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Frauenstimmrecht

«Für mich hat damals ein neues Leben begonnen»

Als sich die Schweizer Männer am 7. Februar 1971 für das nationale Frauenstimmrecht aussprachen, durften die Bielerinnen bereits seit drei Jahren wählen und stimmen gehen. Der Weg zum kommunalen Stimmrecht war jedoch ebenso von Rückschlägen geprägt wie der zum nationalen. Drei Zeitzeuginnen blicken zurück.

1969 demonstrierten 5000 Frauen und Männer beim «Marsch auf Bern» lautstark für die längst überfällige Einführung des nationalen Frauenstimmrechts. In Biel sassen zu diesem Zeitpunkt bereits die ersten Frauen im Stadtrat. keystone
Jana Tálos
 
Als Bundesrat Ludwig von Moos am Abend des 7. Februar 1971 vor die Presse trat und mit feierlicher Stimme die Annahme des Frauenstimmrechts verkündete, blieb es in Biels Strassen ungewöhnlich still. Keine Freudenschreie auf den Balkonen. Keine Umzüge durch die Innenstadt. Keine Luftballons, die in den Himmel stiegen und die frohe Botschaft in die Welt hinaustrugen. «Nichts. Einfach nichts auf der ganzen Linie», beschrieb eine Redaktorin des «Bieler Tagblatt» die Stimmung an diesem Abend. Nicht einmal ein müdes Lächeln habe man sich auf der Strasse geschenkt. 
Dabei war das Frauenstimmrecht gerade in der Seeländer Metropole mit einem überwältigenden Mehr angenommen worden. Über 80 Prozent der Bieler Männer hatten sich für die eidgenössische Vorlage ausgesprochen, deutlich mehr als auf nationaler oder kantonaler Ebene.
Warum also diese Gleichgültigkeit? Warum diese Stille? Haben sich die Bieler Frauen etwa nicht gefreut über die neuen politischen Rechte, die ihnen – auch dem damaligen «Bieler Tagblatt» zufolge – längst hätten zugestanden werden müssen?
 
«Nichts als logisch»
«Natürlich haben wir uns gefreut», sagt Claire-Lise Renggli, damalige Präsidentin des Verbands der Bieler Frauenvereine. Die 88-Jährige sitzt in ihrem Wohnzimmer an der Alpenstrasse in Biel und blickt durch eine grosse Fensterfront auf die verregnete Stadt, in deren Dienst sie sich vor über 50 Jahren gestellt hatte.
Klar hätten sie und ihre Mitstreiterinnen für die Vorlage geweibelt und ihre Mitglieder dazu aufgerufen, die Männer zu einem Ja zu bewegen. «Gejubelt und gefeiert haben wir aber bereits drei Jahre zuvor», sagt Renggli. 1968 war den Bielerinnen auf kommunaler Ebene das Stimm- und Wahlrecht erteilt worden. 
Als dann 1971 die eidgenössische Vorlage zur Abstimmung kam, sassen die Frauen bereits zu fünft im Bieler Stadtrat, darunter auch Renggli, die als erste Frau für den Parti national romand (heute Parti radical romand) ins städtische Parlament gewählt worden war. «Dass wir bald auch national mitbestimmen durften, war für uns nichts als logisch», sagt die Freisinnige. Darum auch keine Demonstrationen, keine Kundgebungen: Man hatte es schlicht nicht für möglich gehalten, dass die Männer die Zeichen der Zeit ein weiteres Mal verkennen könnten.
 
Fortschrittlich unterwegs
Wäre es allein nach den Bieler Männern gegangen, hätten die Schweizerinnen das nationale Stimm- und Wahlrecht auch schon weitaus früher bekommen. Bei der ersten Abstimmung 1959 legten rund 53 Prozent von ihnen ein Ja in die Urne. Zum Vergleich: Im Kanton Bern sprachen sich damals noch lediglich 35,5 Prozent der Männer für das Stimm- und Wahlrecht der Frauen aus, national sogar nur 33,1 Prozent.
Auch Annemarie Geissbühler, ehemalige Sekundarlehrerin und Tochter des Bieler Volkshaus-Architekten Eduard Lanz, erinnert sich, dass man sich in der Uhrenstadt relativ früh offen gegenüber den Frauenrechten gezeigt hatte: «Biel war damals sehr fortschrittlich unterwegs, zumindest im Vergleich zu anderen Deutschschweizer Städten», sagt die 93-Jährige. Wie Renggli wohnt auch sie heute noch in Biel in ihrem Elternhaus an der Schützengasse. 
Als Beispiel für diese Offenheit nennt Geissbühler den Umstand, dass es in Biel bereits zu ihrer Schulzeit selbstverständlich gewesen sei, dass Frauen nicht nur in der Primarschule, sondern auch in der Oberstufe unterrichteten. «In anderen Städten, wie etwa in Bern, war das zu der Zeit noch klar den Männern vorbehalten», erinnert sie sich. Tatsächlich war die Anstellung von weiblichen Lehrkräften in der Sekundarstufe in der Schweiz lange Zeit verpönt. Man war der Meinung, dass ihnen die nötige «physiologische Voraussetzung» (Stimme und breite Brust) und Reflexion fehlte.
 
