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Helferin aus Biel gehört zu den Helden von Lesbos

Biel Arlette Zwahlen erzählt, wie aufgeregt sie war, bevor sie auf Lesbos das erste Boot sah.

  • 1/12 Die 24-jährige Bielerin Arlette Zwahlen kümmerte sich in Griechenland um Flüchtlinge, die aus Camps in der Türkei kamen. copyright: sarah bittel/bieler tagblatt
  • 2/12 Kathrin Schlup auf dem Zentralplatz in Biel: «Für eine erfolgreiche Integration braucht es Begegnungen.» copyright: sarah bittel/bieler tagblatt
  • 3/12 Auf der Insel Lesbos werden die Flüchtlinge mit dem nötigsten versorgt. Bild zvg
  • 4/12 Auf der Insel Lesbos werden die Flüchtlinge mit dem nötigsten versorgt. Bild zvg
  • 5/12 Auf der Insel Lesbos werden die Flüchtlinge mit dem nötigsten versorgt. Bild zvg
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  • 12/12 Auf der Insel Lesbos werden die Flüchtlinge mit dem nötigsten versorgt. Bild zvg
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von Arlette Zwahlen

Ich habe aufgrund meines Studiums (Islam- und Politikwissenschaften) sechs Monate in Kairo verbracht, um meine Arabischkenntnisse zu verbessern. Dort lernte ich eine Holländerin kennen, die mich auf einen spannenden Zeitungsartikel einer holländischen Zeitung aufmerksam machte.

Darin ging es um die Situation auf der griechischen Insel Lesbos. Der Beitrag machte deutlich, wie dringend freiwillige Helfer benötigt werden. Die Botschaft des Artikels hätte klarer und einfacher nicht sein können: «Hast du Zeit und die Möglichkeiten nach Lesbos zu kommen, dann pack deine Sachen und komm! Jede Hilfe ist erwünscht.»

Dies war genau das, was mich überzeugte. Es waren keine aufwendigen und langen Anmeldeverfahren und Vorkenntnisse nötig, sondern der Wille allein reichte. Da meine Mutter aus den Niederlanden stammt und ich Holländisch rede, war es für mich kein Problem, mich bei der Stiftung Bootflüchtlinge zu melden. Ich verstand alle Informationen und trat via Facebook mit ihnen in Kontakt.

 

Die meisten bleiben eine Woche

Da ich noch immer am Studieren bin, hatte ich nur die Möglichkeit, zehn Tage zu gehen. Das schien aber kein Problem zu sein. Die Mehrheit der freiwilligen Helfer bleibt für eine Woche auf der Insel.

So startete ich am 2. Oktober meine Reise und flog über Athen bis nach Mytilini. Am gleichen Abend traf ich in unserem Studio ein paar andere Freiwillige, die mir den Tagesablauf erklären: Jeweils um 7 Uhr legten wir los, täglich hatten wir um 9 Uhr Teamsitzung.

Am nächsten Tag trafen wir uns dann alle bei der «Oase» – ein Ort, der von der Stiftung so genannt wurde. Die «Oase» war eine Art Zeltkonstruktion aus Plastikblachen, die unter einem riesigen Baum stand, um von der Witterung geschützt zu sein: Dort stellten wir Toastbrot, Früchte, Wasser und trockene Kleidung für die durchnässten Flüchtlinge bereit. Direkt daneben befand sich das Ärztezelt mit der nötigen medizinischen Einrichtung.

Im Prinzip gab es drei Aufgabegebiete. Erstens: Man half bei der «Oase» und versorgte die angekommenen Flüchtlinge mit dem Nötigsten. Zweitens: Man fuhr mit dem Auto auf der sogenannten Drit Road, auf der man mit dem Feldstecher Ausschau nach Booten hielt. Oder drittens: Man war als Fahrer eingeteilt und transportierte Kinder, Frauen, ältere oder verletzte Menschen. Sie wurden dann zur «Oase» gebracht, wo sie sich kurz erholen und ihre Kleider trocknen konnten, bis es dann weiter ging zu einem Zwischencamp in Oxi. Dort verbrachten sie ebenfalls einige Stunden oder die Nacht, bis sie zu den grossen Camps in der Nähe des Hafens gebracht wurden.

