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Mein Montag

«Ich bin der Wächter über die Werte»

Der gebürtige Deutsche Kristian Schneider ist seit gut anderthalb Jahren Direktor des Spitalzentrums Biel. Er versucht, die bestehenden Strukturen aufzubrechen und lädt seine Mitarbeiter ein, an den Sitzungen der Spitalleitung teilzunehmen.

Kristian Schneider arbeitete 19 Jahre und neun Monate am Unispital Basel, ehe er völlig unerwartet Spitaldirektor im Jura wurde. Bild: Nico Kobel
  • Dossier

Aufgezeichnet: Lino Schaeren

«An heissen Sommertagen versuche ich jeweils zwischen 6.30 und 7 Uhr mit der Arbeit zu beginnen, um der grössten Hitze zu entgehen. Das bedeutet für mich früh aufstehen: Die Zugfahrt von Porrentruy nach Biel dauert eine Stunde. Als Spitaldirektor habe ich aber keine fixen Arbeitszeiten. Die Tage dauern regelmässig zwischen zehn und zwölf Stunden. Ich schmeisse den Bettel aber auch mal um 16 Uhr hin, wenn ich merke, dass ich an meine Grenzen stosse. So verhindere ich eine Überbelastung, es ist schlicht nicht möglich, an 365 Tagen im Jahr 120 Prozent zu geben. Bei meinen Mitarbeitern mache ich das nicht anders: Kommt einer zu mir und offenbart, dass er etwas gerade nicht schafft, soll ich ihn dann zusammenstauchen? Nein, ich sage ihm, er solle zuerst einmal für sich schauen. Ich bin schliesslich auch nur ein Mensch und mache das als Direktor genauso.

Spitaldirektor wollte ich aber eigentlich gar nie werden. Im deutschen Lörrach aufgewachsen, habe ich meine Pflegeausbildung am Kantonsspital Basel, dem heutigen Universitätsspital, gemacht. Daher auch mein Dialekt: Ich spreche irgendeine Mischung aus Alemannisch und Baseldeutsch. Ich habe mich dann vom Pfleger hochgearbeitet und zuletzt die Pflege des Departements Innere Medizin geleitet. Mein Ziel war es, einmal die Pflegedirektion zu übernehmen, Generaldirektor wollte ich aber nie sein. Doch dann haben sich die Ereignisse überschlagen.

19 Jahre und 9 Monate hatte ich am Spital in Basel gearbeitet, als mich eines Abends ein Verwaltungsratsmitglied des jurassischen Kantonsspitals Hôpital du Jura kontaktiert hat. Drei Monate länger und ich hätte noch ein Jubiläumsgeschenk mitnehmen können. Doch es ging alles ganz schnell: Ich sollte bis am nächsten Morgen meine Bewerbungsunterlagen einreichen – in Französisch! Dabei verfügte ich nicht einmal über einen halbwegs aktuellen Lebenslauf, ich hatte mich bis dahin schliesslich nie in meinem Leben auf eine Stelle beworben und habe das bis heute zumindest aktiv auch noch nie getan.

So kam es, dass ich letztlich mein Ziel, die Position des Pflegedirektors, einfach übersprungen habe. Mein Partner und ich zogen um nach Porrentruy, das Hôpital du Jura mit seinen 1650 Mitarbeitenden habe ich dann fast fünf Jahre als Direktor geleitet. Das Spital befand sich bei meiner Ankunft in Schieflage, zuletzt lief es dann aber so rund, dass es schon fast zu ruhig wurde. So gesehen kam es gelegen, als ich von einem Headhunter wegen des Direktorenpostens am Spitalzentrum Biel kontaktiert wurde, den ich dann im November 2017 übernommen habe.