Nicht mit uns!
Den Bieler Frauen war es aber offenbar gelungen, die Behörden früh zu überzeugen, dass sie sehr wohl über die nötigen Fähigkeiten verfügten, um ältere Kinder zu unterrichten. Es erstaunt daher nicht, dass es anfangs des 20. Jahrhunderts vor allem auch Lehrerinnen waren, die sich in Biel öffentlich für die Frauenrechte starkmachten. 
Eine davon war die 1978 verstorbene Alice Boder-Lauper. Sie war Annemarie Geissbühlers Primarlehrerin und eine der Protagonistinnen des Bieler Milchkriegs, der bis heute als Meilenstein in der frühen Bieler Frauenbewegung angesehen wird.
Auslöser dieses Milchkriegs war, dass der Hauslieferdienst für die Milch Endeder 20er-Jahre kurzerhand abgeschafft worden war. Obwohl mehrere Bieler Frauenvereine intervenierten, weigerten sich die Milchhändler hartnäckig, die Milch ohne Aufpreis wieder an die Haustüre zu liefern. 
1930 platzte den Bielerinnen schliesslich der Kragen und mit Alice Boder-Lauper als Sprecherin gründeten zwölf Frauenvereine die «Centralmolkerei», mit der sie die Milchhändler als ernst zu nehmende Konkurrenz in die Knie zwingen wollten. Der Schachzug zeigte Wirkung: 1933 erklärten die Händler, dass sie die Milch wieder ohne Aufpreis an die Haustüre liefern wollten. «Noch wichtiger aber war, dass die Frauen erkannt hatten, dass nur ein gemeinsames Vorgehen der Frauen (...) zum Erfolg führt», heisst es in der Jubiläumsschrift des Verbands der Bieler Frauenvereine, der 1932 aus der «Centralmolkerei» hervorging. Unter der Führung des Verbands wollte man sich künftig gemeinsam für die Interessen der Bieler Frauen starkmachen. Und es war klar, dass damit nicht nur der aktuelle Milchpreis, sondern auch die politischen Rechte gemeint waren.
 
Jäh ausgebremst
In den kommenden Jahren machte der Verband Bieler Frauenvereine immer wieder mit verschiedenen Aktionen auf sich aufmerksam. So forderten sie die Männer etwa dazu auf, den Frauen Einsitz in den Kommissionen in der Stadt zu verschaffen, was ihnen teilweise auch gewährt wurde. 1934 gründete der Verband eine eigene Haushaltskommission, in der er für eine Haushaltslehre der Frauen warb.
Annemarie Geissbühler erinnert sich noch gut, dass ihr Vater sie in dieser Zeit auch immer wieder mit an die Urne genommen hatte, um ihr zu zeigen, wie eine Abstimmung funktionierte. «Wenn ihr gross seid, werdet auch ihr abstimmen und wählen können», sei er überzeugt gewesen. 
Tatsächlich schienen die Chancen Ende der 30er-Jahre gut, dass die Frauen den Männern politisch bald gleichgestellt werden könnten. Sowohl national als auch regional bildeten sich immer mehr Vereine und Komitees, die gleiche Rechte und Pflichten für Frauen und Männer einforderten.  
Die erste Euphorie wurde jedoch jäh gebremst, als kurze Zeit später der Zweite Weltkrieg über Europa hereinbrach. Plötzlich standen ganz andere Dinge im Fokus: Die Frauen mussten zuhause die Familie durchbringen, während die Männer an die Landesgrenzen beordert wurden.
Trotzdem blieben Bieler Frauen auch während des Krieges nicht untätig. Gemeinsam mit ein paar Dutzend anderen Frauenvereinen im Kanton sammelten sie Unterschriften für eine Petition, in der sie denGrossen Rat dazu aufforderten, das Frauenstimmrecht zumindest auf Gemeindeebene einzuführen. Die Bittschrift, die am 16. Mai 1945 im Berner Rathaus übergeben wurde, war von rund 50 000 Männern und Frauen unterschrieben worden. Es war das Mindeste, das die Frauen erwarteten, nachdem ihnen während des Krieges so viel Last und Verantwortung übertragen worden war. 
 
