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Biel

Hier wird improvisiert – mit allem, was es gibt

Ear We Are heisst das Festival, an dem Musik keine Grenzen kennt. Morgen geht es los in der alten Juragarage in Biel. Ohne den Anlass würde die Musik von Mitorganisator Gaudenz Badrutt heute anders klingen.

Lea Krebs und Gaudenz Badrutt gehören zum OK und sind Profis im Improvisieren. Tanja Lander
  • Dossier
Hannah Frei
 
Die da drin spinnen. Das mag sich wohl so mancher denken, der dieses Wochenende an der alten Juragarage in Biel vorbei geht. Einer pfeift, eine quietscht, ein anderer stöhnt. Dazu kommt der Klang einer Gitarre – vermutlich ist es eine Gitarre, vielleicht aber auch nicht. Ja, die spinnen wirklich, die Künstlerinnen und Künstler am Ear We Are-Festival. Sie spinnen Musik neu, schaffen ungewohnte Klänge, jonglieren sie, mischen sie mit Gewohntem. Das kann einen leicht überfordern. Aber das dürfe es auch, sagt Gaudenz Badrutt, der Bieler Künstler, der einst ganz klassisch am Klavier begann und heute eigentlich alles macht, was nur noch am Rande mit Klassischem zu tun hat. Er ist Teil des preisgekrönten Duos «strøm» und macht elektroakustische Musik. Wäre das Ear We Are nicht gewesen, würde seine Musik heute wohl anders klingen, sagt er. Vielleicht zurückhaltender, vielleicht einfacher zu verstehen, vielleicht langweiliger.
 
Als Badrutt bei der ersten Ausgabe des Festivals 1999 beim Flaschenwegräumen half, hatte er, wenn überhaupt, nur am Rande mit dieser improvisierten Form der Musik zu tun. «Für mich hat sich durch das Festival eine Riesenwelt aufgetan», sagt er. Das Improvisatorische habe all das zusammengebracht, was ihn musikalisch begeisterte: Jazz, Pop, Rock, Klassik, und all das, was aus dem bis heute geworden ist. Und was daraus noch werden könnte. «Das ermöglichte mir ein neues, breiteres Spektrum», sagt Badrutt. Die Grenzen zwischen den Genres verschwammen. Und es entstand etwas Neues, von dem er früher nicht einmal geträumt hätte.
 
Sich darauf einlassen
Gaudenz Badrutt und Lea Krebs gehören heute zum sechsköpfigen Organisationsteam des Festivals. Beide suchen stets nach Inspiration. Die finde man am «Ear We Are», sagen sie. Und dafür müsse man auch keine Künstlerin sein. «Man muss sich auf diese Art von Musik einlassen», sagt Krebs. Und das sei man sich von Kunst ja durchaus gewohnt, besonders in der bildenden Kunst, wo Krebs daheim ist. Sie malt. «Man steht vor einem Bild, ohne die leiseste Ahnung davon zu haben, was sich die Künstlerin dabei gedacht hat. Und trotzdem passiert etwas mit einem», sagt Krebs. Das Abstrakte könne einen aufregen, Fragen auslösen, Antworten geben. Im Rahmen eines Festivals, das über mehrere Tage läuft und die unterschiedlichsten Acts zusammenbringt, habe man zahlreiche Chancen, berührt zu werden.
 
Es geht also an diesem Festival längst nicht nur um experimentellen Jazz. Es geht um improvisierte Musik, und zwar aus allen Bereichen – auch wenn sich diese oft nicht recht benennen lassen. Da wäre etwa das Phil Minton Quartett «Mouthful» aus England, das wohl mal im Jazz daheim war, dieses Zuhause aber grundsaniert haben. Phil Minton selbst ist ein Profi in Sachen Rachen. Er schnauzt, schnupft, schreit, schnippt und schnalzt. Er war bereits bei der ersten Ausgabe des Festivals 1999 dabei, damals noch in einer leeren Halle der ehemaligen Mikron-Fabrik. Seit der dritten Ausgabe, also seit 2003 – das Festival findet alle zwei Jahre statt – wird es in der alten Juragarage ausgetragen. Die Schlosserei wird fürs Festival jeweils aus- und umgeräumt.
 
