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Biel

«Kinder haben meist gute Strategien»

Das Care Team des Kantons Bern hat sich beim Unfall im Hallenbad des Bieler Kongresshauses um Lehrpersonen und Angehörige gekümmert. Irmela Moser aus Täuffelen, die Leiterin des Care Teams, gibt Einblick in dessen Arbeit.

Irmela Moser ist zuständig für die Schulung der Mitarbeitenden des Care Teams. Bild: Matthias Käser

Brigitte Jeckelmann

Biel: Kind nach Badeunfall verstorben. Die Meldung der Kantonspolizei Bern vom 17. September umschreibt in knappen Worten ein Drama: Im Hallenbad des Kongresshauses wurde ein achtjähriges Mädchen regungslos im Wasser gesichtet und geborgen. Trotz sofortiger Reanimation noch im Hallenbad und dem Einsatz der Rega starb das Kind später im Spital.

Am 1. September in Pieterlen: Autofahrer nach Kollision mit Anhänger verstorben. Ein Auto geriet mitten im Dorf auf die Gegenfahrbahn und prallte in den Anhänger eines entgegenkommenden Fahrzeugs. Der Lenker des Geisterfahrzeugs wurde in seinem Auto eingeklemmt. Ein Passant leistete Erste Hilfe. Polizei, Ambulanz, Feuerwehr und die Rega waren vor Ort. Doch dem Mann, einem 58-jährigen Italiener, war nicht mehr zu helfen, er verstarb noch am Unfallort.

18. Dezember im letzten Jahr, bei Moutier: Mann abgestürzt und verstorben. Er wollte vom Graitery in Richtung Moutier hinuntersteigen, als er über einen Felsen abstürzte. Die Begleiter leisteten erste Hilfe. Die Rega flog den Verunfallten ins Spital. Dort starb der 34-Jährige. «Für die Betreuung betroffener Personen stand das Care Team Kanton Bern im Einsatz», steht jeweils im untersten Abschnitt der Polizeimeldungen. Doch wer arbeitet eigentlich beim Care Team, und wie stehen dessen Mitglieder den Betroffenen bei?

Angehörige brauchen Betreuung

Das Care Team Kanton Bern leistet jährlich rund 500 Einsätze und besteht aus derzeit 180 freiwilligen Mitarbeitenden aus den verschiedensten Berufen wie Pflegefachleute, Psychologinnen, Sozialarbeiterinnen, Lehrpersonen, Theologen, sogar ein Lastwagenchauffeur ist mit dabei. Feuerwehr, Polizei oder Ambulanz bieten sie bei Ereignissen auf, wenn Angehörige, Zeugen oder Hilfeleistende unter Schock stehen und nicht mehr handlungsfähig sind.

Im Fokus der Einsatzkräfte der Blaulichtorganisationen stehen die Verunfallten, der Brand oder die Opfer eines Verbrechens. Angehörige und Helfer bleiben auf der Strecke. Doch auch sie benötigen Betreuung, weil sie selber durch das Erlebte unter Schock stehen. Die Betreuerinnen und Betreuer des Care Teams füllen mit ihrer Arbeit eine Lücke, indem sie sich um diese Betroffenen kümmern. Sie beruhigen sie und versuchen mit bestimmten Gesprächstaktiken, wieder Ordnung in ihre Gedanken zu bringen. So umschreibt Irmela Moser die Tätigkeit des Teams. Die Seeländerin ist seit vier Jahren Leiterin des Care Teams Kanton Bern. Zuvor war die Theologin Pfarrerin bei den Kirchgemeinden Siselen-Finsterhennen und Erlach-Tschugg. Sie ist auch zuständig für die Schulung der Freiwilligen, die aus je rund 20 Tagen Theorie und Praxis besteht. Irmela Moser sagt, die Ausbildung der interessierten Personen spiele keine grosse Rolle. «Wichtiger ist, dass jemand viel Einfühlungsvermögen und ein Flair für Menschen mitbringt.»

Doch die schlimmen Situationen seien auch für die ausgebildeten Nothelferinnen und -helfer belastend. Wie geht das Team damit um? Wichtig sei auch hier die Struktur, sagt Irmela Moser. Die Mitglieder lernen in der Ausbildung, wie sie an die Ereignisse herangehen und auch, wie sie sie abschliessen. Nach jedem Dienst werden die Einsätze im Abschlussgespräch besprochen und so überprüft, ob diese vielleicht schlecht verarbeitet werden können. Den Mitgliedern steht Supervision, entweder allein mit dem Supervisor oder in einer Gruppe mit anderen Mitgliedern, offen. «Aus jedem Einsatz können wir viel lernen», sagt Irmela Moser. Trotz der emotionalen Belastung der Ereignisse empfinden die Mitglieder des Care Teams die Arbeit laut Moser als sehr sinnstiftend und mit viel Wertschätzung verbunden.

