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Biel

Hier vergessen sie ihre Behinderung

Jeden Dienstag empfängt der Jugendtreff Villa Ritter Heranwachsende mit einer geistigen Behinderung. Sie finden 
ein Angebot zum Tanzen, Singen und Spielen – weit weg von den Beeinträchtigungen im Alltag.

Copyright: Yann Staffelbach / Bieler Tagblatt

Julie Gaudio/pl

Dienstagnachmittag in der Bieler Villa Ritter: Im Musikzimmer im ersten Stock herrscht Feststimmung. Die 17-jährige Ruth Matuza hält ein Mikrofon in der Hand und stimmt christliche Lieder aus dem Kongo an. Sie singt auf Lingala, der Sprache des afrikanischen Landes. Dabei setzt sie vergnügt zum Tanz an. Ruths Darbietung wirkt ansteckend. Die Freundinnen Rosalie und Léa gesellen sich zu ihr und lassen die Hüften schwingen. In diesem Augenblick wähnt man sich in tropischen Gefilden, fernab vom Wintergrau Biels.

Die drei jungen Frauen sind modisch gekleidet. Mit angesagten Sweatshirts und sportlichen Sneakers unterscheiden sie sich in nichts von ihren Altersgenossinnen. Trotzdem leben sie mit einem Unterschied: Sie leiden an einer geistigen Behinderung. Aber an diesem Nachmittag spielt das keine Rolle.

Seit vier Monaten empfängt der Jugendtreff an der Juravorstadt 36 jeden Dienstagnachmittag rund fünfzehn deutsch- und französischsprachige Heranwachsende der Heilpädagogischen Tagesschule Biel. Nach einer Versuchsphase im vergangenen Juni entschieden Lehrkräfte und Sozialpädagogen, das Projekt endgültig in den Plan aufzunehmen.

 

Gemeinsam oder nicht?

Zu Beginn erschienen die Jugendlichen noch in Begleitung; heute begeben sie sich selbstständig nach der Schule zum Treff, der bis 18 Uhr geöffnet ist. «Ihnen soll die Villa Ritter ebenso offen stehen wie allen anderen. Die Gruppe nutzt die Räumlichkeiten ohne besondere Betreuung durch unser Team», erklärt Sozialpädagoge Aurèle Gerber. Die jungen Menschen dürfen Fernsehen schauen, Musik hören, in die Mikrofone singen, Boxsport betreiben, Billard spielen, essen und andere Freizeitbeschäftigungen pflegen. Das Betreuungsteam steht bei Fragen zur Verfügung – und an denen mangelt es nicht.

Aus diesem Grund wurde für diese Jugendlichen eigens das Zeitfenster am Dienstag reserviert. Der freie Zugang zur Villa Ritter brächte Menschen mit geistiger Behinderung in Schwierigkeiten, glaubt Aurèle Gerber: «Gegen Ende der Woche halten sich Dutzende von Heranwachsenden im Haus auf. Dabei entwickelt sich eine intensive Lärmkulisse, die unsere schwächere Besuchergruppe überfordern würde.»

Caroline Busch, die Mutter von Rosalie, die an Trisomie 21 leidet, begrüsst die getrennte Betreuung ihrer Tochter. Sie weiss, dass sie mit ihrem Wunsch nicht im Trend liegt und bestätigt: «Andere Eltern wollen ihr behindertes Kind unbedingt in eine durchschnittliche Gruppe integrieren.» Busch, die als Logopädin arbeitet, beobachtet hingegen, dass junge Menschen mit Behinderung «langsamer» agieren als andere: «Sie empfinden die lebhaften Konversationen im Umfeld als hektisch und leiden darunter, dem Geschehen nicht folgen zu können», so die Mutter.

Elisa Nesca, Lehrerin an der Heilpädagogischen Schule Biel, ergänzt: «Die Jugendlichen haben ausserhalb unserer Institution kein gemeinsames Freizeitangebot.» Deshalb plädiert Nesca vorerst für eine separate Betreuung ihrer Schützlinge im Jugendtreff: «Als Erstes müsse der Zusammenhalt der Gruppe gefestigt werden. Nach dieser Phase könnten sich die heilpädagogisch begleiteten Lernenden mit anderen Besuchern der Villa Ritter austauschen», sagt die Fachlehrerin.

