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Biel

IV-Rente dank vorgetäuschten Symptomen?

Eine heute 54-jährige Bielerin soll sich bei der Invalidenversicherung des Kantons Bern über Jahre hinweg eine Rente erschlichen haben. Aber sie habe nicht nur den Staat, so die Anklage, um viel Geld betrogen.

Hat eine Bielerin unrechtmässig während Jahren eine IV-Rente bezogen? Dieser Frage geht derzeit das Regionalgericht nach (Symbolbild). Keystone

Lino Schaeren

Diese Woche muss sich eine Bielerin vor dem Regionalgericht Berner Jura-Seeland wegen IV-Betrugs und Widerhandlungen gegen das Bundesgesetz über die Invalidenversicherung verantworten. Sie soll laut der Anklageschrift mehrfach bei ärztlichen Untersuchungen Symptome vorgetäuscht und eine Verbesserung ihres Gesundheitszustandes nicht bei der IV-Stelle des Kantons gemeldet haben. Durch ihre Täuschungen habe die IV über die Arbeitsunfähigkeit der Beschuldigten geirrt, und habe dieser rund 225 000 Franken ausbezahlt, die ihr nicht zugestanden seien.

Der heute 54-Jährigen wird zudem Betrug, Veruntreuung, Hehlerei, Misswirtschaft und ordnungswidrige Führung der Geschäftsbücher vorgeworfen. Die Beschuldigte bestreitet die Vorwürfe kategorisch. Wird sie vom Regionalgericht in Dreierbesetzung gemäss der Anklage verurteilt, droht ihr eine mehrjährige Haftstrafe.

 

Detektive auf sie angesetzt
Die Mutter von vier Kindern bezog seit 1998 eine IV-Rente. Dies wegen Rückenbeschwerden, wie gestern vor dem Regionalgericht deutlich wurde. Die Staatsanwaltschaft geht nun aber davon aus, dass die Beschuldigte spätestens seit 2008 wieder arbeitsfähig gewesen wäre, dies aber nicht pflichtgemäss gemeldet hat. Die angeklagten Punkte mit Bezug auf die Invalidenversicherung beziehen sich alle auf den Zeitraum von 2004 bis 2011. Als die IV misstrauisch wurde, hat sie die Bielerin observieren lassen. Soll heissen: Sie hat Detektive auf sie angesetzt, um sie in Situationen zu erwischen, in denen sie – sich unbeobachtet fühlend – ein Verhalten an den Tag legte, das ihr Gesundheitszustand eigentlich nicht zulassen sollte.

Dabei kam die IV-Stelle offensichtlich zum Schluss, dass die Rentenbezügerin ihre Arbeitsunfähigkeit nur vortäuscht. Auch eine gestern als Zeugin vorgeladene Polizistin hielt nach einer Hausdurchsuchung im Jahr 2012 in einem Rapport fest, dass die Beschuldigte während der Durchsuchung mehrfach ihren damals fünfjährigen Sohn mit gekrümmtem Rücken aufgenommen und diesen über lange Zeit auf dem Arm gehalten habe. Erst sehr spät habe sie ihrem Kind den Wunsch, auf den Arm genommen zu werden, verweigert, so heisst es in dem Rapport. Ihr sei in diesem Moment wohl die Anwesenheit der Polizei bewusst geworden. Die Polizei hatte das Haus durchsucht, um allfällige Beweise für eine Arbeitstätigkeit der Beschuldigten sicherzustellen.

Gearbeitet hat die mutmassliche IV-Betrügerin tatsächlich. So hat sie zwischen 2010 und 2012 die Bauleitung bei einer Totalsanierung von einem Mehrfamilienhaus innegehabt. Die Liegenschaft gehörte ihrer eigenen Firma zusammen mit einer weiteren Privatperson. Über ihrer Immobilienfirma sollte dann 2015 der Konkurs eröffnet werden, in diesem Zusammenhang steht die Anklage wegen Misswirtschaft und ordnungswidrige Führung der Geschäftsbücher. Über ihre Aufgaben auf dem Bau sagte die Beschuldigte mit Bezug auf ihren Gesundheitszustand: Sie habe nicht nach der Schaufel gegriffen, sondern lediglich zum Rechten geschaut. Die IV-Bezügerin hat aber auch ihren Nachbarn, einen älteren, schwerkranken Mann, während fast drei Jahren betreut.

