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Wochenkommentar

Immer 
die alten Fragen

«Mann, bist du imstande gerecht zu sein?» Olympe de Gouges ist wütend, als sie 1791 ein Manifest für die Sache der Frau verfasst.

Alice Henkes, Ressortleiterin Kultur und Fokus

Die Männer machen Revolution. Sie wollen die Gesellschaft umkrempeln. Den Schwachen und Unterdrückten zu ihrem Recht verhelfen. Aber die Frauen vergessen sie dabei. Olympe de Gouges, die temperamentvolle Frauenrechtlerin aus dem französischen Süden hat aber keine Lust, nur daneben zu stehen und zuzugucken, wie die Männer sich die Welt neu einrichten, und schreibt: «Mann, bist du imstande gerecht zu sein? Es ist eine Frau, die dir diese Frage stellt; dieses Recht wenigstens kannst du ihr nicht nehmen. Sage mir, wer hat dir die souveräne Macht verliehen, mein Geschlecht zu unterdrücken?»

Das sind starke Worte, die sich bis heute gut lesen. Und die – das ist allerdings kein Grund zur Freude – ihre Aktualität nicht verloren haben. Denn das Phänomen, das Männer die Welt verändern, gemeinsam mit anderen Männern, aber leider nur für andere Männer, das hat sich in der Geschichte mit schöner Regelmässigkeit wiederholt. Zum Beispiel 1968. Der ganz grosse gesellschaftliche Umsturz. Von vielen auch als Beginn der modernen feministischen Bewegung gefeiert. Die Historikerin Christina von Hodenberg stellt in ihrem Buch «Das andere Achtundsechzig» gar die These auf, der Anteil der Frauen an der Revolte werde bis heute unterschätzt. Es seien die Frauen gewesen, die die grossen Veränderungen in den Familienstrukturen, den Geschlechterbeziehungen und Autoritätsverhältnissen ins Rollen gebracht hätten.

Dem widersprechen zahlreiche Berichte von Frauen, die sich an 68 als eine Zeit der politischen Diskussionen und Aktionen, der Wohn- und Beziehungsexperimente erinnern. Und daran, dass das Kochen, Abwaschen, Kinderversorgen von den Frauen übernommen wurde. Mit Hausarbeit schreibt man sich nicht in Geschichtsbücher ein. Im Umkehrschluss heisst das: Geschichte wurde auch 1968 noch von Männern gemacht. Und nicht nur die Politik war auch lange nach 1968 noch in männlicher Hand. Auch und vor allem die Wirtschaft. Frauen wurden und werden noch heute in vielen Branchen schlechter bezahlt als Männer. Und es ist keineswegs so, dass diese Einkommensunterschiede sich alle mit unterschiedlichen Arbeitsbereichen oder Ausbildungswegen wegdiskutieren liessen, wie von männlich-konservativer Seite gern behauptet wird. Mehr noch, Frauen verdienen nicht nur nach wie vor weniger als ihre männlichen Kollegen, sie müssen obendrein für bestimmte Dienstleistungen auch noch mehr bezahlen als Männer. Beim Coiffeur zum Beispiel. Warum das so ist? Aus Liebe zur Tradition vermutlich. Und zum Geld. Das Motto Lohngleichheit war also gut gewählt für die gewerkschaftliche 1. Mai-Feier in diesem Jahr. Preisgleichheit liesse sich noch hinzufügen. Und die Frage, die Olympe de Gouges schon vor über 220 Jahren gestellt hat: «Mann, bist du imstande gerecht zu sein?» Auch wenn es nervt, dass man das immer noch fragen muss.

E-Mail: ahenkes@bielertagblatt.ch

 

 

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