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Biel

«Ich weiss nicht,
 weshalb wir uns streiten sollten»

Zwei Musik-und-Bewegung-Studentinnen und eine angehende Autorin leben zusammen in einer Wohngemeinschaft an der Reuchenettestrasse. Die drei jungen Frauen verstehen sich gut, haben jedoch nicht das Gefühl, einander wirklich zu kennen.

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  • Dossier

Sarah Grandjean

Auf dem Holztisch in der Küche stehen unterschiedliche Teetassen, halb abgebrannte Kerzen und ein rotes Blumengesteck in einer Vase. Vor der grün gestrichenen Wand hängen Gartenkräuter zum Trocknen an einer Schnur. Die Abwaschmaschine rauscht. Charlène Lebois (24), Gemma Girardet (24) und Louisa Merten (21) sitzen auf Holzstühlen und auf der Eckbank und essen Linzertorte.

Die drei jungen Frauen bezeichnen sich als Künstler-Wohngemeinschaft: Lebois studiert Musik und Bewegung im dritten Bachelorjahr, Girardet dasselbe im Master und Merten ist in ihrem zweiten Jahr am Literaturinstitut. Was unterscheidet eine Künstler-WG von anderen? «Es ist nie jemand daheim», antwortet Girardet. Die anderen beiden stimmen lachend zu: Tagsüber sei Merten zu Hause, am Abend Girardet und Lebois eigentlich nur nachts.

Girardet wohnt seit vier Jahren an der Reuchenettestrasse. Sie ist damals durch eine Anzeige im Internet auf die WG gestossen. Von der Wohnung waren keine Bilder aufgeschaltet worden, nur vom Garten, dazu der Text: Magierin und Musicaldarstellerin suchen Mitbewohner. Girardet zog ein. Kurz darauf wechselten ihre Mitbewohner. Diese verstanden sich anfangs gut, zerstritten sich aber bald und zogen aus. Daraufhin zog Lebois ein, die Girardet vom Studium kannte. Die beiden verschickten eine Mail über den Verteiler der Hochschule der Künste Bern und Merten bewarb sich auf das freie Zimmer. «Beim Kennenlern-Abendessen musste ich, als Kleinste von uns dreien, unter den Tisch kriechen und die Uhr hervorholen, die hinter den Radiator gefallen war», erinnert sie sich. «Da wusste ich: Es passt.»

Mehr Diskussionen
als Probleme

Merten verbringt am meisten Zeit allein in der WG, da ihre Seminare häufig erst am Nachmittag beginnen. Für sie ist das praktisch, da sie fürs Studium viel schreiben muss und sich besser konzentrieren kann, wenn es ruhig ist. «Aber ich finde es schon angenehm, abends nicht allein zu sein», sagt sie.

Am Anfang haben die drei versucht, einmal in der Woche gemeinsam zu Abend zu essen. Aber immer ist irgendetwas dazwischen gekommen, bis sie es schliesslich aufgegeben haben. Manchmal kommt es vor, dass gerade jemand am Kochen ist, wenn eine der anderen nach Hause kommt. Dann macht die Person einfach die doppelte Menge Pasta. Und wenn mal alle drei da sind, schätzen sie es, einen Moment zusammen zu sitzen, einen Tee zu trinken und zu reden.

Besuch haben sie bis auf Girardets Freund selten, höchstens mal in den Ferien. Sie haben keine gemeinsamen Freunde, kennen aber die wichtigsten Personen voneinander: den Freund von Girardet und jenen von Lebois, die Schwester von Merten.

Gleich zu Beginn haben die drei klargestellt, was sie von ihrem Zuhause erwarten. Aufgeräumt, aber nicht pingelig sauber. «Es ist erstaunlich, wie gut unsere Putzpolitik funktioniert», findet Merten. Sobald eine von ihnen Zeit habe, nehme sie einen Staubsauger oder einen Besen in die Hand, das sei selbstverständlich. Die Studentinnen haben sich so eingerichtet, dass sie flexibel sind. Beispielsweise besitzen sie zwei Wäscheständer, sodass eine ihre Sachen auch mal eine Woche lang hängen lassen kann. Und wenn jemand zu Besuch ist und über Nacht bleibt, sagen sie das einander immer.

Klar sei die Küche manchmal ein Chaos, lasse jemand Lebensmittel im Kühlschrank vergammeln oder eine Bastelarbeit auf dem Küchentisch liegen. Aber für sie alle ist klar, dass nach ein, zwei Tagen für Ordnung gesorgt wird. Manchmal finden sie es ärgerlich, wenn jemand kochen will und die Küche überstellt ist. Aber dann räumt die Person auf und kann umgekehrt auch mal eine Unordnung hinterlassen. «Heute Morgen habe ich alles stehen und liegen gelassen, weil ich es eilig hatte», sagt Lebois. «Jetzt ist die Küche sauber und ich weiss nicht mal, wer aufgeräumt hat, aber danke!»

Auseinandersetzungen zwischen den Studentinnen gibt es selten. Manchmal lösen aber Drittpersonen Diskussionen aus. So ist einmal eine Freundin von Girardet zu Besuch gewesen. Girardet hat ihr erzählt, dass sie sich darüber ärgert, dass Merten immer das Schneidebrett hinter die Spüle stellt. «Mir gegenüber hatte sie das nie erwähnt», sagt Merten, und wie so oft lachen die drei laut.

Um Streit zu haben, begegnen sie einander schlicht zu selten. «Ich weiss auch nicht, weshalb wir uns streiten sollten», so Girardet. Natürlich hätten sie auch schon laute Diskussionen geführt, aber dabei sei es um ethisch-moralische Dinge oder um Feminismus gegangen.

Das Zuhause
als Rückzugsort

Für Merten, die ursprünglich aus Bannwil im Oberaargau kommt, ist die WG mittlerweile zu ihrem Daheim geworden. Lebois aus Freiburg sagt, sie habe mehrere Zuhause. Sie sei gerne hier, aber nicht lieber als zum Beispiel bei ihren Eltern. Girardet, die aus Wolfhausen (ZH) stammt, fühlt sich an vielen Orten wohl. Aber die WG ist am ehesten ein Zuhause für sie, weil sich dort der Grossteil ihrer Dinge befindet. «Wenn mir alles zu viel wird, komme ich lieber hier hin, als zu meiner Familie oder meinem Freund zu gehen. Die WG ist für mich ein Rückzugsort», sagt sie.

Die Mitbewohnerinnen unternehmen selten etwas ausserhalb der WG zusammen. Merten war an der Vorführung von Girardets Bachelorsolo, Girardet hat eine Lesung von ihr besucht und ihr bei einem Orchesterprojekt geholfen, denn zufälligerweise spielen sie beide Cello. Zuweilen springt Girardet bei der Leitung von Lebois’ Männerchor ein, wenn diese zu viel zu tun hat.

Auf die Frage, wie die drei zueinander stehen, antwortet Lebois: «Wir sind uns nicht fremd, aber wir stehen einander auch nicht nahe.» Sie findet, das sei eine gute Voraussetzung für eine WG. Mit der besten Freundin zusammenzuziehen, stellt sie sich nicht einfach vor. Wenn eine von ihnen Schwierigkeiten hat, kann sie jederzeit mit den anderen darüber reden.

Die drei sind sich einig, dass sie sich auf eine Art sehr gut kennen und auf eine andere überhaupt nicht. «Wir kennen die Wohngewohnheiten und das Alltagsleben der anderen», so Girardet. «Aber als Wochenaufenthalter haben wir noch ein zweites Leben, an dem die anderen überhaupt nicht teilhaben.»

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