Ganz anders als Phil Minton klingt die US-amerikanische Rapperin Moor Mother. In ihrer Musik ist mehr Vertrautes, mehr davon, was am Radio zu hören ist. Aber stets verträumt, oder zum Träumen anregend, ohne starres Gerüst.
 
All das sei «improvisierte Musik im weitesten Sinne», sagt Badrutt. Manches werde nicht auf der Bühne improvisiert, sondern entstand improvisierend im Proberaum. Und Improvisation sei nicht nur die Neuanordnung von Bestehendem. «Es gibt auch Improvisation, die sich an jeglicher Form von Klang bedient. Da ist man weit entfernt von irgendwelchen harmonischen Strukturen.»
 
Doch muss man denn nicht zuerst all die harmonischen Strukturen kennen, um das von ihnen Abdriftende zu verstehen und zu mögen? «Nein», findet Badrutt. Er zählt darauf, dass sich das Publikum darauf einlässt, ohne zu wissen, was genau da kommt. «Man muss nicht immer alles erklären können.» Die Juragarage biete einen ausgezeichneten Rahmen für diese Bereitschaft, der Ort sei sehr einladend. Dazu kommen die Visualisierungen, die Dekoration, die auch für Lea Krebs das Festival zudem ausmachen. «Wenn man dort reinkommt, tritt man ein in eine neue Welt», sagt sie.
 
Badrutt gibt aber auch zu bedenken: «Improvisation ist immer mit Risiken behaftet. Was genau passieren wird, wissen wir nicht.» Vielleicht werde es Momente geben, die einen stutzig machen, mit denen man nichts anfangen könne. Andere berühre es vielleicht schon. «Ein gespaltenes Publikum ist immer spannend», sagt er.
 
An Grenzen reiben
Das Ear We Are-Festival will an den bestehenden Grenzen reiben. Oder diese überschreiten. Aber wie gelingt das nach elf Ausgaben überhaupt noch? Muss es immer schriller, immer lauter, immer wilder werden? «Nein», finden Krebs und Badrutt. Die Grenzen würden sich ohnehin mit der Zeit verschieben, mal schneller, mal langsamer. «Gut, vielleicht ist die Musik einfach so verrückt wie die Welt. Das ist ein grundsätzliches Phänomen, in dem wir drin stecken», sagt Badrutt. Etwas ganz Neues könne man musikalisch gerade nicht erfinden, dazu brauche es noch ein bisschen Zeit. Da stocke es. Was aber machbar sei: Neues zusammensetzen, kombinieren, Bekanntes auf den Kopf stellen. Und das werde jeder Act am Ear We Are in gewisser Weise tun.
 
Krebs und Badrutt sind durchaus ein wenig aufgeregt. An einem Festival waren sie schon lange nicht mehr. «Es ist der Moment, in dem wir ein Festival gebrauchen können», sagt Badrutt. Wohl auch, um aus dem von der Pandemie gegrabenen Loch der Inspiration und des Austauschs herauszufinden. 2021 wurde das Ear We Are verschoben, das Line-up konnte für dieses Jahr weitgehend übernommen werden. Erst im Dezember fiel der definitive Entscheid, das Festival auch wirklich stattfinden zu lassen, sagt Krebs. Nun halt mit 2G+, dafür nicht online via Stream. «Darüber sind wir alle froh», sagt Krebs. Nun hoffen die beiden, dass alles klappt, dass die Acts und die Helferinnen kommen können. «Und sonst sind wir ja alle nicht schlecht im Improvisieren», sagt Krebs.
 
Info: Ear We Are-Festival, Morgen bis Samstag, alte Juragarage, Adam-Göuffi-Strasse 18, Biel. Das gesamte Line-upsowie Tickets finden Sie unterwww.earweare.ch

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