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Meditation

«Ich habe gelernt, mich wieder an den kleinen Dingen zu erfreuen»

In den unsicheren Zeiten der Coronakrise sind viele Menschen gestresst und unruhig. Zahlreiche Meditationsvideos auf Youtube versprechen Hilfe. Doch kann Atemtechnik in der Krise wirklich helfen? Das BT hat sich auf Spurensuche begeben.

Copyright: Mattia Coda / Bieler Tagblatt

Stephanie Matti

Die Schulen sind geschlossen, Eltern arbeiten im Homeoffice, das Coronavirus verbreitet sich auf der ganzen Welt und nichts scheint mehr, wie wir es uns gewohnt sind. Manche fühlen sich durch diese Veränderungen verunsichert, werden unruhig und gestresst. In solchen Fällen soll die Meditation Abhilfe schaffen. Zumindest heisst es das in vielen der zahlreichen Meditationsvideos unter dem Thema Covid-19, die derzeit im Internet angeboten werden. Was steckt dahinter? Was bewirkt die Meditation? Ich begebe mich auf eine Spurensuche und befrage Meditationsbegeisterte aus der Region und einen Immunologen.

 

Tief ein- und ausatmen

Die Meditationslehrerin Anita Wysser aus Biel erklärt per Telefon: «In belastenden Momenten hilft es, erst einmal tief durchzuatmen.» In Krisensituationen, wie beispielsweise zurzeit der Coronavirus-Pandemie, werde uns gezeigt, wie zerbrechlich das Leben sei, und es gewinne an Kostbarkeit. Wer angespannt und unruhig sei, so die Meditationslehrerin, dem könne die Konzentration auf den Atem guttun. Wysser meint, dass die Technik der Meditation die Umstände nicht verändere, sie könne aber die Beziehung zur aktuellen Situation verbessern. Die geistigen und körperlichen Veränderungen während der Meditationen müsse man selbst erleben, hält sie fest.

Ich möchte also wissen, wie sich Meditation anfühlt und wie die Technik funktioniert. Ich wähle auf Youtube eines der zahlreichen Meditationsvideos aus. Es trägt den Titel: «Besiege das Coronavirus». Sofort erklingt beruhigende Musik. Die sanfte Stimme einer Frau erklingt: «Die Welt befindet sich zurzeit im Ausnahmezustand, wir vergessen, wer wir wirklich sind, und werden unruhig und gestresst. In den folgenden zehn Minuten werden wir zur Ruhe kommen und auf unser Inneres hören.»

Die Stimme fordert mich auf, eine bequeme Position einzunehmen, meine Augen zu schliessen und meine Hände in der Form einer Schale zu halten. Ich setze mich hin und fühle mich etwas verloren. Was soll ich jetzt? Ich lausche der Musik, bis mich die Stimme auffordert, regelmässig ein- und auszuatmen. Während ich atme, fällt mir plötzlich ein: Habe ich den Kochherd ausgeschaltet? Und wann mache ich meine Wäsche? Als hätte die Stimme meine Gedanken gelesen, mahnt sie mich, über nichts nachzudenken und mich nur auf den eigenen Atem zu konzentrieren. Als ich das Ende des Videos erreicht habe, merke ich, dass ich die zehn Minuten tatsächlich genossen habe. Ich konnte meine Gedanken für eine Weile ausschalten. Ein paar Minuten später fällt mir jedoch wieder ein, was ich alles erledigen muss, und mein Körper verspannt sich aufs Neue.

 

Ohne Absichten meditieren

Wie sieht das bei jemandem aus, der seit langer Zeit meditiert? Bewirkt regelmässiges Meditieren, das man weniger gestresst durch das Leben geht? Fritz Widmer aus Nidau meditiert seit 30 Jahren. Das Meditieren gehört für ihn wie das Zähneputzen zum Leben. Er begann zu meditieren, damit er kreisende Gedanken ausschalten und sich von äusseren Reizen abschirmen konnte. Obschon Widmer pensioniert ist und damit zur Risikogruppe gehört, beunruhigt ihn das Virus nicht sonderlich. Der Meditationsbegeisterte ist der Meinung, dass er die Situation nicht ändern kann. Das bewusste Atmen habe zu seiner gelassenen Haltung beigetragen, er sei dadurch ruhiger geworden und die Welt sei in seinen Gedanken geordneter. Widmer sagt: «Ich habe wieder gelernt, mich an kleinen Dingen zu erfreuen, beispielsweise an einer blühenden Blume.» Für seine tägliche Meditation setzt er sich immer zur selben Zeit am selben Ort auf ein Kissen und konzentriert sich auf seinen Atem.

