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Titelgeschichte

Gewalttat rüttelt 
Bieler Regierung auf

Seit Jahren regiert in Biel eine homosexuelle Mehrheit. Thema war das praktisch nie. Bis es in der Altstadt zu einem Vorfall kam. Jetzt erzählen Barbara Schwickert, Beat Feurer und Cédric Némitz ihre Geschichte.

Noch bis Ende Jahr bilden die homosexuellen Cedric Nmitz, Beat Feurer und Barbara Schwickert (von links) in der Bieler Stadtregierung eine Minderheiten-Mehrheit. Bild: Peter Samuel Jaggi

Lino Schaeren

«Die sexuelle Orientierung ist persönlich und sollte es auch bleiben.» Das sagte Cédric Némitz (PSR) im September 2012. Mit ihm, der wiedergewählten Barbara Schwickert (Grüne) und Beat Feurer (SVP) waren soeben drei Homosexuelle in den fünfköpfigen Bieler Gemeinderat gewählt worden. Obschon die sexuelle Orientierung der drei im Wahlkampf noch kein Thema war, war Némitz’ Wunsch vergebens. Nach dem Urnengang sorgte die neue Minderheiten-Mehrheit in der Stadtregierung landesweit für Schlagzeilen. «Biel wird von Schwulen regiert» berichtete etwa die Boulevardzeitung «Blick» – auf rosa Hintergrund. Die Wahl von drei homosexuellen Gemeinderäten sorgte aber nicht nur kurzweilig in den Zeitungsspalten für Aufregung. Sie weckte auch Hoffnungen.

So glaubte die Schwulenorganisation «Pink Cross», dass sich der nun homosexuell dominierte Bieler Gemeinderat künftig stärker für die Anliegen von Schwulen und Lesben einsetzen werde. Dass homosexuelle Vorbilder in solch prominenter Position junge Menschen motivieren würden, sich zu outen. Es kam nach der Wahl auch tatsächlich zu einem Treffen mit Vertretern diverser Dachorganisationen. Viel resultierte daraus aber nicht. «Wir sind so verblieben, dass wir zur Verfügung stehen, wenn es uns einmal braucht», erinnert sich Schwickert. Keine aktive Rolle für die Community also, sondern eine abwartende. Ein, zwei Referate wurden gehalten, mehr nicht. Schnell waren die Schlagzeilen über die erste offen homosexuelle Regierungsmehrheit denn auch wieder vergessen. Was den Beteiligten eigentlich auch ganz recht war. Bis jetzt.

Vergangene Woche nämlich traten Barbara Schwickert, Beat Feurer und Cédric Némitz völlig überraschend gemeinsam vor die Medien, um städtische Massnahmen «gegen Homo- und Transfeindlichkeit im öffentlichen Raum» anzukünden. Eine übergeordnete Präventionskampagne, die normalerweise in die Zuständigkeit des Stadtpräsidenten fallen würde. Doch Sozial- und Sicherheitsvorsteher Feurer, Bildungsdirektor Némitz und Bauchefin Schwickert wollten acht Jahre nach besagter Wahlnacht ihre sexuelle Orientierung doch noch selbst öffentlich thematisieren.

«Das ist ein historischer Moment», sagte Beat Feurer vor den Medien einleitend, «weil es bisher in acht Jahren nie vorgekommen ist, dass wir als rosarote Regierungsmehrheit gemeinsam mit einem Thema an die Öffentlichkeit traten, das uns ganz persönlich betrifft.»

«Auftritt der letzten Chance»

Der erste offizielle Auftritt als rosarote Regierungsmehrheit dürfte zugleich auch der letzte gewesen sein. Während Beat Feurer am 27. September wieder zu den Gemeinderatswahlen antreten will, stellen sich Barbara Schwickert und Cédric Némitz nämlich nicht zur Wiederwahl. Es war also auch ein «Auftritt der letzten Chance» in dieser Konstellation, wie Feurer konstatierte. Auslöser für die Medienkonferenz war das aber nicht. Diese geht auf ein Brief eines Bieler Psychiaters zurück, der beim Gemeinderat grosse Betroffenheit auslöste. Der Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie Rodolfo Borner berichtete von einem Angriff auf einen jungen Transmenschen im Juni 2018 in der Bieler Altstadt. Von jungen Männern, die seinen Patienten auf dem Heimweg zu später Stunde derart brutal attackiert hätten, dass er bleibende körperliche und psychische Schäden davongetragen habe. Die Attacke, sagt der Psychiater gegenüber dem BT, sei homo- und transphob motiviert gewesen; daran liessen die Äusserungen der Angreifer während des Überfalls keine Zweifel.

