Sie sind hier

Abo

Biel

Früher suchte sie Hilfe, heute gibt sie Tipps

Über eine Million Menschen in der Schweiz haben Defizite beim Lesen, Schreiben, Rechnen oder in der digitalen Welt. Die Bielerin E.K.* war eine davon: Sie konnte nicht richtig schreiben. Doch heute fragen sie andere um Rat.

Paula Klemt vom Dachverband Lesen und Schreiben während eines Beratungsgesprächs mit E.K.*. Bild: Daniel Mueller

Sarah Zurbuchen

«Ein Kollege sagte mir einmal: ‹Wow, du machst aber viele Schreibfehler›.» Erst da wurde der Bielerin E.K.* bewusst, dass sie in der geschriebenen Sprache ein Defizit hatte.

Gemäss Schätzungen des Bundes leben in der Schweiz rund 400 000 Erwachsene mit Schwierigkeiten, einfache Rechenaufgaben zu lösen. 800 000 können nicht genügend lesen und schreiben. «Diese fehlenden Grundkompetenzen können bei den betroffenen Personen Angst und Scham auslösen», so Fabienne Müller von der Bildungs- und Kulturdirektion des Kantons Bern. Eine nationale Kampagne will diese Menschen und ihr Umfeld nun auf Unterstützungsangebote und Kurse aufmerksam machen.

Sich über Wasser halten

E.K.* hat es als Kind irgendwie geschafft, in der Schule mitzuschwimmen. «Weil ich ein fotografisches Gedächtnis habe, schnitt ich bei den Diktaten, die wir zuhause vorbereiten durften, sogar immer sehr gut ab», sagt die 55-Jährige. Später, in ihrer Ausbildung im Pflegebereich, habe man zudem mehr Wert auf ihre sozialen und fachlichen Kompetenzen als auf das Schreiben gelegt. Ihre Diplomarbeit liess sie von ihrem Ehemann korrigieren.

«Das sind typische Strategien, um sich über Wasser zu halten», sagt Paula Klemt vom Schweizerischen Dachverband Lesen und Schreiben. Viele Menschen mit fehlenden Grundkompetenzen würden deshalb eher handwerkliche Berufe wählen. Weil die administrativen Anforderungen heute anspruchsvoller geworden seien, würden die Betroffenen heute zudem zögern, einen Pflegeberuf zu wählen.

Die Gründe, warum eine Person ungenügend Schreiben, Lesen oder Rechnen gelernt hat, sind sehr unterschiedlich. Das könne an der familiären Situation liegen oder an gesundheitlichen Problemen, so Paula Klemt. «Es müssen aber nicht immer schwerwiegende Probleme dahinterstecken», sagt sie. Manchmal hätten Kinder oder Jugendliche einfach auch andere Präferenzen, als sich auf das Lernen zu konzentrieren. Später kann sich dies dann allerdings negativ auswirken. Oft fehlt den Menschen dann die Möglichkeit, sich zu entwickeln, auf Veränderungen zu reagieren oder den wachsenden Anforderungen in der Berufswelt zu genügen.

Als E.K.* bewusst wurde, dass sie in der schriftlichen Sprache Nachholbedarf hatte, wollte sie diese Lücke schliessen. Sie suchte nach Möglichkeiten, ihr Deutsch zu verbessern und erkundigte sich bei der Migros-Klubschule nach einem Kurs. «Doch dort sagte man mir, ich sei zu stark, dies sei ein Kurs für Personen, die Deutsch lernen wollten.» Sie aber konnte lesen und las auch sehr viel. Schliesslich stiess sie auf das Angebot des Dachverbands Lesen und Schreiben. «Dort hiess es: Sie sind am richtigen Ort. Das war für mich eine Erlösung.» Paula Klemt bestätigt: Für Menschen, die Defizite beim Lesen oder Schreiben haben, sei es schwierig, ein passendes Angebot zu finden. Denn sie seien ja keine Analphabeten.

In den Kursen des Dachverbandes Lesen und Schreiben widmen sich die Teilnehmenden einem übergeordneten Thema, zum Beispiel Dehnungslauten, Doppelungen oder Gross- und Kleinschreibung. Die Betroffenen verfolgen individuelle Ziele, um Alltag und Beruf besser meistern zu können. Bereits seit sieben Jahren besucht E.K.* nun immer wieder Kurse in Biel. «Eine grosse Bereicherung», sagt sie. Inzwischen ist sie bereits so schreibsicher, dass ihre Arbeitskolleginnen sie manchmal um Rat fragen. «Das macht mich stolz.»

Sie schreibt Kurzgeschichten

Die Bielerin schreibt übrigens leidenschaftlich gerne Kurzgeschichten. Paula Klemt überrascht das nicht. Sie hat die Erfahrung gemacht, dass in vielen Menschen mit fehlenden Grundkompetenzen ein kreatives Potenzial schlummert. Sie hätten leider das Vertrauen in ihre Fähigkeiten verloren, weil Schule und Gesellschaft defizitorientiert seien. «Das ist schade, denn mehr Verständnis für ihre Schwäche macht Betroffenen Mut, an ihren Themen zu arbeiten.»

*Name der Redaktion bekannt.



Stichwörter: Lesen, Schreiben, Beratung

Nachrichten zu Biel »