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Titelgeschichte

«Ich sah die Tragödie wie durch ein Brennglas»

Im Süden von Italien sterben massenweise Olivenbäume. Wer ist verantwortlich für diese ökologische Katastrophe? Der in Biel lebende Journalist René Worni hat in seinem Film «Spiel mir das Lied vom Olivenbaum» Antworten gefunden.

Mit den Olivenbäumen stirbt auch eine jarhundertealte Kultur. Die Katastrophe ist eine seit Langem angekündigte und steht stellvertretend für andere Regionen auf dem Globus. Bild: zvg/René Worni

Interview:Raphael Amstutz

René Worni, in Ihrem Dokumentarfilm «Spiel mir das Lied vom Olivenbaum» geht es um das Sterben der Olivenkulturen im Salento, im Süden Apuliens, also etwa 15 Autostunden von uns entfernt. Gibt es ein Initialereignis, das zu diesem Film führte?

René Worni: Nicht unmittelbar. Ich habe durch Bekannte vom Olivenbaumsterben im Salento erfahren. Ich sah zunächst nur die «heisse Story»: Einer ganzen Region zieht es den Boden unter den Füssen weg, eine Kultur und damit die Identität von Generationen droht zu verschwinden, die Menschen sind wenig informiert und oft hilflos. Bestimmte Kreise versuchen, von der Lage zu profitieren, die Politik tappt von Fehler zu Fehler und die Katastrophe spült die Umweltsünden der vergangenen Jahrzehnte an die Oberfläche. Doch so geht der Lauf der Dinge: Ich bin Menschen begegnet, die auch meine Freunde wurden und die zunächst schwarz-weisse Geschichte wurde sehr schnell sehr farbig.

Offensichtlich ist das Feuerbakterium Xylella fastidiosa für die Ökokatastrophe verantwortlich. Alle, Natur und Menschen, scheinen zu verlieren. Welche Kreise profitieren denn von dieser Situation?

Das Feuerbakterium kann man nicht isoliert betrachten. Es ist bloss das letzte Glied in einer langen Kette von belastenden Faktoren. Profitieren wollen unter anderem jene Kreise, die patentierte Olivenbaumsorten propagieren. Angeblich sollen sie gegen das Bakterium resistent sein. Den zweifelsfreien Beweis jedoch haben die verantwortlichen Wissenschaftler bis heute nicht geliefert. Sie verdienen an den Patenten mit. Die alten Bäume dürfen per Gesetz nicht gefällt werden. Doch die Region Apulien hat die Vorschriften gelockert, sodass derjenige sie fällen darf – selbst 1000-jährige Giganten –, der stattdessen diese Sorten anpflanzt, die resistent sein sollen.

Sie haben Altlasten angesprochen. Was meinen Sie damit?

In den 70er-Jahren, im Zuge der sogenannten Grünen Revolution, hat die Agrochemie begonnen, mit neuen Produkten die Erträge der Landwirtschaft zu forcieren. Die Generation der heute 70-Jährigen und älter hatte damals nichts ahnend und oftmals im T-Shirt und kurzen Hosen Tausende von Tonnen dieser Gifte versprüht. Die Bauern waren kaum in der Lage, die Versprechen der chemischen Industrie zu hinterfragen. Oft wurden sie mit Gratismustern gelockt. Sie investierten fleissig in «la medicina», in die «Medizin». So nennen viele bis heute die Pestizide. Sie meinen, für eine gute Ernte müsse man der Natur nachhelfen. Die Menge, die seither in die Erde gelangte, ist enorm. Im Film erzählt der alte Angelino aus Leverano eindrücklich, wie die meisten seiner Freunde an den Spätfolgen dieser Dauerbelastung an Tumoren und Krebs gestorben sind.

Sind die Umweltprobleme des Salento ein Einzelfall?

Vielleicht ragt die massive Anwendung von Herbiziden und Pestiziden im Vergleich mit anderen Regionen Europas etwas heraus. Doch im Salento zeigen sich Umweltphänomene, die wir an vielen Orten auf der Welt genauso beobachten können: Es betrifft vor allem das Verschwinden der Artenvielfalt, der Biomasse, der Fruchtbarkeit der Böden, ganz zu schweigen von der Wasserproblematik und Anzeichen von Verwüstung. Der Einsatz von Agrochemikalien ist seit den 70er-Jahren zwar in der Dosierung stark zurückgegangen, aber immer noch die Normalität. Diese wird glücklicherweise zunehmend hinterfragt.

Wie kamen Sie überhaupt in diese Gegend?

