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Biel

Ihr grösster Wunsch: Endlich wieder arbeiten

Sie haben ihren Job verloren und sind auf Sozialhilfe angewiesen. Vier Menschen sprechen über Scham, verlorene Selbstachtung und den Wunsch nach Unabhängigkeit.

Symbolbild: Yann Staffelbach

Brigitte Jeckelmann

Ohne Arbeit und abhängig vom Sozialamt. Wie sich das anfühlt, wissen Mariam, Tenzin, Zoran und Daniel. Nicht schön, denn die anderen tuscheln, zeigen mit den Fingern auf sie und deshalb wollen die vier Menschen weder ihre Gesichter zeigen noch ihre richtigen Namen preisgeben.

Mariam, Tenzin, Zoran und Daniel, Menschen aus Eritrea, Tibet, Nordmazedonien und der Schweiz, sitzen im Aufenthaltsraum im Gebäude an der Zürichstrasse 23, am Rand von Biel, dort, wo Avenir Biel-Bienne untergebracht ist, eine Organisation, die im Auftrag der Fachstelle Arbeitsintegration Biel – Seeland stellenlose Menschen bei der Jobsuche unterstützt.

Wer in ein Programm von Avenir Biel-Bienne aufgenommen wird, der hat sich schon ein gutes Stück weit dem Arbeitsmarkt genähert. Denn hier darf nicht jeder mitmachen. Nur jene, die zuvor eine Empfehlung der städtischen Fachstelle bekommen und bei denen die Profis von Avenir Biel-Bienne bei einem Vorstellungsgespräch geprüft haben, ob sie die Aufnahmekriterien erfüllen: Sie müssen beweisen, dass sie pünktlich sind, dass man sich auf sie verlassen kann, dass sie Verantwortung übernehmen können. Und das Wichtigste: Sie müssen topmotiviert sein, sich mit aller Kraft um einen Job zu bemühen.

 

Schlimm ist die Abhängigkeit

Dazu sind die vier bereit. Denn das Schlimmste an ihrer Situation ist für alle genau dasselbe: Es sei die Abhängigkeit, nicht über sein Leben, sein Einkommen, selbstständig entscheiden zu dürfen. Das Sozialamt weiss über jeden Rappen im Portemonnaie Bescheid. Das Amt bezahlt die Krankenkasse, die Wohnung und bei manchen den Strom. Übrig bleiben für die vier monatlich 800 Franken zur freien Verfügung. Das muss reichen fürs tägliche Essen, für Kleidung und auch für soziale Teilhabe. Mal mit Freunden ein Restaurant besuchen, eine Ausstellung, ein Konzert oder Skifahren im Winter – da wirds schon schwierig. Doch damit können Mariam, Tenzin, Zoran und Daniel leben, weil sie die Hoffnung haben, bald wieder arbeiten zu können.

Alle sind über längere Zeit arbeitslos und ausgesteuert. Sie leben ausschliesslich von der Sozialhilfe. Seit zwei Wochen sind sie im Programm von Avenir Biel-Bienne. In dieser Zeit haben sie den Umgang mit dem Computer gelernt. Jede und jeder hat seinen eigenen Coach, zweimal die Woche werden Einzelgespräche geführt. Die Bewerbungsstrategie wurde individuell zuvor festgelegt. Welche Berufe haben Priorität, wie soll ich mich bewerben und wo soll ich Adressen suchen und finden?

Die Fachleute haben mit ihnen Bewerbungsdossiers erstellt, die tadellos daherkommen. Eigentlich haben sie bereits jetzt einen Job: Täglich sieben Stunden lang sind sie im vierten Stock in den Räumen von Avenir Biel-Bienne mit der Stellensuche beschäftigt. Und jeden Tag klicken sie auf dem Computer mindestens zehnmal mit der Maus auf die Taste absenden, das sind um die 50 Bewerbungen pro Woche, zwei- bis dreihundert pro Monat.

 

Fleiss zahlt sich aus

So erhöht sich die Chance auf einen Treffer. Kein Wunder beträgt die Erfolgsquote zwischen 80 und 90 Prozent, wie Alain Brenner sagt, der stellvertretende Leiter von Avenir Biel-Bienne Deutsch. Ein Erfolgsbaum an der Wand zeigt Fotos mit lachenden Gesichtern, jene, die eine Stelle gefunden und sich «hoffentlich auf Nimmerwiedersehen von uns verabschiedet haben», wie Brenner sagt.

Das ist es, was ihn für seine tägliche Arbeit motiviere, wenn Jubelrufe durch die Gänge hallen von Menschen, die mit dem neuen Job auch wieder ihre Würde zurückerhalten. Brenner betreut seit fünf Jahren Menschen bei der Jobsuche. Dabei hat er festgestellt: «Was zählt, ist der Wille, die Ausbildung ist zweitrangig.» Das kann er so behaupten, weil der grösste Teil der betreuten Personen bei Avenir Biel-Bienne ungelernt ist. Erstaunlich ist für Brenner zudem, dass die über 50-Jährigen zu den Erfolgreichsten gehören – also auch das Alter spielt eine untergeordnete Rolle.