Die Tat wurde angezeigt, die angeblich jugendlichen Täter nie gefasst. In der Bieler LBGT+-Bewegung machte das im Sommer 2018 Vorgefallene schnell die Runde. Anders als bei ähnlichen Attacken in Zürich im selben Jahr, wurde der Angriff auf einen Transmenschen in Biel aber bisher nie publik. Auch der Bieler Gemeinderat hat erst durch den Brief von Rodolfo Borner davon erfahren. Der Psychiater arbeitet häufig mit jungen Menschen aus der LGBT+-Bewegung. LGBT+ steht für Lesben, Schwule, Bi- und Transsexuelle sowie für Menschen mit sexuellen Orientierungen oder geschlechtlichen Identitäten, die sich mit diesen Bezeichnungen nicht genügend identifizieren können. Auch der Begriff «Queer» wird oft verwendet, um all jene Personen zu beschreiben, die nicht heterosexuell sind.

Dass diese wegen ihrer Geschlechtsidentität auf der Strasse angepöbelt, beschimpft oder sogar angerempelt werden, komme auch bei seinen Patientinnen und Patienten vor, sagt Borner. Mit einem so heftigen körperlichen Angriff wie jenem im Juni 2018 sah sich der Bieler Therapeut aber nie zuvor konfrontiert. «Das war wie ein Donnerschlag», sagt er. Als der Patient während der Verarbeitung des Vorfalls laufend von neuen verbalen Attacken berichtet, schrieb Rodolfo Borner an die Stadtregierung. «Ich wollte aufzeigen, dass solche Dinge nicht nur in Zürich, Basel oder Genf passieren, sondern auch in Biel.»

Genauer hinschauen

Nun hätte der Gemeinderat den Eingang des Briefs mit einer unverbindlichen Antwort verdanken können. Wie es relativ oft geschieht. Vom Bericht des Bieler Psychiaters wurde die «rosarote Regierung» aber auf dem falschen Fuss erwischt. Schwickert, Némitz und Feurer wurden wegen ihrer sexuellen Orientierung in der Öffentlichkeit nie attackiert. Weder körperlich noch verbal. Und das, obschon sie sich als Exekutivmitglieder exponieren. «Wir erleben Biel als tolerant, auch gegenüber anderen Geschlechtsidentitäten», so Barbara Schwickert. Und SVP-Mann Beat Feurer sagt: «Auf der Strasse werde ich angefeindet. Insbesondere wegen meiner Parteizugehörigkeit. Nicht aber, weil ich homosexuell bin.» Dass es in «ihrer» Stadt auch anders geht und sie davon nichts mitbekommen haben, hat die Bieler Regierungsmitglieder offenkundig erschüttert. Feurer, Némitz und Schwickert fragten sich aufgrund der Berichte des Psychiaters und der Diskrepanz zu den eigenen Erfahrungen gegenseitig: «Kann das denn überhaupt sein?» Und entschieden, genauer hinzuschauen.

Das Problem: Zu Hassattacken auf Homosexuelle oder Transmenschen gibt es bei den Strafverfolgungsbehörden keine Zahlen. Nicht für Biel, nicht für den Kanton, nicht für die Schweiz. Weil sie nicht erhoben werden. Diesen März scheiterte im Ständerat ein Vorstoss, der die landesweite polizeiliche Erfassung von Hassverbrechen forderte. Zwar gibt es auf kantonaler und städtischer Ebene die Absicht, künftig Statistik zu führen. So hat etwa auch der Grosse Rat des Kantons Bern entschieden, dass künftig Zahlen zu homophoben Hassattacken erhoben werden sollen. Auch die Stadt Zürich hat bereits einen gleichlautenden Entscheid gefällt. Da es aber noch einige Zeit dauern wird, bis vergleichbare Zahlen vorliegen, mussten die Bieler Gemeinderäte ihre Antworten direkt bei Betroffenen suchen. So kam es kürzlich und acht Jahre nach dem ersten Austausch zu einem zweiten Treffen mit den Dachorganisationen. Mit dabei waren diesmal auch die beiden jungen Bieler LGBT+-Organisationen «Crazy Hearts» und «Queer Bienne».

Die Vertreterinnen und Vertreter der Organisationen zeigten den Exekutivmitgliedern auf: Anfeindungen, Beleidigungen, Beschimpfungen oder gar Angriffe sind auch 2020 noch Bestandteil des Lebens von queeren Menschen. Und die Vorfälle sollen sogar zunehmen, so zumindest die Empfindung vieler Betroffener. Obgleich diese Entwicklung aufgrund der fehlenden offiziellen Zahlen mehr Bauchgefühl als Fakt ist. Immerhin stützen die neusten Erhebungen homophober Hassdelikte, die der Schweizer Dachverband für schwule und bi Männer «Pink Cross» diese Woche publiziert hat, diese Annahme. Sie basiert auf Meldungen, die bei der LGBT+-Helpline eingegangen sind. Und zeigt ein Drittel mehr Fälle im Jahr 2019 als im Vorjahr. Rund 30 Prozent der Meldenden berichtete von physischer Gewalt.

