werden aber kaum innerhalb von drei Jahren mit städtischem Wohnungsbau und der Ansiedlung von neuen Wirtschaftsbranchen 25 Millionen Mehreinnahmen generieren. Wie lange dauert es noch, bis Biel wieder die Steuern erhöhen muss?

Es ist klar, dass wir die grossen Bewegungen nicht innerhalb von zwei, drei Jahren hinkriegen. Wenn sich die Wirtschaft nicht schnell von der Coronakrise erholt, sind wir Ende der Legislatur in einem Bilanzdefizit. Das heisst, die Reserven sind aufgebraucht. Das ist keine Drohung, man kann das ganz einfach berechnen.

Und dann?

Es gibt zwar keine Schuldenbremse für Gemeinden. Der Kanton würde von uns aber einen Finanzierungsplan verlangen. Zu einer Steuererhöhung oder zu Einsparungen werden wir vielleicht schon früher gezwungen. Denn jede weitere Verschuldung führt dazu, dass die Leute nicht mehr ruhig schlafen können. Wir zahlen bereits heute jedes Jahr 20 Millionen Zinsen auf unsere Schulden an die Banken.

Und das bei sehr niedrigen Zinsen. Steigt der Zinssatz wieder an, sieht es übel aus.

Ganz genau! Und wir können die Schulden nicht zurückzahlen, sondern beziehen weiter Fremdkapital. Zu hervorragenden Konditionen zwar, weil wir als Stadt, die viel Land besitzt, ein sehr gutes Portfolio haben. Die Banken kommen sehr gerne zu uns. Das Problem ist aber, dass unsere Kinder und Grosskinder die Schulden, die wir heute machen, werden abstottern müssen.

Der Finanzplan sieht für 2024 bereits eine Verschuldung von mehr als einer Milliarde Franken vor, das ist mehr als zweimal das gesamte Jahresbudget der Stadt Biel.

Ich spreche jetzt als Bürgerin dieser Stadt und nicht als Finanzdirektorin. Als Bürgerin von Biel würde ich lieber heute 1000 Franken mehr Steuern pro Jahr zahlen, um die Verschuldung etwas abzubauen und die dringend nötigen Infrastrukturprojekte zu finanzieren. Die Alternative ist, dass die Last der Generation meiner Tochter übertragen wird. Der Gemeinderat hat im Budget 2022 auf eine Steuererhöhung verzichtet, weil die Belastung für die Bevölkerung schon aufgrund der Covid-Krise gross ist. Die Lage auf der Steuerverwaltung war noch nie so angespannt wie in diesem Jahr. Die Leute kommen zuhauf und sagen, dass es ihnen unmöglich ist, die Steuerrechnung zu bezahlen, weil sie nicht arbeiten können. Die Unsicherheit ist riesig. Deshalb müssen wir jetzt als Stadt von den Reserven zehren. Wenn sich die Situation wieder entspannt hat, werden wir aber auch bei den Steuern ansetzen müssen. Dafür sollten wir bereits heute Verständnis schaffen.

Wie viele Schulden sind für eine Stadt wie Biel gesund?

Das ist eine gute Frage. Schulden sind dann gesund, wenn wir uns verschulden, um zu investieren. Zum Beispiel in eine Genossenschaft, die Menschen nach Biel lockt, die dann hier arbeiten, leben, Steuern bezahlen. Schulden sind also gesund, wenn sie einen Mehrwert schaffen. Die jetzige Situation ist hingegen ungesund. Wir können keine Schulden abbauen, ohne die Attraktivität der Stadt zu schmälern.

Die Stadt muss derzeit sogar Schulden machen, um den Betrieb der Verwaltung aufrechterhalten zu können.

Ganz genau. Das ist sehr ungesund. Nicht aus Sicht der Banken, die kommen weiterhin zu uns. Aber für die kommenden Generationen. Die Situation ist prekär. Der Finanzplan sieht für die kommenden vier Jahre eine zusätzliche Verschuldung von 200 Millionen Franken vor. Sie haben zu Beginn unseres Gesprächs vom Abgrund gesprochen.

Vom finanziellen Abgrund, ja.

Sehen Sie, man kann nicht so einfach sagen, dass die Grenze einer gesunden Verschuldung für Biel bei 800 oder 900 Millionen Franken liegt. Eines ist aber ganz klar: Wenn wir diese 200 Millionen in den nächsten vier Jahren nur für Investitionen verwenden müssen, die keinen Mehrwert bringen, ja, dann stehen wir wirklich vor diesem finanziellen Abgrund.

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