Widmer besucht seit Jahren regelmässig Meditationsstunden. Er kennt die Technik in- und auswendig. Doch kann man denn als Anfänger oder Anfängerin jetzt in der Corona-Krise mit den zahlreichen Videos auf Youtube zuhause lernen zu meditieren? Die Meditationslehrerin Wysser findet, dass es einige Meditationsvideos gibt, die sehr gut geführt werden – beispielsweise von Anna Gamma. Sie wähle sehr poetische Worte, was für Meditationsanfänger sehr hilfreich sein könne. Wysser sagt: «Am wichtigsten ist, dass man zuhause ausprobiert zu meditieren und versucht, sich zu entspannen.» Der Körper signalisiere uns, ob das gewählte Video das Richtige sei oder ob man lieber ein anderes wähle. Wer nicht gerne sitzend meditiert, könne auch die Geh-Meditation versuchen, so Wysser. Diese Variante kann man auf einem Spaziergang praktizieren. Das Ziel sei, sich während dem Spaziergang auf den Atem zu konzentrieren, die Erde und den Himmel wahrzunehmen und sich mit diesen Elementen zu verbinden.

 

Das Immunsystem pflegen

Was sagt die Wissenschaft zur Meditation? Kann uns die Technik in der Coronavirus-Krise über das Geistige hinaus helfen? Unter den zahlreichen Videos liest man schliesslich immer wieder, dass man mit Meditation das Immunsystem stärken könne. Der Immunologe Beda Stadler, emeritierter Professor an der Universität Bern, erklärt, dass man das Immunsystem pflegen und darauf achten sollte, dass es nicht geschwächt wird. Mit gesunder Lebensweise, ausgewogener Ernährung, genügend Bewegung und ausreichend Schlaf arbeite das Immunsystem aber von selbst zu 100 Prozent.

Stadler sagt, ihm persönlich sage die traditionelle Form des Meditierens nichts. Doch sogar er als Gegner der Homöopathie und Esoterik sagt, er habe seine eigenen Formen der Meditation gefunden: Seit er pensioniert sei, schreinere er gerne Möbel und auch die Gartenarbeit sei für ihn entspannend.

Stadler erzählt von jemandem, der immer von Hand abwäscht, da ihn dies beruhige. Es brauche eine monotone Handlung und eine gewisse Fokussierung, dann werde man ruhig. «Das Ziel des Menschen ist es, die Glückseligkeit zu finden», so der Immunologe. «Es wäre toll, wenn Leute mit Meditation näher an sie herankommen würden.»

Aufgrund dieser verschiedenen Aussagen und Ansichten komme ich zur Erkenntnis, dass die Meditation durchaus helfen kann, in stressigen Situationen ruhig zu bleiben. Es gibt aber nicht die eine Art der Meditation, die jedem und jeder zusagt. Jeder muss für sich selber herausfinden, welche Form der Meditation funktioniert. Das Wichtigste dabei: Negative Gedanken loszulassen und sich entspannen. Einfacher gesagt als getan.

 

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Meditationsübung 
für Zuhause

Die Meditationslehrerin Anita Wysser aus Biel erklärt eine Übung, um zuhause zu meditieren: «Ziehen sie sich nach Möglichkeit ein-, zwei- oder mehrere Male an einen stillen Ort zurück. Sitzen Sie – das kann ganz gut auf einem Stuhl sein – und achten Sie auf den Atem. Dies kann auch nur für einige Minuten sein. Dabei sollen die Wirbelsäule aufgerichtet und die Füsse auf dem Boden geerdet sein. Die Hände sind zu einer Schale geformt, die Daumenspitzen berühren sich leicht, die Augen können dabei geschlossen oder halb geöffnet sein. Eine Hilfe für die Konzentration ist das Zählen der Atemzüge von eins bis zehn. Auch wenn der Geist anfänglich immer wieder unruhig ist und die Gedanken im Kopf herumrasen, wird sich doch fast unmerklich eine Ruhe einstellen.» sma

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