Parallelen zu MeToo?

Muriel Waeger glaubt, dass die Gründe für die Gewaltzunahme vielfältig sind. Sie ist Co-Geschäftsführerin bei der Lesbenorganisation Schweiz (LOS) sowie Geschäftsleiterin für «Pink Cross» in der Romandie; und hat für beide Organisationen am Runden Tisch in Biel teilgenommen. Waeger sagt: Die Gewaltzunahme sei auch darauf zurückzuführen, dass die LGBT+-Bewegung und deren Themen in den letzten Jahren an Sichtbarkeit gewonnen haben. «Das löst bei gewissen Personen Gegenreaktionen aus.» Sie unterstreicht dies mit Vorkommnissen, die noch nicht lange zurückliegen: Nachdem das Referendum für die Ausweitung der Anti-Rasissmusstrafnorm auf die sexuelle Orientierung zustande gekommen sei und in den Medien gross darüber berichtet wurde, hätten die Hassdelikte gegen LGBT+-Menschen im vergangenen Sommer stark zugenommen. Die erhöhte Präsenz in den Medien könnte zu mehr Gewalt geführt haben, so also die Theorie.

Muriel Waeger glaubt handkehrum aber auch, dass vermehrte Meldungen von Übergriffen in den Medien weitere Betroffene dazu motiviere, sich auch zu melden. Sie verweist auf die MeToo-Bewegung; der Aufruf von US-Schauspielerin Alyssa Milano an andere Frauen, unter dem Hashtag in sozialen Medien ihre Erfahrungen mit sexuellen Übergriffen, Missbrauch und Diskriminierung zu teilen, entwickelte sich schnell zu einer umfangreichen Auseinandersetzung über den Stand der Gleichberechtigung von Mann und Frau. Kontraproduktiv, sagt Waeger, sei die neue Sichtbarkeit der LGBT+-Bewegung auf keinen Fall.

Das betont auch Gino Rösselet von der Bieler Jugendgruppe «Crazy Hearts». Dass nicht nur die LGBT+-Bewegung, sondern auch die homophoben Attacken auf sie im Bewusstsein der Bevölkerung ankommen, provoziere politische Reaktionen. So glaubt Rösselet etwa nicht, dass die polizeiliche Erfassung von Hassverbrechen ohne die neue Sichtbarkeit überhaupt zum Thema geworden wäre. Und die Schweizer Stimmbevölkerung hat im Februar die Ausweitung der Anti-Rassismusstrafnorm schliesslich deutlich angenommen. Gino Rösselet sagt: Die Anfeindung von queeren Menschen und die Folgen davon müssten so sichtbar sein wie möglich, damit sich in den Köpfen der Menschen etwas bewege. Auch in Biel. Denn die Situation in der Schweizer Uhrenstadt sei für queere Menschen nicht eine bessere als in Zürich, nur, weil hier die Szene kleiner ist. «Auch in Biel», so Rösselet, «gibt es Jugendliche, die wegen ihrer Geschlechtsidentität Gewalt erfahren.» Solche Vorfälle führten in der Bewegung zu Verunsicherung bis hin zu Angst; Angst, sich in der Öffentlichkeit so zu zeigen, wie man wirklich ist.

Kein Händchenhalten

Die Schilderungen aus der LGBT+-Bewegung haben beim Bieler Gemeinderat eingeschlagen. Dass queere Menschen auch in Biels Strassen immer noch regelmässig Hass ausgesetzt sind, sei «ein Schock» gewesen, sagt Cédric Némitz. «Ich dachte, das sei vorbei. Doch so einfach ist es nicht.» Mit dieser Einsicht begann Némitz, sein eigenes Verhalten in der Öffentlichkeit zu hinterfragen. Eigentlich, sagt er, fühle er sich ja völlig wohl. Aber als er eingehender über die Vorfälle nachgedacht habe, die ihm da geschildert worden sind, sei ihm klar geworden, «dass auch mein Partner und ich unsere Zuneigung füreinander öffentlich nicht zeigen». Kein Händchenhalten. Kein Küssen. Keine Zärtlichkeiten. «Auch wir haben verinnerlicht, dass wir andernfalls nicht akzeptiert würden – und haben unser Verhalten bereits vor Jahrzehnten angepasst», sagt der Bieler Bildungsdirektor.

