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Prozess

«Hör auf, du bringst den noch um»

Ein Streit in der Silvesternacht vor drei Jahren hätte tödlich enden können. Was ist passiert? Das Opfer erinnert sich an nichts. Zwei Beschuldigte waren gestern vor Gericht – und erzählten Unterschiedliches.

In dieser Passage wurde das Opfer verprügelt. Copyright: Matthias Käser
Mengia Spahr
 
Das Opfer spricht mit schwerer Zunge. Seit dem Vorfall vor drei Jahren könne er sich schlecht konzentrieren, sagt er. Er könne nicht schön schreiben, da die Hand zittert, und nicht auf den Bus rennen.
 
In der Nacht auf den 1. Januar 2019 erlitt er ein schweres Schädelhirntrauma. Dafür verantwortlich sind mutmasslich der heute 22-jährige A und sein gleichaltriger Freund B. Gestern standen sie vor dem Regionalgericht. A muss sich wegen schwerer Körperverletzung und eventuell versuchter Tötung verantworten. Sein Kollege ist wegen einfacher Körperverletzung und fahrlässiger schwerer Körperverletzung angeklagt. Ein weiterer Straftatbestand ist der Konsum von Betäubungsmittel. Diesen gaben beide zu.
 
Folgenschwere Nacht
 
A und B feierten vor drei Jahren zusammen mit ihren damaligen Freundinnen und einem weiteren Kollegen Silvester in der Bieler «Cuba-Bar». Die beiden kennen sich laut B seit der siebten Klasse: «A ist wie ein Bruder für mich», sagte er gestern, als Gerichtspräsident Markus Gross nach ihrem Verhältnis fragte. Nach Mitternacht fand sich die Gruppe hinter dem Gebäude ein, um zu rauchen. Da sei das Opfer gekommen und habe nach einer Zigarette gefragt. Als sich das Opfer von der Gruppe entfernte, soll der dritte Kollege zu A gesagt haben, dass dieser zuvor in der Bar auf dem WC mit dessen Freundin gesprochen habe.
 
A ist dem ihm fremden Mann gefolgt. In der Passage zwischen der Winkel- und der Bahnhofstrasse gerieten die beiden offenbar aneinander. Das Opfer soll A an den Schultern gepackt und gegen die Wand gedrückt haben. Und B, der sich laut eigenen Aussagen um seinen Freund sorgte, griff ein: «Er (das Opfer)stand mit dem Rücken zu mir, ich schlug ihn von hinten seitlich ins Gesicht und richtete zwei bis drei Fusstritte gegen seinen Oberschenkel.»
 
Als das Opfer zu Boden ging, habe B die Gasse verlassen. Da er gesehen habe, dass sein Freund nicht mitkam, sei er zurückgegangen und habe beobachtet, wie dieser eine Kickbewegung in Richtung des am Boden liegenden Mannes ausführte. Eine Frau sei angerannt gekommen, und sie hätten den Tatort verlassen.
 
Passantinnen, die auf die Schlägerei aufmerksam wurden, alarmierten die Polizei und die Ambulanz. Das Opfer musste noch vor Ort künstlich beatmet werden und wurde schwer verletzt ins Spital gebracht. Er befand sich während Monaten in stationärer ärztlicher Behandlung und musste mehrmals in eine psychiatrische Klinik eingewiesen werden. Gemäss eines medizinischen Berichts kann er zwar damit rechnen, dass sich seine motorischen und kognitiven Fähigkeiten noch etwas verbessern. Er werde jedoch dauerhaft eingeschränkt sein und im Alltag beeinträchtigt bleiben. Unklar ist, aus welchem Grund er so zugerichtet wurde. 
 
Zuerst einmal gibt es widersprüchliche Angaben zum Gespräch zwischen der Freundin von A und dem Opfer. Bei der gestrigen Einvernahme sagte der Angeklagte aus, dass sein Kollege ihm gesteckt habe, dass das Opfer ihr Kokain geben wollte. Tatsächlich gibt der Geschädigte an, zu jener Zeit die Droge konsumiert zu haben. Doch weder der Kollege noch B sagten in den Einvernahmen etwas von Kokain, und auch A führte die Droge gestern zum ersten Mal ins Feld.
 
Weiter bleibt unklar, wie die Angeklagten den Zustand des späteren Opfers einschätzten: Nahmen sie wahr, dass dieser unter Alkohol- und Drogeneinfluss stand und deshalb seine Abwehrreaktionen eingeschränkt waren? Während A und B gestern zu Protokoll gaben, dass ihnen nicht aufgefallen wäre, dass das Opfer taumelte, sagte ihr Kollege in früheren Befragungen, dass das Opfer wankte und lullte.
 
Die Aggressionen gingen A zufolge von beiden aus. Nachdem sein Freund den über zehn Jahre älteren Mann zu Fall brachte, habe er den Stürzenden «im Hals-Kinn-Bereich» getreten und sei dann gegangen, sagt A. Bei diesem einen Kick sei es geblieben. Darauf beharrte der Angeklagte gestern selbst, als Gerichtspräsident Gross ihn darauf hinwies, dass sein Freund B in früheren Befragungen aussagte, dass A noch auf das Opfer eingetreten habe, als dieser bereits am Boden lag – von oben herab. «Das war kein normaler Kick, ich würde das nie machen», sagte B demnach.
 
Ein bis zehn Tritte
 
Dass es sich um mehrere und heftige Tritte gehandelt haben dürfte, belegen auch Zeugenaussagen. Gestern befragte das Gericht zwei Passantinnen und einen Passanten, die in jener Nacht die Bahnhofstrasse entlang liefen und auf das Geschehen in der Seitengasse aufmerksam wurden. Laut ihren Angaben trat der Täter zwischen fünf- und zehnmal zu. Heftig seien die Tritte gewesen, und gegen den Oberkörper und die Kopfgegend gerichtet gewesen. Alle Augenzeugen glauben sich daran zu erinnern, dass nur eine Person ausgeteilt hat, während mehrere andere daneben standen. Sie sagten ausserdem übereinstimmend aus, dass sich die Person am Boden nicht mehr wehrte, als sie auf die Schlägerei aufmerksam wurde.
 
«Ich habe das als lebensbedrohlich erlebt. Ich dachte: Hör auf, du bringst den noch um», beschrieb eine Zeugin ihre Gefühle. Ihr sei gleich bewusst gewesen, dass der Mann, der am Boden lag, schwer verletzt war. Dieser kann sich seinerseits an nichts mehr erinnern, was in jener Nacht passiert ist, und gestern konnte er vor Gericht auch nicht sagen, ob er die Beschuldigten schon einmal gesehen hat.
 
Heute erfolgt die Urteilseröffnung. Für die Angeklagten gilt die Unschuldsvermutung.

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