Caroline Busch bezeichnet Kinder mit Behinderung liebevoll als «die Langsamen». Sie empfänden die Mehrheit ihrer Kameradinnen als «die Schnellen». Biologisch betrachtet entspreche Rosalie einer 17-Jährigen, «aber bei der geistigen Entwicklung ist sie im Rückstand», so die Mutter. Der Mangel hindert die Heranwachsende aber nicht daran, Lebensträume zu schmieden: «Ich will Rap-Interpretin werden. Auch als Sopransängerin will ich auftreten und in Marseille ein Konzert geben», schwärmt Rosalie mit leuchtenden Augen.

 

Nur wenige sind dazu bereit

Die junge Frau beobachtete, wie ihr 15-jähriger Bruder regelmässig in die Villa Ritter geht. Deshalb wollte sie es ihm gleichtun. Aber der Jüngere zeigte sich skeptisch und sagte zur Schwester: «Ich kann mir nicht vorstellen, wie du dich in der Betriebsamkeit und dem Lärm im Treff zurechtfinden könntest.» Das Gespräch unter Geschwistern brachte die Mutter auf die Idee der getrennten Betreuung: «Ich hatte nie daran gedacht, aber die Lösung war einfach», so Caroline Busch. Flugs schickte sie eine E-Mail an die Leitung der Villa Ritter. Darin schlug sie vor, ein Zeitfenster für die Begleitung Jugendlicher mit Behinderung zu öffnen.

Das Team des Bieler Jugendtreffs trat auf den Vorschlag ein und gab sich selbst erstaunt, noch nie an eine derartige Lösung gedacht zu haben. «Schliesslich richtet sich unser Freizeitangebot an alle Jungen zwischen 13 und 18 Jahren», stellt Aurèle Gerber fest. Rosalie und ihre Mutter wurden zum Gespräch in die Villa Ritter eingeladen. Wie können heranwachsende Menschen mit geistiger Behinderung am Betrieb teilhaben, lautete die Frage. Caroline Busch wusste schon damals, dass auch andere betroffene Eltern den Wunsch nach einer Betreuung hegten. Rosalie würde also nicht alleine sein.

Elisa Nesca bestätigt diese Annahme: «Dieses Projekt ist genial, denn es gibt nur wenige Einrichtungen, die bereit sind, junge Behinderte in der Freizeit zu begleiten.» Deshalb würden diese Menschen nach der Schule stets nach Hause gehen. Auch Aurèle Gerber erkennt im Angebot der Villa Ritter eine «kleine Verschnaufpause» für die Eltern. Caroline Busch freut sich, dass ihre Tochter mit ihren Kameradinnen und Kameraden Geburtstag im Jugendtreff feiern darf. «Es ist nämlich gar nicht so einfach, eine Gruppe behinderter Kinder zum Zvieri in der Wohnung zu empfangen», ergänzt die Mutter.

 

Behandeln wie alle andern

Nach den ersten vier Monaten ziehen die Beteiligten eine positive Bilanz: «Die Jungen sind überglücklich, wenn sie über ihre Nachmittage in der Villa Ritter erzählen. Sie vergessen dort ihre Behinderung», bestätigt Elisa Nesca. Caroline Busch macht gleiche Erfahrungen: «Unsere Kinder werden bestens empfangen und verbringen fast ohne besondere Massnahmen eine schöne Zeit miteinander.»

Für die Sozialpädagogen des Jugendtreffs war das Projekt eine Reise ins Unbekannte, wie Aurèle Gerber berichtet: «Wir stellten uns etliche Fragen und meldeten auch Befürchtungen an. Aber die Eltern bestärkten uns mit dem Rat: ‘Behandelt sie wie ganz normale Heranwachsende’», so der Fachmann.

Die Herausforderung ist gelungen. Dafür stehen die zufriedenen Gesichter aller Beteiligten. Für die Zukunft wünscht sich Caroline Busch: «Es wäre ideal, wenn andere Akteure des gesellschaftlichen Lebens ähnliche Angebote wie jenes der Villa Ritter entwickelten.»

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