Sie sind hier

Abo

Sozialhilfe

«Ich träume davon, als Verkäuferin zu arbeiten»

Die 29-jährige Bielerin Sonja Gerber* ist Mutter eines Sohnes und von Armut betroffen. Es ist ihr grösster Wunsch, die Sozialhilfe hinter sich zu lassen. Dafür erhält sie Unterstützung von der Stadt. Das «BT» wird sie in den nächsten Monaten begleiten.

copyright: Susanne Goldschmid

Deborah Balmer


Nicht jeder hat gleich viel Glück im Leben: Sonja Gerber* ist in Biel aufgewachsen, hat hier eine Coiffeur-Lehre begonnen und wieder abgebrochen. Sie hat nochmals alle Kraft gebündelt und eine Anlehre in Angriff genommen, die sie aber wegen eines Unfalls erneut abbrechen musste.


Eine Ausbildung hat sie nie abgeschlossen. Noch bevor sie 20 Jahre alt war, ist sie in der Sozialhilfe gelandet.


Heute ist die 29-Jährige Mutter eines siebenjährigen Sohnes, alleinerziehend und muss sich im Alltag einschränken, um durchzukommen. Ferien mit ihrem Sohn etwa liegen nicht drin. 1300 Franken stehen ihr und ihrem Kind monatlich zum Leben zur Verfügung: Davon zahlt sie Telefon- und Internet-, Stromrechnungen, Kleider, manchmal einen Ausflug und natürlich das Essen. «Lieber schränke ich mich selber noch etwas stärker ein, damit ausnahmsweise ein Kinoeintritt oder ein Ausflug ins Spielparadies für mein Kind drin liegt», sagt Gerber. Sie  möchte eigentlich gerne arbeiten. Am liebsten im Verkauf, weil sie kommunikativ sei: «Ich träume davon, als Verkäuferin zu arbeiten.» Doch als Alleinerziehende machen ihr die Arbeitszeiten zu schaffen. Während sie noch im Laden stünde, käme ihr Sohn ja schon von der Tagesschule heim. Und was macht sie während des Abendverkaufs?


Erzählt offen aus dem Leben
Sonja Gerber ist eine attraktive Frau, dunkel gekleidet. Und sie erzählt offen aus ihrem Leben. Dass sie ihre erste Lehre abbrach, weil sie statt zu lernen, wie man Haare schneidet, Putzarbeiten verrichten musste. Dass sie danach in der Anlehre Pech hatte: Weil sie wegen eines Unfalls nicht mehr voll einsatzfähig war und dann die Kündigung erhielt. Eine Zeit lang arbeitete sie in einem Schmuckladen, dann in einem Call-Center. Bereits damals war sie von der Sozialhilfe abhängig. «Ich hoffte, dass das nur eine vorübergehende Unterstützung seinwird.» Doch in der Sozialhilfe blieb sie auch, als sie in Luzern lebte, wo sie einen Partner hatte. Doch die Beziehung zerbrach, und sie lernte wenig später den Vater ihres Kindes kennen, mit dem sie wieder in Biel lebte und zusammenblieb, bis der Kleine drei Jahre alt war. Als das Kind zur Welt kam, war sie knapp 22 Jahre alt.  


Eine Zeit lang war Sonja Gerber in einem Beschäftigungsprogramm für Sozialhilfebezüger drin, stellte Kärtchen her. Vor kurzem dann war sie Teil eines Wiedereingliederungsprogramms, das Biels Direktion für Soziales und Sicherheit in Partnerschaft mit dem Informations- und Beratungszentrum «Frac» Anfang 2017 gestartet hat: BIM steht für berufliche Integration für (alleinerziehende) Mütter. Das Programm setzt auf Unterstützung bei der Stellensuche und die Ausbildung der Frauen. Für Gerber hat es sich gelohnt. Im August wird sie an fünf Tagen einen Verkaufskurs einer Detailhandelsfachschule besuchen. «Ich freue mich wirklich sehr, am Ende werde ich über ein Zertifikat verfügen», sagt sie, die keine Garantie hat, dass sie eine Stelle findet und noch immer nicht weiss, wie es dann mit der Betreuung aussieht. Doch der Kurs ist ein Schritt in die richtige Richtung.


