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Biel

«Ich will für andere Eritreerinnen ein Vorbild sein»

Sie hat keine Hemmungen, Tabu-Themen anzusprechen. Als «Femmes-Tisch»-Moderatorin führt Sofia Seyoum in Biel Diskussionen in eritreischen Frauenrunden.

Sofia Seyoum ist in BIel gut vernetzt. Bild: Tanja Lander
  • Dossier

Aufgezeichnet: Mengia Spahr

Wenn ich andere Eritreerinnen über ein Tabuthema wie häusliche Gewalt oder Zwangsheirat informiere, verstecken viele ihre Gesichter in den Händen und schämen sich. Oft hören sie mir zu, ohne Fragen zu stellen.

Später rufen sie mich an, weil sie gewisse Dinge unter vier Augen bereden möchten. Ich habe jedoch nicht immer Zeit Einzelgespräche zu führen und es ist ohnehin nicht meine Aufgabe, Hilfe zu bieten. Denn ich bin keine Fachfrau, ich vermittle Informationen und verteile Adressen von Anlaufstellen.

Ich bin nun schon seit zwölf Jahren eine «Femmes-Tisch»-Moderatorin und leite Diskussionsrunden für Migrantinnen, organisiert von der Fachstelle für Erwachsenen- und Elternbildung in Biel.

Regelmässig besuche ich Kurse, in denen uns Spezialistinnen über wichtige Themen informieren. Kürzlich etwa sprach eine Frau der Familienplanung über die Pubertät. Wir erhalten jeweils Materialien wie Videos, Bilder und Kontaktangaben. Die Informationen gebe ich dann an den «Femmes-Tischen» in meiner Muttersprache weiter.

Über die Kirche bin ich gut vernetzt mit der eritreischen Gemeinschaft in Biel. Für die Gesprächsrunden treffen wir uns immer bei einer Frau zuhause oder an einem öffentlichen Ort und besprechen ein bestimmtes Thema.

Wegen der Coronapandemie treffen wir uns zurzeit in kleineren Gruppen. Die Frauen nehmen ihre Kinder mit – so sind wir schnell mal elf Personen. Jemand ist jeweils für die Kinderbetreuung zuständig, damit sich die anderen auf das Gesprächsthema konzentrieren können. Manchmal gehen wir in ein Café, um zu diskutieren. Man trinkt hier Kaffee ganz anders als in Eritrea. Wir rösten und mahlen die Kaffeebohnen selber und kochen das Pulver mit Ingwer. Dazu gibt es Popcorn und man zündet Weihrauch an.

Letzten Freitag machten wir einen «Femmes-Tisch», bei dem es um digitale Medien ging. Wir sprachen über Handy, Fernseher und Computer; darüber, wie viel Zeit Kinder vor dem Bildschirm verbringen dürfen und über die Gefahren von Youtube. Da wir alle Kinder haben, ist das ein wichtiges Thema für uns.

Viele Eritreerinnen haben wenig Selbstvertrauen und sind schüchtern, weil sie nicht gut Deutsch können. Sie haben dauernd Angst, etwas falsch zu sagen oder nicht verstanden zu werden. Deshalb haben sie Hemmungen, eine Beratungsstelle aufzusuchen. Ich will für sie ein Vorbild sein, indem ich mutig bin und spreche. So rufe ich etwa an ihrer Stelle jemanden an, um Erkundigungen einzuholen. Manche bitten mich, sie an Termine zu begleiten. Ich arbeite aber auch und lebe mein eigenes Leben. Wenn ich keine Zeit habe, gebe ich ihnen alle nötigen Informationen und sage: «Ihr müsst selber für euch einstehen. Sprecht einfach. Wenn ihr etwas falsch sagt, ist das kein Problem.» Wir sprechen schliesslich nicht in unserer Muttersprache, Deutsch ist unsere Dritt- oder Viertsprache.

Ich selber spreche Tigrinisch, Amharisch, Englisch, Arabisch und Deutsch und moderiere auch «Femmes-Tische» mit Äthiopierinnen, Kenianerinnen, Uganderinnen oder Somalierinnen.

Mein Herkunftsland ist zwar Eritrea, ich bin jedoch in Äthiopien geboren und aufgewachsen. Meine Eltern konnten selber weder lesen noch schreiben und fanden es wichtig, dass wir eine gute Bildung erhalten. Als der Eritrea-Äthiopien-Krieg begann, wurden wir nach Eritrea ausgeschafft, wo ich einige Jahre lebte. 2006 kam ich in die Schweiz. Ich habe viele traurige Dinge erlebt. Was hinter mir liegt, ist aber nicht wichtig – ich schaue nach vorne, kämpfe und lasse mich nicht von Problemen stoppen.

In der Schweiz war ich zuerst in einem Asylheim in Basel, danach kam ich über Tramelan nach Biel. Meine heute zwölfjährige Tochter kam hier zur Welt, hat hier den Kindergarten besucht und geht hier zur Schule. Weil ich nur einen F-Ausweis habe, hatte ich immer wieder Mühe, Arbeit zu finden. Jetzt arbeite ich drei Tage pro Woche als Verkäuferin im Manor. Normalerweise besuche ich an den anderen zwei Tagen einen Deutschkurs, doch im Moment wird die Schule renoviert und der Unterricht fällt aus.

Heute treffe ich eine ältere Frau, die ich über die Heilsarmee kennengelernt habe. Sie hilft mir beim Lesen und Schreiben oder wenn ich einen Brief nicht verstehe. Manchmal kann ich jeden Montag zu ihr gehen, manchmal alle zwei Wochen. Als ich in die Schweiz kam, konnte ich zuerst keinen Deutschunterricht besuchen wegen meines Status, und als alleinerziehende Mutter hatte ich lange auch gar keine Zeit dafür. Erst als meine Tochter in den Kindergarten ging, habe ich angefangen, die Sprache zu lernen.

Ich schaue Filme oder die Nachrichten, um mein Deutsch zu verbessern. Das ist schwierig. Manchmal notiere ich mir Wörter, die ich nicht verstehe und schlage sie dann nach. Ich habe zum Beispiel ständig «offenbar» in den Nachrichten gehört und mich gefragt, was das wohl bedeutet.

Da ich in einer Stadt aufgewachsen bin, war nicht alles neu für mich, als ich nach Europa kam. Lernen musste ich, dass in der Schweiz Termine verbindlich sind. Bei uns kann man etwas abmachen und muss nicht hingehen, wenn man keine Zeit hat. Das ist allgemein akzeptiert. Auch merkte ich, dass das soziale Leben hier anders funktioniert. In Eritrea oder Äthiopien kann man die Nachbarn jederzeit besuchen und mit ihnen etwas trinken oder essen. Hier muss man dafür ein Treffen vereinbaren. Natürlich sind in Europa auch Essen und Trinken anders, als ich es mir gewohnt war. Meine Tochter hat einen schweizerischen Charakter und möchte meistens europäisch essen. Ein- bis zweimal pro Woche Eritreisch geht, dann reicht es ihr.

Ich bin stolz auf meine Herkunft und die eritreischen Traditionen und gleichzeitig sehr froh, in der Schweiz zu sein. Ich mag die Pünktlichkeit und finde es gut, dass es hier eine Schulpflicht gibt, eine Krankenkasse und Frauenrechte. Ich bekomme von vielen Leuten Unterstützung. Für die Zukunft wünsche ich mir, nicht mehr von Sozialleistungen abhängig zu sein und selbstständig leben zu können.

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