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Frauenstimmrecht

Im Märchenland

Bis heute wird behauptet, die Schweiz sei seit 1848 eine Demokratie. Dabei hat sie bis vor 50 Jahren der Hälfte der Bevölkerung das Stimmrecht vorenthalten. Zeit, die Geschichte neu zu erzählen.

Illustration: Serafine Frey
Lukas Rau
 
D ie Schweiz ist ein Märchenland. Aber nicht, weil sie irgendwie märchenhaft schön wäre, sondern weil man sich hier gerne Märchen erzählt, an sie glaubt und wütend wird auf diejenigen, die diese Märchen nicht glauben wollen.
Eines der Lieblingsmärchen des Eidgenossen ist die Geschichte, dass die Schweiz eine alte Demokratie sei. Ist sie nicht. Denn während über 120 von 170 Jahren seit der Gründung des Bundesstaates wurde rund der Hälfte der erwachsenen Bevölkerung das Recht auf politische Teilhabe vorenthalten, mit Lügen, dreckigen Tricks, Gewalt und Verschleppung des politischen Prozesses. 1848 wurden die Frauen ausgeschlossen und den Männern per Gesetz untergeordnet. Weit über ein Jahrhundert ihrer Geschichte als Republik gab es in der Schweiz eine 100-Prozent-Männerquote – klar, dass nicht die Kompetentesten am Ruder waren, die kompetenten Frauen durften ja nicht mitmachen. Und das hat sich mit dem 7. Februar 1971 nicht schlagartig geändert. Noch immer sind Frauen allent-halben in der Minderheit, ihre Sicht auf die Gesellschaft ist nicht gerecht repräsentiert. Der Prozess der Gleichstellung ist noch lange nicht abgeschlossen, wie der Frauenstreik im Juni 2019 gezeigt hat. Die Löhne. Die Betreuung. Und so weiter.
Bis heute wird darüber gestritten, ob geschlechtergerechte Sprache nötig sei oder nicht, also ob der männliche Lesefluss wichtiger ist als die Präsenz der Frau in der Sprache. Das war auch 1923 ein Thema, als der Frauenrechtler Léonard Jenni beim Bundesgericht anfragte, ob denn beim Begriff «Stimmbürger» in der Verfassung die Frauen nicht mitgemeint seien? Wie sonst eigentlich auch überall? Kurioserweise stellte sich heraus, dass dem nicht so war. Die Frauen waren mal mitgemeint, mal nicht, pure Willkür. Unterdrückerische Systeme lieben solche Doppelbödigkeiten.
Es ist ein Beispiel von vielen.
Wenn im eidgenössischen Demokratiemärchen ein Fabeltier vorkäme, dann wäre es Gorpsi, der geistige Wiederkäuer. Immer wieder kaut er dieselben Gedanken durch, immer wieder kommt dasselbe aus seinem Mund. Gorpsi gorpst und sagt: «Nicht ich bin das Märchen. Du bist das Märchen. Was du spürst und siehst, ist falsch.»
 
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Rational ist die Diskussion über geschlechtergerechte Sprache noch immer nicht. Schreibweisen, die eine Wiederholung unnötig machen würden wie das Gendersternchen oder der Gender-Doppelpunkt, wurden dermassen emotional aufgeladen und verteufelt, dass kein vernünftiger Austausch mehr möglich ist. Geschlechtergerechte Sprache wird gerne als grosser Witz dargestellt, etwas völlig Übertriebenes, das man den Frauen jetzt halt grosszügig zugesteht, damit sie endlich mal den Schnabel halten. War es nicht beim Stimmrecht auch schon so?
Gleichstellung und Geschlechtergerechtigkeit ins Lächerliche zu ziehen ist beinahe ein Volkssport, nicht nur im Märchenland Schweiz.
Bei der Amtseinführung von Kamala Harris als erster Vizepräsidentin der USA fiel einigen Männern reflexartig nichts Besseres ein, als sie mit Popstar Jennifer Lopez zu vergleichen. Natürlich, wird gesagt, meinen wir das nicht ernst! Natürlich nicht, nein! Aber trotzdem bleibt die unterschwellige Botschaft: Sie gefällt, also darf sie. Angela Merkel wird gerne als Mutti bezeichnet: Sie kümmert sich, also darf sie. Sie darf, der Mann erlaubt es, denn er kann einordnen. 
Frauen wie Harris und Merkel, kompetent, resilient, kampfstark und machtbewusst, passen nämlich nicht ins Frauenbild des Patriarchats, mit den Attributen Mutti und sexy Popstar werden sie etwas greifbarer und erträglicher.
Es sind Zuckungen des Patriarchats. Letzte müde Gorpse. So müde war es nicht immer.
«Nicht ich bin das Märchen. Du bist das Märchen.»
 
