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Theater

Hinter der Tür ist alles anders

Für «Wonderland» hat Regisseurin Isabelle Freymond das Junge Theater Biel für alle Altersklassen geöffnet. Menschen mit und ohne Behinderung reichen sich auf der Bühne die Klinke zu Traumwelten.

Und plötzlich schwillt das Kostüm an. Die Ensemble-Mitglieder müssen ständig auf Unvorhergesehenes reagieren. Copyright ZVG/Joel Schweizer
Mengia Spahr
 
 
Die Schauspielerinnen und Schauspieler haben das Fallen geübt, sagt Regisseurin Isabelle Freymond. Die Landung – in einem Traum. Da schwirren skurrile Wesen über die Bühne, die seltsame Laute von sich geben. Plötzlich sind sie der Grösse nach aufgereiht und werden zum Tatzelwurm mit unzähligen Armen und Fingern. Im Gewusel und Geflüster realisiert man erst gar nicht, dass auf einmal Worte fallen. Aber versteht man sie? Sprichwörter sind verkehrt herum und auf sinnvolle Antworten auf berechtigte Fragen wartet man vergebens. Das Theaterstück ist wortkarg. Es lebt von Bildern, Bewegungsabfolgen und wunderlichen Klängen.
 
Isabelle Freymond leitet seit 2014 das Junge Theater Biel. Für das Tanztheater «Wonderland» hat sie das Ensemble geöffnet. Sie hat 39 Menschen mit und ohne Behinderung zwischen 8 und 71 Jahren zusammen auf die Bühne gebracht. Die Idee für das Stück habe sie vor drei Jahren gehabt, sagt sie. Ihr schwebte ein Theater ohne Grenzen vor: «Die Vielfalt der Menschen berührt mich selbst immer wieder.»
 
An Freymonds Seite arbeiten Michael Elber und Michael Stulz. Elber macht seit über 30 Jahren Theater mit Menschen mit einer kognitiven Einschränkung. Stulz ist Jazz-Schlagzeuger. Er hat zusammen mit den Schauspielern die Musik zum Stück kreiert und spielt auf der Bühne mit der «Wonderland»-Band, in der kein Instrument klingt, wie es im Musikunterricht gelernt wird: Es scheppert das Klavier und klappert das Saxofon. Die Musik verzaubert, zieht mit. Bei der Schülervorführung gestern Nachmittag klatschte plötzlich der ganze Saal im Takt.
 
 
Erfinden und anordnen
 
Für eine Tonaufnahme mussten die Darstellerinnen flüsternd davon erzählen, was sie sehen, wenn sie durch ihr persönliches Schlüsselloch zur Wunderwelt gucken. Einer habe von einem fliegenden Klavier erzählt, sagt Freymond. Nun schwebt zu Beginn der Vorstellung ein roter Flügel über die Bühne. «Ich knüpfe bei ihren Träumen an», antwortet die Regisseurin auf die Frage nach dem Konzept. Während vier Monaten hätten sie Material zusammengetragen. Dieses habe sie immer neu zusammengewürfelt und Übergänge geschaffen. Doch auch Sprünge durften bleiben. Sie gehören zu Träumen wie Unbekanntes, Skurriles und Unlogisches. Die finale Komposition stehe erst seit zwei Wochen fest.
 
Fünf verschieden grosse Türen prägen das Bühnenbild. Die Schauspielerinnen betreten durch sie immer wieder neue Traumwelten. Wie würde ich jetzt weiter träumen? Fragt man sich im Zuschauerraum, wenn die Klinke gedrückt wird. Und auf der Bühne passiert schon wieder Abstruses. Kostüme blasen sich auf und die Figuren verwandeln sich.
 
Das Stück orientiert sich lose am weltbekannten Kinderbuch «Alice im Wunderland», in dem ein Mädchen einem Kaninchen in den Bau folgt und in eine Welt voller Absurditäten fällt. 
 
Nach der einstündigen Vorführung fragt man sich, was jetzt genau in welcher Reihenfolge passiert ist und wie sich die Darstellerinnen nur die Abläufe merken können. «Das Skript ist hinter der Bühne aufgehängt», lautet die Antwort. Es ist schwierig, den Kindern und Jugendlichen zu folgen, wenn sie über die einzelnen Szenen und Handlungen sprechen und sich an Patzer und Pannen erinnern. An der Premiere sei der älteste Schauspieler zu früh auf der Bühne gestanden für seinen Monolog über die Zeit. Doch eine andere Schauspielerin habe sofort interveniert und ihn darauf hingewiesen, dass er sich in der Zeit getäuscht habe und sich noch gedulden müsse. Seither ist die Szene fix im Spielplan.
 
 
Kein Stück zum Konsumieren
 
Die Ensemblemitglieder seien sich gewohnt, flexibel auf Situationen zu reagieren, sagt Regisseurin Freymond. Sie hätten auch gar keine andere Wahl. Denn seit Probenbeginn Anfang Mai sei die Truppe nur einmal komplett gewesen. Immer wieder hätten sich einzelne in Quarantäne begeben müssen. Auch an den ersten Aufführungen fehlten zwei federführende Charaktere.
 
Freymond zufolge sind die Proben äusserst anspruchsvoll gewesen. Sie habe mit willkürlichen Einfällen und plötzlichen Verweigerungen umgehen müssen. Ein Schauspieler habe etwa eine Woche vor der Premiere plötzlich aussteigen wollen: «Dass er jetzt auf der Bühne stand und rappte, ist doch unglaublich!»
 
Die Kinder und Jugendlichen sind zufrieden mit der Vorstellung von gestern Nachmittag, haben Freude an der Reaktion des Publikums. Ganz anders die Schulvorführung am Morgen: «Die haben laut gesprochen und uns ausgebuht.» Isabelle Freymond bestätigt, dass es eine «harte Vorstellung» war. Es sei beeindruckend, wie gut die Gruppe darüber hinweg gespielt habe. «Wonderland» sei kein Kinderstück zum Konsumieren, ein Vorstellungsbesuch mit der Klasse müsse vor- und nachbereitet werden. Neben Traum und Wirklichkeit geht es auch um die Frage, was normal ist. «Wäre Theater grundsätzlich inklusiv, bräuchte man dafür keinen Begriff», steht im Begleitdossier zum Stück. Nach dem Besuch von «Wonderland» fragt man sich einmal mehr, ob nicht alle Menschen auf ihre Art verrückt sind.
 
Info: Weitere Vorführungen am 23.11, 10 Uhr 15; 23.11 14 Uhr; 28.11, 15 Uhr
 
Stichwörter: Tobs, Junges Theater Biel

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