Dass er und sein Partner nach rund 20 Jahren Beziehung schlagartig ihr Verhalten ändern, glaubt Némitz nicht. Wohl aber will er zusammen mit seinen Regierungskolleginnen und -kollegen jetzt auf politischem Weg gegen die Homo- und Transfeindlichkeit vorgehen. Die vom Gemeinderat initiierte Präventivkampagne beginnt in der Schule: Den Kindern und Jugendlichen soll mit dem Projekt «deine Freundin/dein Freund» aufgezeigt werden, dass jeder und jede betroffen sein könnte, sich aber nicht getraut, sich zu outen. Schliesslich sind rund zehn Prozent der Bevölkerung nicht heterosexuell. Das heisst aber auch, dass zuerst die Lehrer sensibilisiert werden müssen. Der Gemeinderat will zudem das städtische Personal ebenso schulen wie die Strafverfolgerinnen und Strafverfolger – in Zusammenarbeit mit der Polizei. Für das eigene Personal stellt er ein Manual zur Verfügung, das aufzeigt, wie Transmenschen begegnet werden soll. Und: Die Stadt erweitert die bereits bestehende Hotline gegen Gewalt und Extremismus auf LGBT+-Anliegen.

Massnahmen, die auf den Empfehlungen der verschiedenen Organisationen fussen, mit denen sich die Bieler Regierungsmitglieder getroffen haben. Es ist denn auch kein Zufall, dass sich der Bieler Ansatz praktisch mit den Massnahmen deckt, die «Pink Cross» in einem diese Woche präsentierten «Nationalen Aktionsplan» fordert. Muriel Waeger ist entsprechend zufrieden mit dem Gemeinderat. Zwar gibt es bereits einige Schweizer Städte, die auf eigene Initiative etwas gegen Homo- und Transfeindlichkeit tun. «Dass ein Massnahmenkatalog so umfassend ist wie in Biel, ist aber sehr selten», sagt sie. Und trotzdem: Das grösste Problem, sagt Waeger, sei nach wie vor, dass in der Schweiz nichts koordiniert passiere. Jede Stadt und jeder Kanton macht, wie ihm beliebt. Weshalb es eben auch einen nationalen Plan brauche.

Fehlende Räume

Auch Gino Rösselet ist zufrieden mit dem, was in Biel aus dem Diskurs resultierte. Er hadert allerdings damit, dass Massnahmen zum Schutz der LGBT+-Bewegung nicht schon früher ergriffen worden sind. Dass die homosexuelle Mehrheit der Bieler Stadtregierung die sexuelle Orientierung so lange zur Privatsache erklärt hat, kann der 23-Jährige «aus aktivistischer Sicht» nicht nachvollziehen. Sexuelle Orientierung, sagt Rösselet, habe vor allem für die Minderheiten immer auch eine politische Komponente. Gerade von einer homosexuell dominierten Regierung in einer Stadt, die sich Diversität auf die Fahne schreibt, hätte der LGBT+-Aktivist mehr Initiative erwartet. «Diversität muss umfassend gedacht werden, verschiedenste Minderheiten haben oft die gleichen Anliegen und Ziele», meint Gino Rösselet. Dabei sieht er durchaus Parallelen, etwa bei den fehlenden Räumen oder aber bei der Diskriminierung, die verschiedene Minderheiten, nicht nur queere Menschen, erfahren würden.

Dass sie mehr von «ihren» Gemeinderäten erwartet hätten, haben die Bieler Organisationen diesen am runden Tisch klargemacht. «Sie haben uns gesagt, dass wir diese spezielle Mehrheit besser hätten nutzen sollen, um Botschaften zu platzieren», so Cédric Némitz. Rückblickend gesteht er sich ein: «Ja, vielleicht haben wir etwas verpasst.» Gleichzeitig hält er fest, dass der Ruf nach einer politischen Reaktion in den letzten Jahren eben nie an ihn herangetragen worden sei. «Es gab schlicht keine Debatte über Probleme, die ergeben hätte, dass wir etwas machen könnten.» Das hat sich nun geändert.

Mit ihrem gemeinsamen Auftritt vergangene Woche haben Beat Feurer, Barbara Schwickert und Cédric Némitz vor allem ein Zeichen gesetzt. «Wir wollten hinstehen und damit zeigen: Schaut her, es gibt überall in der Gesellschaft queere Menschen, die ihre sexuelle Orientierung offen leben und nicht kaschieren, auch in einer Stadtregierung», sagt Schwickert. Und so wandte sich Feurer zum Schluss der Medienkonferenz doch noch mit jener symbolischen Botschaft an die Öffentlichkeit, die sich LGBT+-Organisationen schon vor acht Jahren gewünscht hätten: «Wir möchten nicht nur Massnahmen vorstellen», sagte der 60-Jährige. «Wir möchten auch hinstehen und sagen: Es ist ok, so zu sein, wie wir sind. Und es soll ok sein für alle, zu einer Minderheit zu gehören.»

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