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Wie war es denn früher? Wie war es vor 100 Jahren? Wie war es, als Frau in der Schweiz aufzuwachsen, von der ersten Sekunde des Lebens auf die Aufgabe als Lust- und Heiratsobjekt und selbstlose Dienerin und Pflegerin vorbereitet zu werden? Auf Aufgaben, die viele Frauen übernehmen mussten, obwohl sie ihren Persönlichkeiten und Talenten zutiefst widerstrebten? Ein Leben, in dem keine Zeit für sich selbst blieb, man für Mann und Kinder ständig verfügbar sein musste? Wie konnte eine Frau in diesem Umfeld mit sich selbst vereinbaren, für Frauenrechte zu kämpfen, wie hielt sie diese inneren Spannungen und Widersprüche aus? Wenn einem die Geschlechtsgenossinnen in den Rücken fielen, die sich in dieser Lage wohl und wertgeschätzt fühlten? Viele Frauenrechtlerinnen haben einen sehr hohen Preis für ihr Engagement bezahlt.
Den Kämpferinnen für Frauenrechte wurde und wird in den beiden grundlegenden Pfeilern, von denen oftmals ihr anerzogenes Selbstwertgefühl abhängt, nämlich Attraktivität und die Fähigkeit, sich um andere zu kümmern, Schwäche vorgeworfen. Die Feministin, die ihre Kinder alleine lässt. Die hässliche Emanze. Noch heute werden diese Bilder verwendet. Es spiegelt sich in der schönen Harris und der sich kümmernden Merkel.
Es ist wohl kein Zufall, dass eines der schlagkräftigsten Netzwerke im Kampf für Frauenrechte in der Schweiz von einem lesbischen Liebespaar organisiert wurde. Homosexuelle Frauen bewegen sich weitgehend ausserhalb der Reichweite des Patriarchats, dessen Zuschreibungen greifen bei Lesben anders als bei heterosexuellen Frauen. Darum werden homosexuelle Paare oft gefragt, wer denn der Mann in der Beziehung sei. Die Frage ist eigentlich: Helft mir bitte, euch in mein Weltbild einzuordnen, wer ist bei euch der Boss?
Wie war und ist es für verheiratete Frauen, die sich mit dem Kampf für Frauenrechte identifizierten? Wenn zuhause immer noch jemand ist, der sich weder selber ernähren noch einkleiden kann und sich trotzdem für die Krone der Schöpfung hält? Der auf Kritik nicht mit Reflexion, sondern mit Selbstmitleid, Drohungen oder Gewalt reagiert? Der Ehemann, der seine Frau domestizieren muss, damit er vor sich selbst und anderen als Mann gelten kann? Wie war und ist es, wenn der Elefant im Raum angesprochen wird?
Wie kann sich in dieser Suppe aus kultureller Unterdrückung Widerstand bilden? Wie kann man sich für sein Recht einsetzen, wenn einem gesagt wird, dass die Männer einem doch einen Gefallen tun, indem sie sich um die «wirklichen» Probleme kümmern? Wenn einem als Frau völlig selbstverständlich klargemacht wird, dass man sich unterzuordnen hat, dass die eigene Meinung nicht so viel zählt wie die eines Mannes, dass man weniger Wert ist?
Ich kenne die Antworten auf diese Fragen nicht. Die richtige Geschichte der Schweizer Demokratie wurde mir nie erzählt, auch nicht von den Frauen in meiner Familie. Es wäre mir auch nie in den Sinn gekommen, zu fragen. Es war kein Thema. Es wurde so getan, als ob das Frauenstimmrecht von selbst gekommen wäre. Ich bin mit dem Märchen von der Urschweiz als Proto-Demokratie aufgewachsen, der Story von den selbstlosen Landesvätern, die sich ab 1291 um alles kümmerten. Heute weiss ich, dass es sich dabei um einen Haufen Brutalo-Bergbauern handelte, die einfach ihre geografische Lage geschickt ausspielten und einen Bund schlossen, wie er um diese Zeit in Europa nichts Spezielles war. Demokratie liegt uns nicht in den Genen. Im Gegenteil, auch hier wurde sie erkämpft.
Als Kind der 1980er-Jahre habe ich die Sprüche über Frauen ungefiltert vorgebetet bekommen und selbst wiederholt, ich bin im Bewusstsein aufgewachsen, dass ich als Mann immer das letzte Wort haben würde. Noch heute bekommt man die Sprüche als Mann manchmal noch leise zugegorpst, häufig mit dem selbstmitleidigen Verweis, dass man es ja nicht mehr laut gorpsen dürfe.
«Nicht ich bin das Märchen. Du bist das Märchen.»
 