 

Frauen und Kinder zuerst

Unser Hauptanliegen war es, uns um Kinder und Frauen zu kümmern – hauptsächlich aus Syrien und Afghanistan. Aber das noch viel wichtigere Ziel war, auf keinen Fall eine Familie zu trennen. Das hiess, wenn wir nicht alle in ein Auto bringen konnten, war es uns sehr wichtig, sie, die Familie, beim nächsten Halt wieder zusammenführen zu können.

Ich wusste nach einer kurzen Erklärung der Abläufe irgendwie automatisch, was ich zu tun hatte. Bevor ich das erste Boot sah, war ich extrem aufgeregt. Denn ich konnte einfach nicht einschätzen, was in mir passiert, wenn ich helfe, ein Boot aus dem Wasser zu holen.

Dann war es so weit: Erleichterung und Hektik auf der Seite der Menschen im Boot kam auf – Erstaunen und Ruhe auf der Seite der Helfer am Strand. Die Menschen vertrauten einem ihre Kinder ohne Weiteres an. Plötzlich stand ich im Wasser mit einem kleinen Kind auf dem Arm. Wir halfen allen aus dem Boot.

Die nächsten fünf bis zehn Minuten waren eigentlich die emotionalsten. Alle waren so extrem froh und dankbar, die Strecke über das Meer hinter sich zu haben. Viele weinten, beteten, umarmten und gratulierten sich gegenseitig. Einige jubelten: «Wir haben es geschafft! Wir sind nun in Europa!» Sie bedankten sich, so oft sie konnten bei uns. Später erinnerten sie sich genau, wer ihnen ihr Kind abnahm oder wer ihnen den Arm gab, um aus dem Boot zu kommen.

Dann mussten wir uns einen Überblick über die Lage verschaffen. Gibt es jemanden, der einen Arzt braucht? Wer ist durchnässt und braucht dringend trockene Kleider? Ist es einer Person schwindlig?

 

40 bis 50 Menschen auf einem Boot

Die Situation war jedes Mal völlig unterschiedlich. Im Schnitt sind auf einem Boot zwischen 40 und 50 Menschen. Die Zusammensetzung war jedesMal eine ganz andere. Es gab Menschen, die sofort auf einen zukamen und fragten, ob wir dies oder jenes haben.

Andere trauten sich überhaupt nicht, uns irgendwas zu fragen. Wir mussten sie beinahe überreden, unsere Hilfe anzunehmen. Die dankbaren Gesichter zu sehen, war ein unglaublich schönes Gefühl. Jedes Mal, wenn ich Selbstzweifel hatte, ob es überhaupt gut ist, was wir hier machen, bekam ich die Antwort in ihrer Dankbarkeit zu sehen. So viele Umarmungen und Glückwünsche zu erhalten für unsere kleine Hilfe, die wir leisteten, war einfach unglaublich berührend.

 

Schön waren die ruhigen Tage

Sehr schöne Momente gab es an Tagen, an denen es ruhiger war und nur wenig Boote ankamen. Dann hatte ich auch wirklich genügend Zeit, um mit den Menschen in Kontakt zu kommen. Sie erzählten mir, wie und mit wem sie unterwegs waren. Was sie erlebt hatten. Wohin sie gerne gehen möchten und wie katastrophal die Lage zu Hause ist.

Viele schickten Nachrichten nach Hause, um zu sagen, dass sie es geschafft haben. Für mich war es wichtig, die Menschen als Individuen wahrzunehmen und nicht nur die Menschenmenge zu sehen. Denn jeder Einzelne hat seine Geschichte.

Wir spielten mit den Kindern einfache Spiele. Zum Beispiel malten wir mit ihnen mit Kreide auf den Boden. So konnten wir ihnen wenigstens ein paar Stunden erleichtern.

Gleichzeitig war es in diesen Momenten auch schlimm, zu sehen, dass die meisten nicht wussten, was jetzt auf sie zukommt. Sie hatten nicht mal eine Idee, wie sie eigentlich von der Insel aufs Festland kommen sollen.

In diesem Rhythmus liefen die ersten drei Tage ab. Danach kamen die Flüchtlinge auch nachts an, was unsere Arbeit natürlich extrem erschwerte. Wir konnten sie weder sehen noch hören und dasselbe galt für sie.

