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Mein Montag

«Keine Zeit dafür, schlecht gelaunt zu sein»

Luc Nyffenegger geht in der Rolle des Lehrers auf. Der 24-Jährige ist als Lehrerassistent und Sportlehrer an der Schule Balainen in Nidau und der Schule Dorf in Lengnau angestellt, obwohl er mit der Ausbildung noch gar nicht begonnen hat.

Sport ist das einzige Fach, das Luc Nyffenegger regelmässig alleine an der Schule Balainen in Nidau unterrichtet. Bei den anderen Fächern ist er als Lehrerassistent dabei. Bild: Nico Kobel

Aufgezeichnet: Hannah Frei

Wer steht montags schon gerne früh auf? Ich jedenfalls nicht. Eigentlich. Aber montags habe ich keine Zeit dafür, schlecht gelaunt zu sein, auch wenn ich es manchmal wäre. Den typischen Montagmorgen, wie ich ihn in den Büros vor meiner Zeit als Lehrerassistent erlebt habe, gibt es für mich heute nicht mehr. Keine träge Minute vor dem Computer, keine langweiligen Arbeiten, keine repetitiven Aufgaben mehr. Auch wenn ich wie so oft noch etwas müde aufwache – sobald die Schülerinnen und Schüler im Klassenzimmer eintreffen, ist die Müdigkeit verflogen. Mir bleibt kaum Zeit, über meine Sorgen nachzudenken. Eine Frage folgt der anderen: Herr Nyffenegger, wie war ihr Wochenende? Herr Nyffenegger, weshalb haben Sie Ihre Haare nicht gestylt? Und wenn sich auf meiner Stirn auch nur eine einzige Runzel bildet, kommt gleich die Frage: Herr Nyffenegger, sind Sie genervt? Spätestens dann bin ich es sicherlich nicht mehr.

Ich lebe den ganz gewöhnlichen Alltag eines Lehrers: Montags beginnt der Unterricht an der Schule Dorf in Lengnau um 8.05 Uhr. Eine Lektion Deutsch, 5. Klasse. Eine Lektion Englisch, 7. Klasse. Zwei Lektionen Sport, 5. Klasse. Mittag. Eine Lektion Deutsch, danach eine Mathematik, beides 7. Klasse. Eine Lektion Bio-Chemie-Physik, ebenfalls 7. Klasse. Und schliesslich noch eine Lektion Englisch, dieselbe Klasse.

Aber eigentlich bin ich gar kein Lehrer. Ich bin einer von denen, die unterrichten, ohne eine Lehrerausbildung abgeschlossen zu haben. Ehrlich gesagt habe ich sie noch nicht einmal angefangen. Zurzeit besuche ich den Vorbereitungskurs für die Prüfung, um an die Pädagogische Hochschule Bern zu gelangen. Die findet diesen Sommer statt. Ich bin also kein Lehrer, sondern Lehrerassistent. Das heisst, ich unterstütze die Lehrperson während des Unterrichts, trage aber nicht die Hauptverantwortung. Auch die Vor- und Nachbereitung übernehmen die Lehrer. Nur selten bringe ich eigene Themen ein und bin dann für diese verantwortlich. Ausser im Sport. Denn Sport unterrichte ich alleine. Ich bin auch froh, dass ich in den anderen Fächern nicht alleine bin. Nur im Sport fühle ich mich bisher auch wirklich sicher und kompetent. Während zehn Jahren spielte ich bei den EHCB-Junioren. Und daneben war das Tennisspielen meine grosse Leidenschaft. Das ist es auch heute noch. Gemeinsam mit meinem älteren Bruder spiele ich im Sommer mindestens zweimal pro Woche im Tennisclub Schlossmatte. Vor diesem Hintergrund kann ich sagen, dass ich den Schülern einen ausgewogenen Sportunterricht bieten kann. Da kann ich dahinter stehen.

Ich werde oft gefragt, ob es nicht schwierig sei, zu unterrichten, ohne die Lehrerausbildung abgeschlossen zu haben. Klar, ich verstehe die Zweifel. Aber mal ehrlich: Was wäre die Alternative? Besser so, als wenn die Schüler ohne Lehrperson dastehen würden.

Obwohl ich den Lehrermangel im Kanton sehr bedenklich finde, birgt er für mich eine grosse Chance. Die Chance, bereits als Unerfahrener in den Alltag als Lehrer eintauchen zu können. Es ist also ein perfektes Praktikum für mich, das eigentlich gar keines ist. Denn ich erhalte zwar nicht den vollen Lohn eines Lehrers, aber auch keinen Praktikantenlohn. Ich liege da irgendwo dazwischen. Doch wie kommt einer dazu, ohne Erfahrung als Lehrerassistent zu arbeiten?

