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Biel

Fast doppelt so viele Polizeieinsätze wegen häuslicher Gewalt

Während der Pandemie ist die Polizei kantonsweit häufiger wegen häuslicher Gewalt ausgerückt.
Beim Frauenhaus Biel sind im letzten Jahr hingegen kaum mehr Anrufe eingegangen.

Symbolbild: Keystone

Sarah Grandjean

Keine Sprachkurse, keine Arztbesuche, keine Einkäufe: Im Frühling fehlte Menschen, die von häuslicher Gewalt betroffen sind, von einem Tag auf den anderen jeglicher Freiraum. Das Leben reduzierte sich auf das eigene Zuhause, wo die nötige Sicherheit und Geborgenheit fehlten.

Die polizeilichen Interventionen wegen häuslicher Gewalt haben im letzten Jahr stark zugenommen: nämlich um 40 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Dies hat der Kanton Bern gestern an einer Medienkonferenz bekannt gegeben. Mehr als 1300 Mal ist die Polizei im vergangenen Jahr wegen häuslicher Gewalt ausgerückt, dies entspricht drei bis vier Einsätzen pro Tag. Zwei Drittel der Einsätze haben im zweiten Halbjahr stattgefunden.

 

Feingefühl gefragt

Dies dürfte laut Regierungsrat Philippe Müller (FDP) einerseits auf die Auswirkungen der Pandemie zurückzuführen sein: Die Menschen waren gezwungen, mehr Zeit zu Hause zu verbringen. Zu einer engen Wohnsituation kamen möglicherweise existenzielle Ängste hinzu. Betroffene von häuslicher Gewalt fühlten sich in den eigenen vier Wänden nicht mehr sicher, fürchteten im schlimmsten Fall um ihr Leben. Aber auch die Sensibilisierung der Bevölkerung dürfte zu den vermehrt gemeldeten Fällen beigetragen haben, ebenso die Einführung des neuen Polizeigesetzes, das einen besseren Opferschutz ermöglicht.

«Wenn die Polizei zu einem Fall gerufen wird, hat das Opfer meist bereits einen längeren Leidensweg hinter sich», sagt Stefan Blättler, Kommandant der Kantonspolizei Bern. Solche Einsätze erforderten ein hohes Mass an Sozialkompetenz und Fingerspitzengefühl. Häusliche Gewalt komme nicht nur in Paarbeziehungen vor, sondern auch bei getrennten Paaren, zwischen Kindern und Eltern oder Angehörigen des erweiterten Familienkreises. In vielen Fällen seien Frauen betroffen, ebenso aber Männer und Kinder.

 

Gewalt hat viele Gesichter

Häusliche Gewalt habe viele Erscheinungsformen, sagt Cindy Rollier, Chefin des Polizeibezirks Seeland West und Polizeiausbildnerin im Bereich häusliche Gewalt. Dazu zählen Formen von physischer Gewalt wie Ohrfeigen, Würgen oder Nötigung zu einer sexuellen Handlung, ebenso psychische Formen wie dem Partner oder der Partnerin den Kontakt zu anderen zu verbieten, sie oder ihn zu beschimpfen oder zu demütigen.

Rücke die Polizei zu einem Einsatz aus, müsse sie emotionale Distanz bewahren. «Mitleid für Kinder kann ich persönlich aber oft nicht unterdrücken», so Rollier. Vor Ort trenne die Polizei Opfer und Täter voneinander. Sobald sich die Situation beruhigt habe, beginne man mit den Abklärungen. Dies könne mehrere Stunden bis mehrere Tage dauern. Das Ausmass der Probleme zeige sich oft erst im Gespräch, sobald ein gewisses Vertrauen da sei. Wenn nötig, ergreift die Polizei Massnahmen, um das Opfer zu schützen. Aber auch Täter erhalten Hilfe. Oftmals fühlen sie sich vom Opfer zur Tat provoziert. Wenn jemand zum Beispiel jähzornig ist, rät Rollier der Person, nach draussen zu gehen, einen Freund anzurufen oder sich an eine Beratungsstelle oder einen Arzt zu wenden.

 

Mehr Handlungsspielraum

Dank dem neuen Polizeigesetz, das seit Anfang 2020 in Kraft ist, kann die Polizei den Täter wenn nötig neu für 20 anstatt wie bisher für 14 Tage aus der gemeinsamen Wohnung wegweisen. Ihm werden für diese Zeit die Schlüssel abgenommen. Hält er sich nicht daran, wird er verzeigt. Diese Massnahme gibt dem Opfer mehr Zeit, sich zu erholen, Hilfe zu holen und allenfalls eine neue Wohnung zu suchen. Die Polizei kann auch ein Kontakt- und Annäherungsverbot aussprechen. Im schlimmsten Fall geben Opfer und Kinder ihr bisheriges Leben auf, werden an einem geheimen Ort untergebracht und erhalten einen neuen Namen.

Die Polizei meldet jeden Fall einer Beratungsstelle, dazu braucht sie nicht die Zustimmung des Opfers. Auf diese Weise sollen Hemmungen und Schamgefühle überwunden werden. Denn die Dunkelziffer von häuslicher Gewalt liegt bei 80 Prozent. Gemäss Philippe Müller gilt es, Tragödien zu verhindern, die sich an dem Ort abspielen, wo jeder und jede sich sicher fühlen müsste.

 

Mehr Anrufe als 2019

Dem hat sich das Bieler Frauenhaus und die Opferberatungsstelle verschrieben. Geschäftsleitern Myriame Zufferey sagt, zu Beginn des ersten Lockdowns seien nur sehr wenige Anrufe eingegangen. Das habe ihr Sorgen bereitet. Sie wusste nicht: Fehlte den Opfern die Möglichkeit, Hilfe zu holen, oder war es der Schock der Pandemie und die damit verbundene Unsicherheit, die sie verstummen liess?

Nach wenigen Wochen seien die Anrufe wieder mehr geworden, im Sommer hätten sie einen Höchststand erreicht. Die genauen Zahlen kennt Zufferey noch nicht, sie sagt aber, es seien 2020 insgesamt mehr Anfragen eingegangen als 2019. Allerdings nicht mehr als in manchen Vorjahren. Sie befürchtet, dass sich dies im nächsten Jahr ändern könnte, sobald die Leute wieder rausgehen und einander erzählen können, was sich in den eigenen vier Wänden zugetragen hat.

Momentan sei es für Betroffene schwierig, an Hilfe zu kommen. Durch Homeoffice haben Täter mehr Kontrolle über das Opfer. Manche Betroffene würden sich auf der Toilette einsperren, um eine Nachricht an die Opferberatungsstelle zu schicken, andere anrufen und ganz schnell wieder aufhängen. Während des ersten Lockdowns bestand für Zufferey die Herausforderung darin, dass viele Beratungsstellen geschlossen waren und deswegen das Netzwerk fehlte: «Eine Zeitlang fühlten wir uns allein mit der Polizei.»

Stichwörter: Gewalt, Familie, Biel

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