Wir mussten während 24 Stunden parat sein, um sie zu empfangen. In der Nacht war es schon zur Zeit, als ich dort war, extrem kalt. Kaum vorzustellen, wie es jetzt ist. Auch waren die Flüchtlinge in der Nacht sehr viel ängstlicher. Man muss sich vorstellen, dass die meisten von ihnen noch nie zuvor ein Meer gesehen haben. Und dann sind sie mit 40 anderen Flüchtlingen auf einem Gummi-Boot mit einer lächerlich kleinen Schwimmweste ausgerüstet.

Es ist auch schwierig, alles in Worte zu fassen. Für uns ist es nur schwer vorstellbar, alles zu verlassen und nur mit einer kleinen Tasche loszugehen und ins Ungewisse zu starten – ohne irgend eine Idee zu haben, was kommen wird.

 

Info: Die Bielerin Arlette Zwahlen studiert an der Uni Bern Islam- und Politikwissenschaften. Anfang Oktober war sie auf Lesbos für Flüchtlinge im Einsatz.

 

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«Solidarität vorleben und nicht nur darüber reden»

 

von Peter Staub

Kathrin Schlup hat ein Herz für Flüchtlinge. Als Präsidentin des neuen Vereins Biennevenue will sie Asylbewerber und lokale Gruppen vernetzen. Zudem nimmt ihre Familie einen jungen Flüchtling auf.


Die Idee ist eigentlich simpel. Dennoch ist sonst noch niemand darauf gekommen, die Integrationskraft lokaler Vereine aktiv zu nutzen, um Flüchtlinge schneller und besser in die hiesige Gesellschaft zu integrieren. Der Nutzen soll beidseitig sein. Denn die Vereine haben teilweise Mühe, genügend Mitglieder zu finden, während gleichzeitig Flüchtlinge oder andere frisch eingewanderte Migranten oft freie Zeit haben und sich in die hiesige Gesellschaft integrieren möchten.

«Für eine erfolgreiche Integration braucht es Begegnungen, Vorbilder, Erfahrungen und beidseitige Offenheit», schreibt Kathrin Schlup, Präsidentin des neugegründeten Vereins Biennevenue. Die Wahlbielerin will erreichen, dass bis Ende Jahr mindestens fünf Vereine und 15 Migranten an einem entsprechenden Pilotprojekt teilnehmen. Nach dieser Pilotphase soll das Projekt kontinuierlich ausgebaut werden.

 

Vereine und informelle Gruppen

Auf Vereinsseite will Schlup ausser mit arrivierten Organisationen auch mit «vereinsähnlichen Gruppierungen» arbeiten. Schliesslich gebe es in Biel neben zahlreichen Vereinen auch viele informelle Clubs und Gruppen, die sich beispielsweise aus gemeinsamen Interesse an Sport, Kultur oder Handarbeit treffen, heisst im Konzept von Biennevenue. Wichtig ist für Schlup, dass sich das Projekt an Gruppierungen wie Schachclubs oder Sportvereine richtet, deren Fokus nicht die Integration ist, die aber bereit sind, Flüchtlinge und andere Migranten «zur Förderung der Integration» aufzunehmen.

Mit ihrer Idee ist Schlup bei der städtischen Fachstelle Integration auf offene Ohren gestossen. «Wir haben tatkräftige Unterstützung» erhalten, sagt Schlup. Und kaum ist die Idee aus Biel in einschlägigen Kreisen bekannt geworden, haben sich bereits Institutionen aus Bern und Freiburg gemeldet, die interessiert sind, etwas Ähnliches aufzuziehen. Auch am Bieler Café Citoyen vor zehn Tagen, das dem Thema Flüchtlinge gewidmet war, stiess das Konzept von Biennevenue auf eine positive Resonanz.

Um die bisher nur auf dem Papier existierende Idee in die Tat umzusetzen, hat Biennevenue drei Massnahmen definiert: die Anwerbung und Beratung der Vereine, die Kommunikation des Angebots über bestehende Beratungsangebote und die Beschaffung von Material. Für Schlup ist wichtig, dass die Flüchtlinge bei den ersten Besuchen eines Vereins begleitet werden. «Wir wollen nicht, dass es beidseitig bei unverbindlichen Absichtserklärungen bleibt,» sagt sie. Auch soll für Vereine eine weiterführende Beratung angeboten werden, wo dies nötig ist.

