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Gewerbe & Gastronomie

Gutes Gefühl in der eigenen Praxis

Zahlreiche Gewerbebetreibende fürchten in Coronazeiten den Konkurs. Wer jetzt ein Geschäft neu gründet, fällt auf. Bettina Berger, Thomas Mischler und Larissa Zesiger haben es getan. Warum haben sie ihre Physio-Praxis gerade jetzt eröffnet?

Larissa Zesiger, Thomas Mischler und Bettina Berger (von links): "Für uns ist der Zeitpunkt ideal, um gemeinsam etwas neues aufzubauen. Bild: zvg

Interview: Raphael Amstutz

Bettina Berger, Larissa Zesiger und Thomas Mischler, Sie haben vor Kurzem ihre Stellen gekündigt und eine neue Physio-Praxis in Biel eröffnet. Ein Schritt, der in diesen Zeiten auffällt. Aus welchen Gründen haben Sie sich für die Selbstständigkeit entschieden?
Bettina Berger (BB): Der Wunsch war bei uns allen da, nach gesamthaft 31 Jahren angestellt in der Klinik Linde selbst etwas aufzubauen. Die Zeit in der Linde war für uns alle sehr lehrreich und wertvoll, doch wir wünschten uns mehr Mitbestimmung und mehr Verantwortung, was in einem Grosskonzern nicht möglich war.

Was hat sonst noch für den Gang in die Selbstständigkeit gesprochen?
Larissa Zesiger(LZ): Wir sind alle sehr gut und breit ausgebildet und haben wie erwähnt viel Berufserfahrung. Unter anderem mehrere Jahre als stellvertretende Chef-Physiotherapeutin und Leitung Fachbereich Sport. Zudem haben wir Studentinnen und Studenten der Berner Fachhochschule, den EHC Biel und den HS Biel betreut.
BB: Wir sind aus der Region und kennen viele potenzielle Patientinnen und Patienten. Es herrscht schweizweit ein Mangel an Physiotherapeuten, auch hier in Biel ist es schwierig, innerhalb einer nützlichen Frist einen Termin zu bekommen. Für uns ist der Zeitpunkt also ideal, um gemeinsam etwas Neues aufzubauen. Auf die Dauer möchten wir unseren Kundinnen und Kunden längere Behandlungszeiten anbieten können, vielleicht auch mit zusätzlichen Eigenleistungen der Patienten.

Welche Eigenleistungen könnten das sein?
Thomas Mischler (TM): Aktuell wird die Physiotherapie nur auf ärztliche Verordnung durch die Grundversicherung vergütet. Mit dem geltenden Tarif ist für uns eine Therapiesitzung von maximal 30 Minuten möglich. In dieser Zeit müssen wir auch alles Schriftliche und Organisatorische regeln, denn Physiotherapeutinnen und Physiotherapeuten können keine Vor- und Nachbereitungszeiten verrechnen.
BB:In gewissen Situationen ist es durchaus sinnvoll, die Behandlungszeit zu verlängern, was beispielsweise durch eine Selbstzahler-Leistung des Patienten möglich ist. Nebst dem ist aber auch die Eigenleistung der Patientin in Form von selbstständigem Training und Anpassungen im Alltag sehr wichtig, nur so stellt sich ein langfristiger Erfolg ein.
Was waren die grössten Herausforderungen auf dem Weg in die Selbstständigkeit?
TM:Bei der Firmengründung war uns bewusst, dass uns die Pandemie noch länger begleiten wird. Wir haben deshalb die Räumlichkeiten entsprechend ausgesucht und auch bei der Einrichtung auf die Vorgaben des Bundes geachtet. Aber natürlich ist die Angst, dass es, wie in der ersten Welle, auch für die Physiotherapie zusätzliche Einschränkungen gibt, zum Beispiel nur noch Behandlungen von Notfällen möglich sind, omnipräsent.

Wie schwierig war es, ein Lokal zu finden?
LZ:Es war nicht einfach, etwas zu finden, das unseren Platzvorstellungen entsprach, sich an einem geografisch günstigen Ort befindet und auch zahlbar ist. Wir wollten genügend Raum, damit wir, wie erwähnt, die Covid-19-Vorschriften gut einhalten können. Die Behandlungskabinen sind einzeln abgeschlossen, wir haben viele Fenster zum Lüften und die Abstände können im Wartezimmer und im Fitnessbereich eingehalten werden.