In Biel angekommen, habe ich damit begonnen, Dinge abzuschaffen. All diese starren Strukturen, Anträge und Formulare, damit war erst einmal Schluss, ich habe den Leuten gesagt: He, macht doch einfach mal! Ich habe auch kein eigentliches Büro bezogen. Dass Mitarbeiter ins Büro des Direktors zitiert werden, gibt es bei mir nicht. Die Leute kommen nicht zum Direktor, der Direktor kommt zu den Leuten. So erfahre ich auch mehr über die Menschen und wie sie arbeiten. Die wichtigste Sitzung des Tages ist die Mittagspause, da erfährt man vieles. Leider ist es ja oft so, dass der Chef wichtige Vorgänge und Informationen als Letzter mitbekommt, weil sich die Leute nicht getrauen, ihn darauf anzusprechen. Strukturen, die ich aufbrechen muss.

Ich leite in Biel ein Unternehmen mit 1400 Mitarbeitenden, aber nur neun Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter führe ich direkt. Ich trage die Verantwortung dafür, dass der Laden richtig organisiert ist, die Verantwortung über die medizinische Versorgung trägt aber der Arzt. Meine Aufgabe ist es, die Leute bei der Stange zu halten, ich muss vereinfachen, nicht den Chef raushängen lassen. Ich bin der Wächter über die Werte. Werte sind das A und O eines Unternehmens. Der primäre Wert des Spitals ist der Patient, er ist unsere Daseinsberechtigung. Der zweite Wert ist Vertrauen und der dritte Wert ist Respekt. Ich musste mich noch nie von einem Mitarbeiter trennen, weil er nicht über die nötigen Kompetenzen verfügt hätte. Ich habe mich dann von jemandem trennen müssen, wenn ich mit ihm oder ihr die Werte nicht teilen konnte. Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen, die nicht für die Patienten arbeiten, mir und dem Unternehmen nicht vertrauen oder respektlos herumlaufen, können wir ganz einfach nicht im Team behalten.

Die Chefetage kann aber nicht nur Werte wie Respekt einfordern, sie muss diese auch selber leben. Ich habe – trotz interner Skepsis – einen freien Stuhl an der Spitalleitungssitzung eingeführt. Für diesen Platz können sich alle Mitarbeitenden einschreiben – egal, ob Putzpersonal, Pfleger, Koch oder Ärztin. Das wird rege genutzt, der Stuhl ist inzwischen fast jede Woche besetzt, und es wird auch mitdiskutiert. Wir ändern nicht die Traktandenliste, wenn wir einen Gast haben, im Gegenteil. Nichts spricht dagegen, an der Leitungssitzung auch über Themen zu sprechen, welche die Person auf dem zusätzlichen Stuhl direkt betreffen. Dann kann er oder sie sehen, dass wir mit dem Arbeitsfeld und der erbrachten Leistung respektvoll umgehen, auch wenn es vielleicht unangenehme Entscheide zu treffen gilt.

Ähnlich wie im Jura, war auch das Spitalzentrum Biel bei meiner Ankunft in prekärem Zustand. Wir arbeiten kontinuierlich an einer Verbesserung der Strukturen – und an der Infrastruktur. Es wäre schön, dereinst das rote Band beim Neubau durchschneiden zu können. Es gefällt mir gut in Biel, ich wollte schon immer einmal an einem See arbeiten. Wobei Biel ja eigentlich gar keine Stadt am See ist. Es überrascht mich, dass die Stadt nicht besser an den See angebunden ist, hier gibt es nicht wie in Neuenburg eine schöne Promenade. In Biel stehen der Bahnhof und der Bahndamm wie eine Mauer zwischen Stadt und See. Baut endlich dieses Agglolac, dann nehme auch ich mir eine Wohnung am Bielersee.

Derzeit bin ich aber noch an Porrentruy gebunden, auch wegen meinem Hobby: Ich renoviere Häuser. Eine schöne Arbeit, bei der ich am Abend sehe, was ich tagsüber geschafft habe. Bei meiner Arbeit als Spitaldirektor ist das anders: Die Auswirkungen von dem, was ich heute tue, werden oft erst in zwei, drei Jahren sichtbar.»

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