Mariam, Tenzin, Zoran und Daniel machen kein Geheimnis daraus, dass ihnen die Arbeit bei Avenir Biel-Bienne einiges abverlangt. Doch das ist Teil des Programms. Denn es geht darum, sie auf die Realität vorzubereiten. Das wissen alle vier und deshalb strengen sie sich auch gerne an, wie sie sagen. Daniel, der einzige Schweizer, drückt es so aus: «Es ist, als ob wir wieder neu zur Schule gingen.» Daniel hat wie die anderen drei keine abgeschlossene Ausbildung. Er stammt aus einem Dorf im Seeland, ist 49 und hat sich bis jetzt mit diversen Jobs durchgeschlagen: als Hilfsarbeiter auf dem Bau, in Gärtnereien oder als Allrounder in verschiedenen Betrieben. Sein Hauptaugenmerk bei der Stellensuche gilt Jobinseraten als Betriebsmitarbeiter.

Als Schweizer ist er deutlich in der Unterzahl; rund drei Viertel aller Teilnehmerinnen und Teilnehmer bei Avenir Biel-Bienne sind Ausländer oder Schweizer mit Migrationshintergrund. Dieselbe Verteilung gilt für die Geschlechter. Der überwiegende Anteil sind Männer.

 

Traumjob im Verkauf

Mariam ist 33. Sie stammt aus Eritrea und lebt seit acht Jahren in der Schweiz. Ihre Flucht war politisch motiviert. In ihrem Heimatland ist eine repressive Diktatur an der Macht. Menschenrechtsverletzungen sind laut Amnesty International an der Tagesordnung. Mariam, eine kleine, schmale Frau, spricht mit leiser Stimme und in gut verständlichem Hochdeutsch. Ihr Traum wäre ein Job im Verkauf, als Reinigungskraft oder in der Küche. Sie ist eher ruhig und in sich gekehrt. Bei Avenir Biel-Bienne habe sie gelernt, selbstbewusster aufzutreten, «das hat mir gut getan», sagt sie.

Tenzin verliess Tibet wegen der zunehmenden Unterdrückung der Besatzungsmacht China. Tenzin, 42, blaue Trainingsjacke, arbeitete als Küchenhilfe. Im Gegensatz zu den anderen dreien lebt er seit einiger Zeit in einer Partnerschaft. Nun fehlt nur noch ein Job. Er spricht jedes Wort vorsichtig und korrekt aus. Tenzin möchte wieder in der Küche arbeiten, das würde ihm gefallen. In seiner Freizeit ist er gerne draussen in der Natur. Tenzin hadert nicht mit seiner Situation. Dass es die Sozialhilfe gibt, findet er gut: «Ich bin der Schweiz sehr dankbar dafür.»

Zoran, der Vierte im Bunde, ist 56 und vor 16 Jahren aus Nordmazedonien in die Schweiz gekommen. «Ich kam her, weil ich arbeiten wollte», sagt er in gutem Deutsch. Mit Hilfsjobs auf dem Bau konnte er bisher seinen Lebensunterhalt bestreiten, bis sein letzter Arbeitgeber Konkurs ging. Zoran empfindet sein Alter als Handicap, zeigt sich aber trotzdem optimistisch. Er ist ein fröhlicher Mensch mit blondem, schütter werdendem Haar und blauen Augen, der sagt, die Stimmung hier in der Gruppe bei Avenir Biel-Bienne sei gut und das möge er. Er würde gerne wieder auf dem Bau arbeiten, wieder selbstständig sein, wieder sein eigenes Geld verdienen.

Mariam, Tenzin, Zoran und Daniel – vier Menschen kämpfen nicht nur um die Anerkennung in der Gesellschaft, sondern auch für die eigene Selbstachtung.

Link:www.avenir-biel-bienne.ch

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Kampagne gegen Armut

Anlässlich der Kampagne «Armut bekämpfen - mois de la précarité» Folgen der Pandemie www.biel-bienne.ch - in der Suchmaske Armut verhindern eingeben.

Noch am kommenden Montag können interessierte Personen ihre Bewerbungsdossiers den Fachleuten von Avenir Biel-Bienne zur Prüfung vorlegen. Das Angebot ist offen für alle, die ihren Lebenslauf und ihre Bewerbungsstrategie verbessern möchten. Anmeldungen per Telefon: 032 513 65 13 oder per Mail an nina.heuer@avenir-biel-bienne.ch. bjg

Stichwörter: Arbeit, Region, Wunsch, Sozialhilfe

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