 

Aufbewahrt oder ausgegeben?
Und genau hier beginnt die zweite Geschichte in diesem Prozess. Denn um eine weitaus höhere Deliktssumme als beim IV-Betrug geht es in einem weiteren Punkt der Anklageschrift. Der Angeklagten wird vorgeworfen, bei eben jenem älteren Mann, dem Vater ihres Ex-Freundes, Geld zur Aufbewahrung entgegengenommen zu haben. Sie habe sich laut Anklage zur Rückzahlung verpflichtet, sie sei aber «von Anfang an nicht gewillt» gewesen, «ihrer Rückzahlungspflicht nachzukommen». Die Staatsanwaltschaft geht insgesamt von 740 000 Franken aus, die die Beschuldigte zu eigenen Zwecken verwendet haben soll. Dies zum Schaden der Erben ihres Opfers – denn ihr pflegebedürftiger Nachbar verstarb bereits im Jahr 2006.

Vor Gericht verneinte die Bielerin die Deliktssumme von 740 000 Franken konsequent, sie habe lediglich 450 000 Franken zur Aufbewahrung erhalten. Und überhaupt: Das Geld habe sie nehmen sollen, um dieses vor den gierigen Erben ihres Nachbarn, darunter ihr Ex-Freund, zu verstecken. Bei der gestrigen Einvernahme vor Gericht beteuerte die Beschuldigte vorerst, sie habe die 450 000 Franken in vier Tranchen bar zurückgezahlt, viermal 100 000 Franken, einmal 50 000 Franken.

Von dieser Geschichte schwenkte sie aber nur Minuten später ab, als ihr Verteidiger sie fragte, woher sie denn die Mittel genommen habe, um das Geld zurückzubezahlen. Darauf sagte seine Mandantin, dass sie nun ein Versprechen ihrerseits brechen müsse. Sie habe zwar gegenüber jenen, die in das nun Kommende involviert waren, beteuert, dies nicht zu tun, «doch ich muss das nun sagen, wenn ich so direkt gefragt werde». Eine Inszenierung? Die Geschichte, die dann folgte, wirkte auf den Zuhörer jedenfalls einigermassen abenteuerlich.

 

Plötzlich ein neuer Geldgeber
So will die Beschuldigte plötzlich nicht mehr jenes Geld in bar zurückgezahlt haben, welches ihr Nachbar ihr ursprünglich überwiesen hatte. Dies sei ja nicht möglich gewesen, sagte sie, weil sonst der Geldfluss für seine Erben ersichtlich gewesen wäre. Vielmehr habe sie das Geld gütigerweise von einem weiteren Nachbarn, einem langjährigen Freund ihres Auftraggebers, erhalten, um es dann weiterzugeben. Dieser Mann sei alleinstehend und wohlhabend gewesen.

Dieser neue angebliche Geldgeber kam offenbar an der gestrigen Gerichtsverhandlung im Laufe der langen Untersuchung erstmals überhaupt ins Spiel. Bestätigen wird er die Geschichte aber nicht mehr können, nach Angaben der Beschuldigten sei er vor fünf Monaten verstorben. Auch kann sie keine schriftliche Bestätigung des Geldtransfers vorweisen, weil es keine Quittung gibt. Dies begründete die Angeklagte damit, dass sie davon ausgegangen sei, dass es sich um Schwarzgeld gehandelt habe – denn der Mann sei selber im Besitz eines Rennpferds gewesen und habe auf Pferderennen gewettet. Für sie sei es also völlig logisch gewesen, bei der Entgegennahme des Bargeldes auf ein schriftliches Festhalten zu verzichten.

Doch was ist denn mit jenem Geld passiert, dass der Mann, den die Beschuldigte pflegte, ihr zur Aufbewahrung anvertraut hatte? Dieses, so die neue Darstellung, will sie ja für die Rückzahlung nicht mehr angerührt haben. Dazu wollte sich die Angeklagte vor Gericht nicht äussern. Das Geld sei heute jedenfalls nicht mehr auf ihrem Konto, sagte sie lediglich, «was damit passiert ist, ist nicht Gegenstand dieser Verhandlung». Denn ihre Schuld habe sie beglichen, wenn auch mit dem Geld des zweiten Nachbarn.

Heute stehen in dem Verfahren vor dem Regionalgericht nun weitere Zeugenbefragungen und die Plädoyers auf dem Programm. Das Urteil für die Bielerin wird voraussichtlich am Donnerstag eröffnet. Es gilt die Unschuldsvermutung.

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