Sie selbst ist praktisch seit der Gründung des Care Teams im Kanton Bern mit dabei. Anlass dazu war der tragische Unfall 1999 im Saxetenbach im Berner Oberland. 23 Menschen im Alter zwischen 19 und 31 Jahren kamen durch eine Flutwelle ums Leben. Die Opfer waren Touristen aus Neuseeland und Australien. Die Angehörigen mussten die Toten identifizieren. Sie kamen an den Unfallort, verzweifelt in ihrer Trauer und benötigten psychologische Hilfe, damals als Notfallseelsorge von den Kirchen zur Verfügung gestellt. Der ehemalige Belper Pfarrer Bernhard Stähli gründete als Folge das Care Team Kanton Bern. Denn es war klar: Angehörige benötigen in Katastrophenfällen zusätzliche Begleitung. Heute gibt es Care Teams in allen Schweizer Kantonen. Trägerschaft sind verschiedene kirchliche Institutionen, der Bund und die Kantone.

Schockierten Lehrern beistehen

Bei Unfällen, an denen Gruppen beteiligt sind, eruieren die Helferinnen als Erstes, wer dem Opfer am nächsten stand. Denn diese Menschen sind laut Irmela Moser stärker vom Ereignis betroffen als jene, die das Opfer nicht so gut gekannt hatten. Bei Kindern fallen ihr zufolge die Reaktionen auf ein Unglück oft «natürlich richtig aus», sagt sie, und: «Kinder haben gute Strategien.» Erwachsene machten sich zumeist zu viele Sorgen darum, wie es ihnen geht.

Sind Schulklassen betroffen, sind es nach den Erfahrungen der Expertin vor allem die schockierten Lehrpersonen, die Unterstützung benötigen. Dabei gehe es etwa um Fragen, wie die Schulleitung und die Eltern zu informieren sind. Kommen Eltern und Angehörige auf Platz, kümmert sich das Care Team auch um sie oder beschäftigt die Kinder, um sie abzulenken. Auch hier gehe es darum, herauszufinden, welche Kinder dem Opfer am nächsten standen.

Eltern und Lehrpersonen bekommen dann Tipps, worauf in den nächsten Tagen zu achten ist. Zieht sich das Kind zurück? Oder wirkt es nervös und kann sich schlecht konzentrieren? Dies können gemäss Irmela Moser Anzeichen dafür sein, sich an weitere Fachpersonen zu wenden wie zum Beispiel den Kinderarzt oder die Schulpsychologin. «Luft verschaffen, die Hektik herunterschrauben», so bezeichnet Irmela Moser zusammenfassend die Tätigkeit des Teams. Bei Kindern empfiehlt sie vor allem, ihnen reinen Wein über das Geschehene einzuschenken und nicht um den Brei herum zu reden. Dies in der falschen Absicht, das Kind zu schützen. «Sie merken, dass man sie anlügt und das ist für sie das Schlimmste», sagt sie.

Die Freiwilligen des Care Teams Kanton Bern sind rund um die Uhr einsatzbereit. Wochenweise sind Dreierteams im Pikettdienst. Sie schlafen zuhause und müssen jederzeit damit rechnen, aus dem Bett geklingelt zu werden. Dann treffen sie auf Menschen im Schockzustand nach einem Ereignis, das deren Leben auf den Kopf stellt.

Ereignis verdrängt alles andere

Wie Irmela Moser erklärt, äussert sich ein Schock bei jedem Menschen anders: Manche verfallen in Weinkrämpfe, andere in Starre, sagen, sie fühlen nichts. Es kommt auch vor, dass sie das Zeitgefühl verlieren. Wenige Minuten Wartezeit auf die Ambulanz erscheinen ihnen wie Stunden. Manche beschreiben, wie das Ereignis wieder und wieder in Zeitlupe an ihrem inneren Auge vorbeizieht oder wie Schreie ständig in ihren Ohren tönen. Sinneswahrnehmungen verschieben sich. Es wird ihnen nicht bewusst, dass sie frieren, wenn sie mitten im Winter nachts im T-Shirt draussen stehen.

Irmela Moser drückt es so aus: «Die Betroffenen sind völlig von dem Ereignis vereinnahmt, alles andere tritt in den Hintergrund.» Mit all dem komme das Care Team zurecht, sagt Irmela Moser. Das Team führe aber keinerlei medizinische Behandlungen durch. Wenn jemand zusammenbricht oder das Bewusstsein verliert, alarmieren die Betreuerinnen die Ambulanz oder den Notfallpsychiater.

Oft geht nach Aussage von Irmela Moser im Schockzustand bei den Betroffenen vergessen, welche Tätigkeiten sie eigentlich hätten ausführen wollen. Das Ereignis hat die Erinnerung gelöscht. Das Care Team kann dann helfen, den Faden wieder aufzunehmen: Eine Mutter erinnert sich, dass sie das Mittagessen kochen oder ein Kind von der Schule abholen wollte. Irmela Moser beschreibt die Betreuung des Care Teams als «ein Geländer für Betroffene, an dem sie sich festhalten und orientieren können». Eine praktische Hilfe, um wieder im Alltag anzukommen. Dazu gehört ebenso, den Leuten zu erklären, dass ihre Stressreaktionen ganz normal sind, und dass sich dies bald wieder legen wird.

Das Care Team Kanton Bern kommt ausschliesslich beim Ereignis selbst zum Einsatz. In der Regel dauern diese Einsätze maximal einige Stunden. Für die Zeit danach sind andere Fachleute zuständig, falls nötig. Das Care Team gibt Ratschläge für den Fall, dass Schocksymptome anhalten. Dann ist die Hilfe einer Ärztin, eines Psychologen oder einer Seelsorgerin angezeigt.

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