Sie sind hier

Abo

Nidau

Geblieben sind
 Scherben, Gerümpel und Frust

Die Pächterinnen und Pächter der Familiengärten in Nidau sind frustriert: Bis Ende Monat müssen sie ihre Parzellen 
räumen – und dafür selber bezahlen. Die Eigentümerin Mikron sieht keinen Grund, die Kosten zu übernehmen.

Wer seinen Garten nicht bis Ende Monat räumt, hat die Kosten für eine Zwangsräumung zu tragen. Bild: Lee Knipp

Sarah Grandjean

Der Brief liegt Anfang Mai im Briefkasten der Pächterinnen und Pächter. Darin steht, dass das Familiengartenareal in Nidau ab 2021 der Aare Seeland mobil (ASM) zur Verfügung gestellt werden soll. Bis Ende November müssen die Pächter ihre Parzellen räumen, nur Hecken und Sträucher dürfen sie stehen lassen. Wer sich nicht daran hält, dem werden die Kosten für eine Zwangsräumung in Rechnung gestellt. Für viele ist das ein Schock. Denn das sind nicht bloss Gartenparzellen, sondern Rückzugs- und Zufluchtsorte, kleine Paradiese.

Die Familiengärten liegen in Nidau zwischen den Bahngleisen der ASM und der Ipsachstrasse. Das Areal gehört der Mikron Management AG. Diese ist Teil der Mikron-Gruppe, eines Bieler Maschinenbauunternehmens mit neun Produktionsstandorten in fünf Ländern und einem Jahresumsatz im dreistelligen Millionenbereich (2019: 327,6 Millionen Franken). Eine Gartenkommission vermittelt zwischen der Mikron und den Pächterinnen.

 

Traurig und enttäuscht

Ein Freitagnachmittag Ende Oktober: Von den einstigen Paradiesen ist nicht mehr viel zu sehen. Wo früher Himbeeren wucherten, Fahnen wehten und Rosen blühten, sind bloss Gerümpel und einzelne Gartenhäuschen geblieben. Der Weg ist matschig. Auf den Parzellen türmen sich Holz- und Metallberge zwischen Scherben und Kohl. Wie vergessen stehen hier und da gemauerte Grills, ein Korbstuhl, ein Tisch mit einer leeren Limonadendose.

Ein Mann mit Schirmmütze hebt Gartenplatten vom Boden auf einen Stapel. Er nennt sich Herr Hofstettler, seinen richtigen Namen will er nicht in der Zeitung lesen. Hofstettler hat seinen Garten seit sechs Jahren gepachtet. Damals hat er sein Häuschen auf eigene Kosten selbst gebaut, inzwischen hat er es wieder abgerissen und entsorgt. Er hat einen neuen Familiengarten in Brügg gefunden, das sei aber sehr schwierig gewesen, sagt er. Die meisten Pächter seien schon seit 40 oder 50 Jahren hier. Für seine über 80-jährige Nachbarin sei dies während des Lockdowns der einzige Ort gewesen, wo sie habe hingehen können. Hofstettler ist traurig – und «sehr, sehr enttäuscht» von der Gartenkommission. Es gebe keinen Vertrag zwischen ihr und der Mikron. Wenn es den gäbe, hätte man die Räumung vielleicht hinauszögern können.

Javier Perez-Freije, Finanzchef der Mikron Gruppe, bestätigt auf Anfrage, dass kein Vertrag existiert. «Im Jahr 2001 wurde der Gartenkommission die Kompetenz erteilt, die Verträge mit den einzelnen Pächtern selber abzuschliessen.» Die Mikron habe von der Gartenkommission auch nie Miete verlangt. «Man hat das einfach geduldet», so Perez-Freije. Kurt Wolf, Mitglied der Gartenkommission, will dazu nicht Stellung nehmen. Es handle sich hierbei um eine private Angelegenheit und es gebe nichts zu diskutieren.

 

«Arbeiten wie ein Sklave»

Ein Mann mit einer Schubkarre aus Metall kommt über den Weg. Er heisst Herr Maamouri, will nicht mit Vornamen genannt werden. Seine Parzelle befindet sich am Ende des Geländes. Vor 16 Jahren hatte Maamouri jene Parzelle gepachtet, die jetzt Hofstettler gehört. Später hat er eine Parzelle am Rand des Areals mit einem Häuschen aus dem Jahr 1942 übernommen und kurz darauf die angrenzende Parzelle dazu gepachtet. Er habe viel Zeit, Material und Geld investiert, sagt Maamouri. Für ihn ist es ein Ort voller Erinnerungen, seine Kinder seien praktisch hier aufgewachsen. Fast jedes Wochenende sei er hierher gekommen und habe gegärtnert.