Im falschen Kanton?
Was in der Folge geschah, war jedoch geradezu exemplarisch für den Umgang der Eidgenossenschaft mit dem Frauenstimmrecht: Es wurde gar nicht erst auf die Forderung eingetreten. Auch eine 1956 zur Abstimmung gebrachte Gesetzesinitiative, die immerhin 33 655 Männern im Kanton unterschrieben hatten, brachte den Frauen keinen Erfolg: Die Städte Biel, Bern und Thun sowie der Berner Jura stimmten der Vorlage zwar deutlich zu. Am Ende siegten aber einmal mehr die ländlichenRegionen: Die Initiative wurde mit 54,4 Prozent abgelehnt.
Möchte man nun zynisch sein, könnte man auch sagen, dass die Bielerinnen schlicht das Pech hatten, im falschen Kanton zu leben. Obwohl die erste nationale Vorlage über das Frauenstimmrecht 1959 klar abgeschmettert wurde, nutzten progressive Kantone in der Westschweiz nämlich die Gunst der Stunde und führten das Stimm- und Wahlrecht für Frauen auf kantonaler wie auch auf kommunaler Ebene ein.
Während ihre Freundinnen in Neuenburg oder in der Waadt also bereits munter stimmen und wählen durften, mussten die Bielerinnen weiterhin mit ansehen, wie die politischen Weichen in ihrerStadt ohne sie gestellt wurden. Ein Unrecht, das ihr damals ziemlich zu schaffen gemacht habe, erinnert sich Claire-Lise Renggli: Weil sie selbst eine Zeit lang im Kanton Neuenburg lebte, hatte sie bereits erfahren, was es bedeutet, bei kommunalen und kantonalen Abstimmungen mitmachen zu dürfen. «Als wir dann nach Biel zurückkehrten, wurde mir dieses Recht einfach wieder entzogen. Es war entwürdigend», sagt sie.
 
Frauenstimmen vereint
Immerhin: Mitte der 60er-Jahre schien die Stimmung auch im Kanton Bern langsam zu kippen. 1968 stimmten schliesslich 52,2 Prozent der Männer dafür, dass die Gemeinden im Kanton Bern das Frauenstimmrecht auf kommunaler Ebene einführen dürfen, was Biel noch im Zuge der selben Abstimmung tat. 
Claire-Lise Renggli erinnert sich noch gut, wie sie in dieser Zeit als frischgebackene Präsidentin des Verbands derBieler Frauenvereine mit den Vertretern der Bieler Parteien zusammenkam, und sogenannte Staatsbürgerkurse auf die Beine stellte, um den neuen Stimmberechtigten das nötige politische Wissen zu vermitteln. «Viele von uns hatten ja gar keine Ahnung, was eine Initiative oder eine Petition ist, oder wie man einen Wahlzettel korrekt ausfüllt», erklärt sie.
Als die Bielerinnen dann im Herbst desselben Jahres erstmals an den städtischen Wahlen teilnehmen konnten, wurde Renggli für ihren Einsatz in den Kursen belohnt: Völlig überraschend holte sie für den PNR einen zusätzlichen Sitz und zog damit als erste Frau in den Stadtrat ein. «Viele Frauen haben sich an mein Gesicht erinnert und mir ihre Stimme gegeben», sagt sie.Ihre politische Ausrichtung habe dabei kaum eine Rolle gespielt.
 
Den Samen gesät
Gemeinsam mit der kurz nach der Wahl nachgerutschten Anne-Lise Favre, die ebenfalls für den PNR politisierte, nahm Claire-Lise Renggli 1969 an ihrer ersten Stadtratssitzung teil. Es war dasselbe Jahr, indem 5000 Frauen und Männer beim «Marsch auf Bern» auf dem Bundesplatz demonstrierten, und lautstark die Einführung des Frauenstimmrechts auf nationaler Ebene einforderten. Noch im selben Jahr unterbreitete der Bundesrat dem Parlament einen ersten Entwurf für eine weitere Abstimmung vor.
Auf die Frage, was sie in ihrer Rolle als Stadträtin, und ab 1972 auch als erste nichtständige Gemeinderätin, für die Frauen erreicht habe, muss Claire-Lise Renggli kurz überlegen. Es sei schwierig, dies in Worte zu fassen, zumal es am Anfang ja vor allem darum ging, sich in der Politik zurechtzufinden. «Die grossen Akzente in Sachen Frauenrechte haben wir in dieser Zeit sicher nicht gesetzt», sagt sie.
Ganz ähnlich sieht das auch Helen Meyer-Fuhrer, die Renggli 1976 als zweite nichtständige Gemeinderätin in die Bieler Regierung folgte. «Wir haben keine Berge versetzt. Aber wir haben Samen gesät, deren Pflänzchen heute Früchte tragen», sagt sie.
 
