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MITTENDRIN

Ich bin einfach noch nicht dazu bereit, abzustürzen

Ich bin einfach noch nicht dazu bereit, abzustürzen. 913 Meter Aufstieg bis zur in den Felsen gebauten Kapelle. Vielleicht sollte man nicht erst um elf Uhr starten, bei 27 Grad Celsius, wenn die Sonne von oben direkt auf den Körper brennt.

Niklaus Baschung

Niklaus Baschung

Das Hemd unter dem Rucksack ist schon nach fünf Minuten nass. Der Weg schlängelt sich zuerst im Zickzack eine Naturwiese hinauf. Sie leuchtet in allen Blumenfarben. Wunderschön. Ein Helikopter fliegt ins Tal hinein. Die steilen, schroffen Felswände schlagen das Rotorengeräusch mehrfach zurück, verstärken es wie ein Lautsprecher. Direkt über dem Wanderweg bleibt der Hubschrauber in der Luft stehen. Sucht er jemanden?

Letzte Woche ist ein Wanderer auf einem Höhenweg, den ich schon mehrmals begangen habe, abgestürzt und tödlich verunfallt. Auf einer gut ausgebauten Route, mit keinen grossen körperlichen Herausforderungen. Vielleicht nach einer kurzen Unachtsamkeit, einem folgenschweren Stolperer. Auf den Diskussionsforen im Internet, welche von Besserwissern, Stänkerern und Wütigen dieser Welt beherrscht werden wie das Mittelalter einst von der Pest, wurde auch sein Unfalltod kommentiert und mit neunmalklugen Ratschlägen versehen. Zum Glück musste er sie nicht mehr lesen.

Langsam, als kontrollierte die Besatzung das Gelände, zieht der Helikopter kleine Kreise, dreht dann wieder ab und entschwindet über dem Gipfelgrat. Nicht einmal hier oben bist du unbeobachtet. Bald müssen Wanderer einen Chip unter ihre Haut implantieren, der jeden Schritt aufzeichnet und Alarm schlägt, wenn die Flüssigkeitszufuhr nicht der EU-Norm entspricht. Der Weg führt nun in einen Märchenwald, mit kleinen Bächen, Brücken, Brunnen, das Sonnenlicht bricht zuweilen durch die Blätterdecke, gestaltet Licht-Schatten-Spiele. Wieder ertönt anschwellender Helikopterlärm. Das nun unsichtbare Fluggerät scheint erneut das Gelände abzusuchen. Der Lärm nervt. In der Schweiz gibt es ein Überangebot an Rettungshelikoptern. Lebensrettung aus der Luft soll ein lukrativer Markt werden, mit Angebot und Nachfrage, wie beim Verkauf von Sonnencremes. Viel sicherer fühle ich mich beim Wandern allerdings nicht. Der Motorenlärm klingt wieder ab.

Auf den folgenden steilsten Abschnitt des Aufstiegs scheint nun wieder die pralle Sonne. Vereinzelte verwitterte Bäume künden die nahe Baumgrenze an. Offenbar weiden hier manchmal auch Rinder, den Kuhfladen nach zu schliessen. Kein erholsamer Weideplatz. Für Kühe, deren Milch die Alp auf 1974 Höhenmetern zu Käse verarbeitet, ist dieses Gelände weniger geeignet. Weiter oben gibt es flachere Alpweiden. Nun sehe ich ihn wieder, diesen verd... Helikopter. Er schwebt über dem Gipfelgrat, zieht in einer langen Schleife übers Tal – zielgenau direkt auf mich zu. Wahrscheinlich will er mich jetzt unbedingt noch retten, bevor die Konkurrenz herangeflogen kommt oder ich das Wanderziel heil erreiche. Die Maschine macht einfach solange Krach, bis ich aus Verzweiflung stolpere. Aber ich bin einfach noch nicht dazu bereit, abzustürzen. Markt hin oder her. Endlich zieht der Helikopter ab.

Kurz vor der Kapelle führt eine wippende Hängebrücke aus durchsichtigem Gitterrost über den Abgrund. Plötzlich ist mir unwohl. Wahrscheinlich wegen akuter Helikopter-Allergie. Die Hängebrücke überquere ich im Spurt, blicke nie hinunter, eile zur Kapelle und zünde vier Kerzen miteinander an. Die erste Kerze für alle Wanderer, die zurzeit unterwegs sind. Die zweite für alle Helikopterpiloten, damit sie keine unnötigen Flüge mehr unternehmen. Die dritte Kerze für mich selber, damit ich den Gedanken wieder loswerde, dass ich den Helikopter zuvor am liebsten heruntergeschossen hätte. Die vierte Kerze für diese wunderschöne Landschaft, die hoffentlich erhalten bleibt, wenn es längst keine Wanderer und auch keine Helikopter mehr gibt.

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