Exemplarisch für viele andere
Sonja Gerbers Geschichte steht exemplarisch für viele andere in der Stadt. Für junge alleinerziehende Frauen, die ein grosses Risiko haben, in der Sozialhilfe zu landen:So haben ganz Junge bis 25 Jahre in der Situation  kaum eine Chance, ohne Sozialhilfe über die Runden zu kommen. Auffallend ist laut einem Bericht der «Städteinitiative Sozialpolitik», dass in der Stadt Biel die Sozialhilfequote der Alleinerziehenden von über 30 Jahren nicht gleich stark zurückgeht wie in anderen Städten (siehe Infobox). In dieser Kategorie steckt noch immer fast jede zweite Alleinerziehende in der Sozialhilfe.


Über alle Altersgruppen gesehen sind in Biel über 26 Prozent aller Sozialhilfebezüger Alleinerziehende. 1683 Personen stehen demnach 6377 gegenüber, die in Biel Sozialhilfe beziehen (Stand: letzte Erhebung von 2016). Und die Hälfte der Haushalte von Alleinerziehenden ist in Biel von der Sozialhilfe abhängig. Sonja Gerber ist eine davon.


Was sind die Gründe dafür? Vielleicht, dass junge Eltern noch nicht viel Zeit hatten, sich beruflich zu festigen, geschweige denn, Ersparnisse aufzubauen. Sicher auch die Tatsache, dass in dieser Altersgruppe die Kinder noch klein sind und die Vereinbarkeit von Familie und Beruf besonders schwierig ist. Etwas, was auch Sonja Gerber im Gespräch immer wieder betont.


«Gerne unter Menschen»
Ihr Leben ist trotz Arbeitslosigkeit sehr strukturiert. Das ist nötig, um die Kontrolle zu behalten: «Man muss lernen, mit dem wenigen Geld umzugehen», sagt sie, die immer auf Aktionen achtet und bei Lidl und Aldi einkauft. Obwohl sie arm ist, möchte sie sich gesund ernähren. «Eine Bekannte ist Ernährungsberaterin und hat mir ein paar Tipps gegeben.» Statt ins Fitnesscenter zu gehen, schaute sie Fitness-DVDs zuhause.


Jeden Morgen steht sie um sieben auf, bereitet ihrem Kind das Frühstück zu, packt ihm vor der Schule ein Znüni ein. Dann schreibt sie Bewerbungen an Firmen in Biel, Grenchen und Bern. Manchmal trifft sie sich mit Freunden, «ich bin gerne unter Menschen». Hat Termine auf dem «Frac», sorgt sich um ihren Sohn.
Gerne setzt sie sich an den Bielersee und denkt an die Zukunft und wie es sein könnte, ohne Sozialhilfe durchzukommen.   


*Der Name und ein paar persönliche Angaben wurden geändert.

 

Infobox: Einelternhaushalte
In Biel sind 26.39 Prozent aller Sozialhilfebezüger alleinerziehend. Das sind total 1683 Personen (Stand 2016).
Ein noch höherer Wert weist die Stadt Chur auf, wo 30,48 Prozent aller Sozialhilfeempfänger alleinerziehend sind. Den niedrigsten Wert hat die Stadt Zürich mit 23.4 Prozent.
Die Hälfte der Haushalte von Alleinerziehenden in der Stadt Biel ist von der Sozialhilfe abhängig.Bei den 18- bis 30-Jährigen sind es sogar 67,5 Prozent, bei den über 30-Jährigen noch immer fast jeder zweite. bal

Nachrichten zu Biel »