Bekannte von mir besitzen im Umland des Städtchens Aradeo Olivenbäume und produzieren ein hervorragendes Extra Vergine. Dort habe ich im Spätherbst 2017 bei der Ernte mithelfen dürfen. Schon im Sommer davor war ich auf Erkundungsreise und hatte bereits eine Filmkamera dabei.

Eine Kamera? Warum haben Sie sich für einen Film entschieden?

Noch bevor ich den tiefen Süden gesehen hatte, war mir bereits klar, dass ich nicht bloss eine Reportage schreiben, sondern einen anderen Zugang finden wollte. Die Dinge und vor allem die Menschen sollten möglichst authentisch und ungefiltert rüberkommen. Das Medium Film eignet sich dafür sehr gut. Je mehr Menschen ich getroffen habe, desto stärker geriet ich in ihren Bann. Sie tragen ihr Herz auf der Zunge, und die meisten kennen keine Scheu vor der Kamera. Die 80-jährige Giuseppina zum Beispiel pflegt ihre Olivenbäume eigenhändig und steigt täglich bei Wind und Wetter auf die Leiter, um die trockenen Äste herauszuschneiden. Trotz Dürrekrankheit haben ihre Bäume bis jetzt überlebt, weil sie sie liebt und pflegt.

Ihr Film lief im letzten Herbst am Salento International Film Festival, und Sie selber haben ein Dutzend weitere Projektionen in der Region organisiert. Wie kam das Werk bei der Bevölkerung an?

Wir waren im letzten Herbst mit einer ersten, unkommentierten Filmversion unterwegs. Das hat hervorragend funktioniert, weil das Thema natürlich permanent gegenwärtig ist, kaum blickt man aus dem Fenster. Da braucht es keine langen Erklärungen. Die Reaktionen waren entsprechend stark. Viele kennen die Protagonisten persönlich. Der Blick von aussen, von einem Fremden, wurde sehr geschätzt. Meist gab es emotionale Diskussionen nach den Vorstellungen.

Die Katastrophe der sterbenden Olivenbäume ist bei uns ja wenig bekannt. Wie sind Sie vorgegangen, dass Ihre Arbeit auch hier verstanden wird?

Ich habe einzelne Szenen mit Kommentaren aus dem Off unterlegt, um so die Hintergründe zu erklären. Und ich war überrascht, dass der Film auch hier auf grosse Resonanz stiess. Er lief erstmals Anfang November im «ausverkauften» Saal des Farelhauses in Biel. Weitere Projektionen sind wegen der Coronakrise derzeit blockiert, werden aber folgen.

Was hat Sie am meisten beeindruckt während der Dreharbeiten?

Ich habe zum Beispiel das fortschreitende Sterben eines uralten Olivenbaumes, des «Gigante di Alliste», beobachten können. Sein Alter wird auf 1600 Jahre geschätzt. 2018 hatte er noch ein paar grüne Äste. Es bestand eine leise Hoffnung. Im Sommer darauf war er gegangen –  verdorrt. Mit ihm beginnt der Film, und er kommt danach noch mehrmals vor. Gianluigi Lazzari, ein Dichter aus Castro, hat dem Baum ein Gedicht gewidmet. Er hat es für die Kamera vor Ort szenisch gelesen. Ein bewegender Moment. Ich sah die Tragödie wie durch ein Brennglas. Dann sind da diese apokalyptischen Bilder von sich teilweise bis zum Horizont ausdehnenden Olivenhainen mit nichts als verdorrten Bäumen. Stellenweise meint man, zusehen zu können, wie die Landschaft zur Steppe wird. Das geht unter die Haut. Und dann natürlich die Menschen, die ich getroffen habe und später, nach den ersten Visionierungen, ihre Reaktionen auf den Film.

Welche Reaktionen sind Ihnen in besonders starker Erinnerung?

Nun, an einem Abend in Melendugno haben Teile des Publikums meinen Film vehement gegen opponierende Anwesende verteidigt. Diese hatten kritisiert, dass der Film keine Verantwortlichen aus Wirtschaft, Politik, Wissenschaft oder gar der Mafia anklagt, also keine explizit politische Botschaft hat. Es wäre beinahe zu Handgreiflichkeiten gekommen. Die explodierende Debatte hat mich völlig überrascht und zugleich fasziniert.

Wie hat sich die Situation im Salento seither entwickelt?