Kein WC für Chauffeusen
Was sie damit meint, erklärt die ehemalige SP-Politikerin sogleich an einem Beispiel: 1977 hätten sich die Verkehrsbetriebe Biel, die damals noch zu denStadtbetrieben gehörten, in einer Krise befunden, weil sie einfach zu wenig Chauffeure hatten. Als es dann darum ging, dieses Problem zu lösen, habe sie dem zuständigen Gemeinderat Raul Kohler vorgeschlagen, die Stellen doch auch für Chauffeusen auszuschreiben. «Er hat mich völlig entgeistert angesehen, und so gleich angefangen, aufzuzählen, warum das nicht möglich sei», sagt Meyer-Fuhrer.
Seine Argumente: Es gebe ja gar kein WC für Frauen, die müssten erst noch geschaffen werden. Zudem würden die Frauen beim Fahren vielleicht auch ständig belästigt. Und ohnehin seien sie nicht so stressresistent wie Männer, was eine zentrale Voraussetzung für das Lenken eines Busses sei. 
Helen Meyer-Fuhrer fing daraufhin an, zu recherchieren, und legte schliesslich Studien vor, die belegten, dass Frauen sehr wohl in der Lage sind, einen Bus zu lenken, und mit Stresssituationen umzugehen. Es dauerte dann zwar noch bis in die 90er-Jahre, bis gesetzlich festgelegt wurde, dass Stellen der Stadt immer sowohl für Männer, als auch für Frauen ausgeschrieben werden müssen. «Doch ich denke, dass ich damals einen wichtigen Beitrag geleistet habe, dass man so etwas überhaupt schon mal in Erwägung zog», sagt Meyer-Fuhrer. Ein Samen eben, aus dem langsam ein Pflänzchen wuchs.
 
Rückschritte verhindert
Es ging aber auch nicht immer nur vorwärts, was den Weg hin zu mehr Gleichberechtigung von Mann und Frau in Biel betraf. Gerade in den 70er-Jahren, als die Uhrenkrise einsetzte, sei plötzlich eine Rückentwicklung zu spüren gewesen, erinnert sich Meyer-Fuhrer. 
«Während der Hochkonjunktur waren die Frauen als Lückenbüsserinnen willkommen, als dann aber die Krise kam, wurden sie als erste entlassen», sagt sie. Die Frau sei so hingestellt worden, als ob sie ohnehin keinen wichtigen Beitrag zum Familienbudget leistet, und dass sie deshalb nicht auf einen Job angewiesen sei.
Die Bieler Frauen waren sich schnell einig, dass man dagegen sofort etwas unternehmen müsse. Und so gaben einige von ihnen, darunter auch Helen Meyer-Fuhrer, 1978 die Broschüre «Frau und Arbeit» heraus, in der sie auf die Stellung der Frau und deren Recht zu arbeiten, aufmerksam zu machen. 
Auch erste Forderungen zu Vereinbarkeit von Familie und Beruf, die Möglichkeit, Teilzeit zu arbeiten, und die Rolle des Mannes im Haushalt wurden in der Broschüre platziert. «Vieles davon ist heute noch aktuell», sagt Meyer-Fuhrer. So wurden bereits damals die unterschiedlichen Löhne von Mann und Frau angeprangert. 
 
Noch Luft nach oben
Fragt man Helen Meyer-Fuhrer, ob die Gleichstellung von Mann und Frau heute erreicht ist, muss sie deshalb auch klar verneinen. Es gebe noch so vieles, das anzupacken sei, etwa eine Elternzeit, oder eben die Löhne. Gerade in der Politik hätten es Frauen zudem immer noch schwer, vor allem solche mit Kindern:«Nach wie vor gibt es keine wirklichen Betreuungsangebote am Abend», sagt sie. Aber die Politik, vor allem die kommunale, finde nun mal abends statt.
Auch Claire-Lise Renggli ist der Meinung, dass es in Sachen Gleichberechtigung noch Luft nach oben gibt. Sie findet aber, dass man auch nicht vergessen dürfe, woher man komme: «Mit der Einführung des Frauenstimmrechts hat für mich damals ein neues Leben begonnen», sagt sie. Dass sich das heute eine junge Frau gar nicht mehr vorstellen kann, zeige schon, dass bereits vieles erreicht worden ist.
Um auch noch die letzten Ungerechtigkeiten aus der Welt zu schaffen, sei es aber nötig, dass man die Kräfte bündelt. «Ich wünsche mir deshalb, dass sich wieder mehr Frauen in Vereinen engagieren», sagt sie. Denn wie schon die Frauen im Bieler Milchkrieg Anfang der 30er-Jahre erkannt hätten: Gemeinsam lassen sich Ziele viel einfacher erreichen.

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