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Ich denke an diesem Wochenende an Frauen, die im Kampf für Rechte und Gleichstellung zerstört wurden. Frauen wie die Autorin Iris von Roten, die mit «Frauen im Laufgitter» 1958 für einen Skandal gesorgt hatte. Ihre Ansichten wurden vom Patriarchat in Grund und Boden gecancelt, über 60 Jahre, bevor der erste Mann zur besten Sendezeit über Cancel Culture gejammert hat. Ihre Person wurde zum Sündenbock gemacht. Von Roten wurde die Schuld an der Ablehnung des Frauenstimmrechts bei der Abstimmung von 1959 gegeben. Klar, wer sollte auch sonst schuld sein, wenn Männer abstimmen, wenn nicht eine Frau? Dieses Märchen ist wirklich nur mit Sarkasmus auszuhalten. Von Roten hat sich später das Leben genommen. Vielleicht als letzter verzweifelter Akt der Selbstermächtigung, ich weiss es nicht.
Ich denke an all die Frauen, die nicht lockergelassen haben und noch immer nicht lockerlassen, nach Niederlagen weitergemacht haben und weitermachen. Die arrogant behandelt und fertiggemacht wurden und werden.
Aber ich denke auch an alle Frauen, die leise lebten, obwohl sie spürten, dass etwas nicht stimmte. Die sich in ihr Schicksal fügten, nachdem sie die Kälte und Brutalität des Patriarchats zu spüren bekamen. Von Männern, die von klein auf gelernt hatten, dass ein wichtiger Teil von Männlichkeit sei, sich anderen und sich selbst gegenüber rücksichtslos zu verhalten. Von Männern, wie auch ich einer geworden wäre, ein kleiner Gorpsi. Wenn nicht als «Kollateralschaden» der Frauenbefreiung auch die mir vom Patriarchat zugeordnete Geschlechterrolle aufgeweicht worden wäre. Und von vielen Frauen und Männern weiter aufgeweicht wird, diverser und lebenswerter gemacht wird. Ist die traditionelle Rollenverteilung deswegen schlecht? Nein. Sie ist aber auch nicht gut. Sie ist einfach eine Variante, die sich in einer Beziehung ergeben kann, die im Idealfall auf Augenhöhe ausgehandelt wird.
«Nein, Gorpsi. Du bist das Märchen. Was ich spüre und sehe, ist wahr.»
Es ist Zeit, dass wir mit den Märchen aufhören, mit diesen lächerlichen Storys von der Urdemokratie Schweiz. Dass die Wahrheit ans Licht kommt und die Geschichten über die Menschen erzählt werden, die der Schweiz endlich zur Demokratie verholfen haben: den Feministinnen und Feministen.
Stichwörter: Frauenstimmrecht

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