Angefangen hat alles im letzten April, als mein ehemaliger Lehrer an der Schule Balainen, Stephan Völlmin, eine Stellvertretung für zwei Wochen suchte. 8. Klasse, Sekundar. Mit Völlmin hatte ich auch nach meiner Schulzeit immer wieder Kontakt. Und so stand ich dort zum ersten Mal vor einer Klasse, in meiner alten Schule. In den ersten Tagen fühlte ich mich wie bei einem Vortrag damals in meiner Schulzeit: Der ganze Körper zittert, die Hände werden feucht, die Stimme ist unsicher. Aber bereits nach ein paar Tagen legte sich diese Nervosität, und ich ging auf, ich wurde zum Lehrer, quasi über Nacht. Nicht, was meine Fähigkeiten und mein Wissen anbelangt. Es war einfach ein Gefühl. Meine Sorgen, meine Ängste rückten in den Hintergrund. Was zählte, waren nur noch die Jugendlichen und das, was ich ihnen mitgeben kann. Und dann stand für mich fest: Ich will Lehrer werden.

Kurz nach der Zeit als Stellvertreter suchte dann auch die Schule Dorf in Lengnau dringend Lehrkräfte. Die Schule Balainen empfahl mich. Mich, ohne Ausbildung, mit zwei Wochen Erfahrung. Das machte nochmals deutlich, wie gross der Lehrermangel bereits geworden ist. Und auch heute ist die Schule Dorf wieder auf der Suche nach Lehrpersonen.

Ich fühlte mich geehrt, hatte aber auch Bedenken, ob ich dies schaffen werde. Schliesslich ging es dort um die Stellvertretung des Lehrers der 6. Klasse während fünf Wochen. Aber ich sagte zu und bereue es bis heute keineswegs. Ich bin dankbar, dass ich von der Schule Dorf diese Chance erhalten habe. Und danach wollte ich gleich bleiben. Gemeinsam mit dem Schulleiter Simon Laederach suchte ich eine Möglichkeit, nach den Sommerferien dort weiterzuarbeiten. Und so wurde meine Stelle geschaffen. Seither bin ich dort als Lehrerassistent angestellt und in der Schule Balainen als Sportlehrer.

Die Arbeit als Oberstufenlehrer ist ganz anders als all die Arbeiten, die ich bis dahin kannte. Und gesehen habe ich so einiges. Nach der Handelsmittelschule an der Alpenstrasse machte ich ein Berufsmaturitätspraktikum bei den SBB. Controlling, also Finanzüberwachung. Nichts gegen die SBB. Aber dort ist mir fast der Kopf eingeschlafen. Ausser beim Töggelen oder Kaffeetrinken. Bürojobs sind nichts für mich. Auch die Arbeit bei der Uhrenfirma Xantia SA, bei der ich anschliessend ein Jahr angestellt war, hat mich nicht befriedigt. Lehrreich war es aber trotzdem, denn dort konnte ich meine Französischkenntnisse erweitern. Lange war ich unsicher, welchen Weg ich einschlagen solle. Doch dann kam der Zivildienst, den ich in der Jugendarbeit Nidau (Janu) absolvierte. Dort stellte ich fest, dass ich gerne mit Jugendlichen arbeite. Nebenbei besuchte ich die gymnasiale Maturität für Erwachsene – zumindest eine Zeit lang. Doch dann stellte ich fest, dass ich eigentlich nicht so der Samstagsschüler bin. Freitagabends hatte ich immer andere Dinge zu tun, als mich auf den Unterricht am nächsten Tag vorzubereiten. Bis zur Matur habe ich dies nicht durchgehalten. Ah, und bevor ich es vergesse: Ich arbeitete nebenbei auch noch als Gärtner bei Heinrich Keller in Sutz. Das war ein toller Job und Herr Keller ein grossartiger Chef, aber diese Arbeit war nichts, was ich längerfristig hätte machen wollen. Ich wollte etwas tun, was nicht nur mich weiterbringt, sondern mit dem ich auch andere weiterbringe. Und dann kam eben diese Anfrage von Stephan Völlmin. Seither ist er mein Mentor, der mich auf meinem Weg, Lehrer zu werden, begleitet. Dafür bin ich sehr dankbar.

Mit Jugendlichen ist jeder Tag anders. Sie sind unberechenbar. Und ich erfahre von ihnen, was gerade «in» ist. Beispielsweise die Wörter «Flex» und «Ehrenmann». In jedem zweiten Satz kommen sie vor. Aber eigentlich sagen die Jugendlichen häufig nur einzelne Wörter, keine ganzen Sätze. Weiter bin ich immer darüber im Bild, welcher Tanz im Videospiel «Fortnite» gerade angesagt ist. Manchmal hüpfen sie durch das Klassenzimmer und führen ihn mir vor.

Man könnte nun denken, ich wisse ja noch gar nicht, wie stressig der Lehreralltag sein kann. Denn ich befinde mich zurzeit ja noch in einer geschützten Umgebung, ohne grosse Verantwortung und ohne die Vor- und Nachbereitung machen zu müssen. Aber ich bin je länger desto mehr überzeugt, dass sich meine Leidenschaft und die Freude am Unterricht auch später nicht ändern werden, wenn ich als vollwertiger Lehrer arbeiten werde.

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