Inzwischen ist die Parzelle fast kahl. Da sind nur noch plattgedrückte Maisstauden und ein kleines Beet mit Rosenkohl, der noch nicht reif ist für die Ernte. «Ça fait mal au coeur», sagt Maamouri. Das tut im Herzen weh. Er sucht keinen neuen Familiengarten mehr. Seit Juni räumt er mit der Hilfe seines Sohns die Parzelle – alles von Hand. Abends nimmt er seine Werkzeuge mit nach Hause, weil Material aus den Gärten geklaut wird. «Ich habe es satt», sagt er frustriert. «Seit fünf Monaten arbeite ich wie ein Sklave.» Er habe bereits über 800 Franken für die Entsorgung bezahlt. Maamouri findet es unfair, dass er den Garten komplett räumen muss, obwohl er ihn mitsamt dem Häuschen übernommen hat.

Das stehe so im Pachtvertrag, sagt Kommissionsmitglied Kurt Wolf. Bei einer Kündigung müssen die Pächterinnen ihre Parzelle auf eigene Kosten räumen, inklusive bestehender Bauten. Perez-Freije von der Mikron zeigt Verständnis für den Frust der Pächter. Es gebe jedoch keine Grundlage dafür, dass die Mikron die Kosten der Entsorgung tragen sollte. Sie könne dies auch deshalb nicht übernehmen, weil die Möglichkeit bestehe, dass das zu entsorgende Material asbestverseucht sei. Natürlich sei die Situation für die betroffenen Personen emotional schwierig. «Das tut mir sehr leid», sagt Perez-Freije. Die Mikron habe verschiedene Optionen geprüft, wobei ihr der Entscheid für die Räumung des Areals schwergefallen sei.

Die ASM plant die Bahnlinie zu erneuern, die dem Areal entlang führt. Die Mikron stellt ihr das Land laut Perez-Freije während der Vorbereitungs- und der Bauphase zur Verfügung. Die ASM sei auch Besitzerin eines Landstreifens entlang der Bahnlinie, der heute ebenfalls von den Pächtern genutzt werde. Dies ist aber bloss eine kurzfristige Nutzung. «Wir sind zudem an der Erarbeitung von Entwicklungsideen für das Areal, dazu gehört auch das Vorprojekt ‹Micron City›», so Perez-Freije. Bei der «Micron City» handelt es sich um ein Quartier mit Raum für Wohnen, Gewerbe, Industrie und Logistik. Inwiefern das überhaupt möglich sein wird, ist allerdings unklar: Perez-Freije sagt, falls der Porttunnel realisiert werde, könne es sein, dass Mikron dort enteignet werde.

 

Letzte Feigen pflücken

Aber noch sind nicht alle Gärten verlassen. Eine alte Frau kommt mit kleinen Schritten über den Weg und blinzelt ins Gegenlicht. Sie heisst Charlotte Lori und hat ihren Garten über 50 Jahre lang gehegt. Was sie konnte, hat sie selbst geräumt, den Rest hat sie räumen lassen. Das sei hart gewesen, ein paar Tränen seien schon geflossen. Lori geht über ihre Parzelle zum Feigenbaum und streckt sich nach den reifen Früchten. Vor diesem Baum, sagt sie, wuchs früher eine riesige Rose, die wunderbar duftete. Sie zog auch Himbeeren, Brombeeren, Zucchetti, Bohnen und Kürbisse. Die Pächterinnen und Pächter seien ein bisschen wie eine Familie gewesen, sagt sie. Man habe zwar nicht alle gekannt, aber mit einigen habe man hin und wieder etwas getrunken. Und nun, sucht sie sich anderswo einen Familiengarten? Lori lacht nur: «In meinem Alter?» Sie geht über den schlammigen Weg zurück, vorbei an eingerissenen Gartenzäunen, erdverkrusteten Gartenplatten und umgekippten Plastikstühlen. Beim Ausgang bleibt sie stehen und reibt sich im Rasen die Erdklumpen von den Schuhen.

 

Nachrichten zu Biel »