Wie hat es auf der technischen Seite geklappt?
BB:Die ganze Organisation von der Firmengründung bis zur Abrechnungsvorlage im Computersystem war ebenfalls eine Herausforderung. Wir wollten möglichst vieles digital lösen, die Suche nach geeigneten Programmen war aufwändig. Unseren Zeitplan trotz der Coronakrise einhalten zu können, war anspruchsvoll. Wir mussten, wie alle anderen, ein Schutzkonzept erstellen und haben dadurch sowohl Mehraufwand als auch zusätzliche Kosten.

Und die Eröffnung musste sicher auch gestrichen werden ...
LZ: Genau. Auf eine Praxiseröffnung vor Ort und mit Gästen mussten wir verzichten. So haben wir unsere Website mit Bildern und Videos ausgestattet.

Bereits ist ein erster Blick zurück möglich. Wie ist der Anfang verlaufen?
BB:Nach Plan. Es ist ein gutes Gefühl, in die eigene Praxis zu kommen und dort arbeiten zu dürfen. Wir haben auch von sehr vielen Freunden und Bekannten positive und ermutigende Rückmeldungen bekommen. Und es ist auch schön, dass sich unser Terminkalender nach und nach mit Patienten füllt. Unser Onlinebuchungssystem funktioniert. Auch das Bekanntmachen auf den Online-Plattformen hat uns neue Patientinnen und Patienten gebracht.
LZ:Es stimmt uns optimistisch, dass die Neuanmeldungen über verschiedene Kanäle hereinkommen. Die freie Zeit nutzten wir für administrative und organisatorische Aufgaben.

Wie ist der Austausch mit anderen Praxen in Biel?
TM:Wir kennen viele Praxisinhaberinnen und -inhaber und deren Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter hier in der Stadt aufgrund unserer langjährigen Tätigkeit in der Region. Wir haben mit ihnen auf freundschaftlicher Ebene oder via Berufsverband Kontakt. Einen organisierten Austausch gibt es aber nicht, wir sind aber natürlich offen dafür.

Welches sind aktuell die grössten Bedürfnisse der Klientinnen und Klienten?
LZ: In Bezug auf die Physiotherapie bleiben die Fragestellungen die gleichen, unabhängig von Corona. Die zentralen Bedürfnisse haben sich nicht geändert. Die Menschen wollen nach einer Operation wieder zurück in die Arbeitswelt, sie wünschen sich Schmerzfreiheit im Alltag oder beim Ausführen ihrer Hobbys und beim Sport. Ein Unterschied ist, dass Klientinnen und Klienten, die daran sind, Kraft aufzubauen, mehr Übungsvarianten für zu Hause brauchen, da im Moment alle Fitnessstudios geschlossen sind.

Sehen Sie alle Patientinnen und 
Patienten weiterhin persönlich?
BB: Ja. Die Behandlung erfolgt wie immer Face-to-Face, telemedizinische Behandlungen können nicht kostendeckend abgerechnet werden und decken die meisten Methoden auch gar nicht ab. Die Klientinnen und Klienten achten vermehrt auf die Einhaltung der Hygienemassnahmen.

Welche Tipps haben Sie für Menschen, die sich auch den Gang in 
die Selbstständigkeit überlegen?
TM:In der heutigen Zeit, in der fast alles digital läuft, sollte die Coronakrise als Gelegenheit wahrgenommen werden, um sich anzupassen und so viel wie möglich elektronisch zu machen. Das erleichtert einiges und eröffnet neue Möglichkeiten.
LZ:Weiter empfehlen wir, verschiedene Kanäle zu nutzen, also die Sozialen Medien ebenso wie den direkten Kontakt zu potenziellen Partnerinnen und Partnern.
BB:Wichtig ist auch, ganz klar festzulegen, welche Ziele man hat und welche Punkte einem dabei wichtig sind. Wir denken dabei zum Beispiel an die Wahl der Räumlichkeiten oder das Festlegen von Arbeitsbedingungen.

Welche weiteren Punkte erachten Sie als wichtig?
BB: Gut überlegt sein will die Rechtsform des Unternehmens. Wir haben uns für eine GmbH entschieden. Von Anfang an ist es wichtig, mit Fachpersonen aus anderen Gebieten zusammenzuarbeiten, sich also eine Anwältin, einen Treuhänder, einen IT-Spezialisten und einen Webdesigner zu suchen und alles vertraglich zu regeln. Dies kostet vielleicht am Anfang mehr, aber so wird alles bereits zu Beginn richtig aufgegleist.
LZ:Und zuletzt natürlich dies: Unterstützung in jeder Form von Familienangehörigen und Freunden annehmen und sich nicht entmutigen lassen vom administrativen Aufwand, den es am Anfang zu bewältigen gibt.

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