Ich verbrachte in den vergangenen zwei Jahren bestimmt ein halbes Jahr im Süden Apuliens, und jedes Mal hat sich mir die Katastrophe drastischer gezeigt. Im Schatten eines Baumes ist es im Sommer durchschnittlich sieben bis acht Grad kühler als an der Sonne. Im heissen Sommer letztes Jahr habe ich erlebt, was es bedeutet, wenn die Blätter von Millionen Bäumen fehlen, sie kein CO2 aufnehmen und also auch keinen Sauerstoff mehr abgeben können.

Wie reagieren die Menschen vor Ort auf die Katastrophe?

Die einen haben aufgegeben, resigniert, sind fatalistisch. Es gibt aber auch einige 30- bis 40-Jährige, die wieder nach Süditalien zurückkehren. Sie gehören zur Generation jener, die in den Norden weggezogen sind und sich nun wieder auf die Kultur ihrer Eltern zurückbesinnen. So entstanden im Salento etwa 80 Kooperativen, die eine Landwirtschaft betreiben, die wieder mehr im Einklang mit der Natur steht. Man pflanzt angestammte Gemüse und Früchte an, sammelt wertvolles Saatgut und fördert die Biodiversität. Doch angesichts der Umweltprobleme ist das bisher ein Tropfen auf den heissen Stein.

Im Film geht es auch darum, wie die Bäume gerettet werden könnten. Wie stehen die Chancen, dass die Olivenkulturen weiter bestehen können?

Offiziell gilt die Fällung von Olivenbäumen mit Dürresymptomen nach wie vor als einziges Mittel im Kampf gegen das Bakterium Xylella fastidiosa. Gemäss der international dominierenden Lehrmeinung gibt es kein Mittel gegen das Bakterium. Allerdings arbeiten Wissenschaftler seit mehreren Jahren an ganzheitlichen Alternativen, die nicht auf das Bakterium allein fokussieren. Diese beginnen sich jedoch nur sehr langsam durchzusetzen. Eine davon ist ein Verfahren für den Einsatz von Mikroorganismen, das der Turiner Mikrobiologe Giusto Giovannetti entwickelt hat. Ziel ist, die Immunkräfte der geschwächten Pflanzen wieder zu stärken und die ausgelaugten Böden zu revitalisieren. Oder es gibt das Protokoll des Mikrobiologen Marco Scorticchini, nach dessen Methode die Bäume zwar nicht geheilt werden können, doch sie stabilisieren sich. Es gibt Olivenbauern im Salento, die auf diese Weise wieder gute Ernten erzielt haben. Hoffnung besteht also. Doch die Wissenschaft, wie auch Exponenten aus Wirtschaft und Politik, sind in sich bekämpfende Lager gespalten. Letztlich geht es um die Abschöpfung von Subventionen der EU.

Aus der Ferne betrachtet hat man das Gefühl, dass die Menschen sich doch für eine Veränderung interessieren müssten. Schliesslich sind die Olivenbäume ihre Lebensgrundlage.

Die Produktion und der Handel mit Olivenöl ist eine korrupte Angelegenheit. Italien importiert Billigöl aus Tunesien, Spanien und weiteren Mittelmeerländern. Man kannibalisiert sich damit selber. Das hat den Markt zerstört. Viele haben deshalb ihre Olivenhaine verlassen, weil die Kulturen nicht mehr rentieren. Im Supermarkt gibt es sogenanntes Olivenöl Extra Vergine für unter drei Euro. Damit können die meisten lokalen Produzenten niemals mithalten. Die fehlende Pflege der Olivenbäume ist dabei mit einer der Gründe für das Olivenbaumsterben.

Gibt es für die Region Hoffnung?

Es gibt einerseits die erwähnten alternativen Methoden. Und seit vielleicht einem halben Jahr kann man hie und da beobachten, dass sich Bäume auf verlassenen Olivenhainen wie von Zauberhand erholen. Sie bilden tatsächlich wieder grüne Baumkronen. Offensichtlich haben die Bauern, die ihre Haine im Stich gelassen haben, während fast einem Jahrzehnt keine Unkrautvertilger mehr ausgebracht. Denn gemeinsam mit Freunden habe ich im vergangenen September auf diesen verlassenen Grundstücken entdeckt, dass der Boden fast ausschliesslich mit dem kanadischen Berufskraut überwachsen ist. Es ist eine Pionierpflanze, die gegen Glyphosat resistent ist und damit der lebende Beweis, dass massiv mit diesem Herbizid gearbeitet wurde. Das hat wohl auch den Bäumen den Rest gegeben. Der Giftverzicht ist offenbar die beste Medizin.

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