Bis auf Weiteres werden alle Aktivitäten von Biennevenue ehrenamtlich ausgeführt. Das Resultat sind teilweise schlaflose Nächte. Wie letzte Woche, als Kathrin Schlup eine ganze Nacht damit verbrachte, die Website biennevenue.ch zu gestalten und aufzuschalten. «Der Aufwand, den Verein aufzubauen ist gross», sagt Schlup. Für die 41-jährige Geografin mit Erfahrung in der Organisationsentwicklung kommt es gelegen, dass sie nun einen Monat Zeit hat, sich hauptsächlich dem Aufbau des neuen Vereins zu widmen, bis sie ihre neue Stelle beim WWF in Zürich antritt.

Bei der Stadt und beim Kanton hat Biennevenue für nächstes Jahr um finanzielle Unterstützung nachgefragt. Auch dort hat Schlup betont, dass der neue Verein kein bestehendes Integrationsangebot konkurrenzieren will, sondern dass es im Gegenteil darum gehe, durch Vernetzung bestehende Integrationsmöglichkeiten besser zu nutzen. Deshalb will Schlup bis Ende Jahr auch weitere mögliche Partner wie Asyl Biel und Region, Multimondo, Quartier- und Ausländervereine oder kirchliche Organisationen ansprechen.

 

Die Erfahrung aus Südafrika

Allerdings wird sich Kathrin Schlup und ihre Familie in der nächsten Zeit noch anderweitig intensiv mit dem Thema Flüchtlinge auseinandersetzen. Denn in ihrem Haus im Beaumont-Quartier wird in diesen Tagen ein junger Flüchtling, ein sogenannter UMA, einziehen. UMA steht für unbegleitete minderjährige Asylsuchende (das BT berichtete). Bis wenige Tage vor dem Einzug wusste die Familie Schlup nicht, ob sie einen jungen Mann oder eine junge Frau beherbergen werden. «Meine Tochter hoffte, dass es eine junge Frau sein wird, während sich meine Söhne darauf freuten, bald mit einem jungen Mann Fussball zu spielen», erzählt Schlup.

Die Bereitschaft, einen Flüchtling aufzunehmen, sei nicht darauf zurückzuführen, dass die Medien in diesem Sommer so viel über das Flüchtlingselend berichteten, sagt Schlup. Vielmehr gehe dies auf die Erfahrungen der Familie zurück, die sie während zweier Jahren in Südafrika machten, wo sie von 2012 bis im Frühling 2014 gelebt hatten, bevor sie nach Biel zurückkehrten. Obwohl die wirtschaftliche Situation in Südafrika mit 40 Prozent Arbeitslosen viel schwieriger sei als in derSchweiz, habe ihre Familie die Regenbogennation am Kap als Einwanderungsland erlebt.

Als sie wieder zu Hause waren, seien sie auf die Idee gekommen, selber aktiv zu werden. «Wir wollen Solidarität vorleben und nicht nur darüber reden», fasst Schlup die Motivation ihrer Familie zusammen, sich für Flüchtlinge zu engagieren. Zudem kämen sie und ihr Ehemann aus der Umweltbewegung und hätten den Glauben daran nicht verloren, dass die Gesellschaft mit mehr Eigeninitiative besser funktionieren könnte. Dies zu erreichen sei auch eine Aufgabe der Familie, sagt Schlup.

Von der ersten Meldung an die Schweizer Flüchtlingshilfe, dass sie einen Asylbewerber privat aufnehmen würden, bis zu dessen Einzug verging über ein Jahr. Der Kanton Bern konnte sich lange nicht dazu durchringen, die private Unterbringung von Flüchtlingen zuzulassen. Nachdem die Unterkunft kürzlich von Prima Familia als für einen UMA geeignet eingestuft wurde, stand dem Einzug des jugendlichen Flüchtlings aber nichts mehr im Weg. Kathrin Schlup ist gespannt, wie sich das Zusammenleben entwickelt: «Wir alle werden unsere neuen Rolle erst finden müssen.»

 

Link: www.biennevenue.ch
 

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