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Kleine Listen stellen grosse Forderungen: Kirche und Staat trennen – das Recht auf Bleibe – Sitze auslosen

Sie kommen aus der politischen Mitte und von ganz links: Die Piraten und Freidenker, die Liste Loswahl.ch und die Partei der Arbeit. Inhaltlich verbindet sie wenig. Gemeinsam aber ist ihnen, dass sie die Grossratswahlen nutzen, um ihre zentralen Anliegen zu propagieren.

Judith Schmid und Rolf Zbinden aus Biel wollen für die Partei der Arbeit in den Grossen Rat. Bild: Peter Staub
  • Dossier

Peter Staub


Dass sie kleine Parteien oder Organisationen für die Wahlen in den Grossen Rat vertreten, bedeutet nicht, dass es sich bei ihnen um Langweiler oder Unbekannte handelt. So kandidieren für die Liste Loswahl.ch und die der Partei der Arbeit (PdA) je eine  Stadträtin aus Biel. Und für die Piraten und Freidenker tritt der Lysser Lehrer Valentin Abgottspon als Spitzenkandidat an. Falls  sein Name Erinnerungen wecken sollte, wäre dies kein Zufall. Der bekennende Freidenker machte im Jahr 2010 national und international Schlagzeilen, weil er im Kanton Wallis als Lehrer einer staatlichen Schule entlassen wurde: Er hatte sich geweigert, in seiner Schulstube ein Kruzifix aufzuhängen.  

Inhaltlich haben die drei hier vorgestellten Listen wenig gemeinsam, wobei die Loswahl.ch und die Piraten und Freidenker in der politischen Mitte und die erklärten Kommunisten der PdA am linken Rand des politischen Spektrums anzusiedeln sind.


Keine Annahme der Wahl
Man darf sie mit Fug und Recht als Einthemen-Liste bezeichnen, die Loswahl.ch. Obwohl ihre Kandidatin Ruth Tennenbaum für die örtliche Bürgerbewegung Passerelle im Bieler Stadtrat sitzt und dort ein weites Spektrum an politischen Inhalten vertritt, geht es bei ihrer Kandidatur für den Grossen Rat nur um Eines: Propaganda für die Idee, zumindest Teile der hiesigen Parlamente durch eine Loswahl zu vergeben. Zu diesem Thema lancierte die Passerelle unlängst einen Vorstoss im Bieler Stadtrat (das BT berichtete). «Wir sind überzeugt, dass eine Loswahl das richtige Instrument für eine lebendige Demokratie wäre», sagt Tennenbaum.

Folgerichtig würde die 59-jährige Projektmanagerin eine allfällige Wahl ins kantonale Parlament nicht annehmen. Der Sitz würde per Los an eine stimmberechtigte Person im Kanton Bern vergeben. Die Passerelle startet aus diesem Grund einen Aufruf, dass interessierte Leute sich melden können. Aus diesem Topf würde dann per Los eine Person ausgewählt. Interessierte Personen müssen sich allerdings zu den drei Grundwerten der Passerelle bekennen: «Soziale Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit, Demokratie und politische Partizipation sowie gegen jegliche Diskriminierung sein.»

Die Chancen, dass dieses politische Novum in der Schweiz Tatsache wird, sind allerdings sehr klein. Loswahl.ch ist keine Listenverbindung eingegangen. Und da Tennenbaum die einzige Kandidatin auf der Liste ist, wird sie obwohl kumuliert, kaum auf die für eine Wahl nötige Stimmenzahl kommen.

Für Tennenbaum wäre gar eine leere Liste die logische Konsequenz für eine Loswahl gewesen, dies ging von Gesetzes wegen jedoch nicht. «Deshalb habe ich mich als Vertreterin dieser Idee zur Verfügung gestellt», sagt sie. Dass Ruth Tennenbaum die einzige Kandidatin ist, war aber eher ein Zufall. Um eine längere Liste mit anderen «freien» Kandidaten aufzustellen, habe die Zeit nicht mehr gereicht, sagt Tennenbaum: «Wir haben uns relativ kurzfristig entschieden, überhaupt eine Liste einzugeben.» Deshalb habe es auch nicht geklappt, eine Liste per Loswahl zusammenzustellen.

Dass aber die Passerelle hinter der Liste Loswahl.ch steht, ist kein Geheimnis. Die Liste werde entsprechend auf ihrer Website beworben, sagt Tennenbaum. Sonst werde sich die Werbung aber im Rahmen halten. Für die Wahlunterlagen wird ein Flyer produziert und in Biel nimmt die Liste die öffentlichen Plakatwände in Anspruch. «Mehr machen wir nicht», sagt Tennenbaum.


«Wir sind keine Sektierer»
Mit einem ganz anderen Anspruch treten die Linksaussen der PdA zu den Grossratswahlen an. Ihnen geht es auch, aber nicht nur darum, Ideem zu propagieren, sie wollen die Gesellschaft verändern. Für langjährige Beobachter der linken Politik fällt auf, dass die PdA im Seeland mit der SP und den Grünen eine Listenverbindung eingegangen sind. Das insofern erstaunlich, weil während Jahrzehnten mehr Hass als Liebe die Kommunisten und die Sozialdemokraten verband.

«Wir sind keine Sektierer», sagt dazu Rolf Zbinden, der vor seinem Umzug nach Biel acht Jahre lang für die PdA im Berner Stadtparlament sass. National bekannt wurde Zbinden, als er sich am 6. Oktober 2007 an vorderster Front an einer unbewilligten Demonstration gegen eine SVP-Kundgebung in Bern beteiligte. Diese Gegendemo artete in Gewalt aus. Zbinden war auf publizierten Fotos zu sehen, auf denen er ein Transparent mit dem Slogan «Welcome to hell» trug.  2008 wurde er wegen Gewalt und Drohung gegen Beamte verurteilt, was dazu führte, dass er seine Teilzeitstelle als Berufsschullehrer in Bern verlor. Obwohl unterdessen 65-jährig bezeichnet sich Zbinden nicht als Rentner, denn er unterrichtet noch immer an der Berufsschule für Gestaltung in Zürich.

Spitzenkandidatin der PdA im Seeland ist aber die Bieler Stadträtin Judith Schmid. Die 33-jährige gelernte Grafikerin arbeitet Teilzeit als politische Sekretärin bei der Gruppe für eine Schweiz ohne Armee (GSoA) und studiert Islamwissenschaften. «Bei den aktuellen Mehrheitsverhältnissen im Kantonsparlament können wir es nicht zulassen, dass linke Stimmen verloren gehen», begründet sie die Listenverbindung mit der SP und den Grünen. Schliesslich habe auch die SP keine Berührungsängste gezeigt, sagen Zbinden und Schmid.

Als Ziele definiert Schmid die drei Punkte, die auch auf den Wahlprospekten der PdA stehen: «Recht auf Bildung, Recht auf soziale Sicherheit und Recht auf Bleibe.» Das bedeute tatsächlich ein Bleiberecht für alle, die in die Schweiz kamen und hierbleiben wollen, erklärt sie auf Nachfrage. Zum Recht auf soziale Sicherheit gehöre auch das Recht auf Wohnen. Es sei wichtig, dass sie nicht einfach gegen etwas seien, sagt Zbinden. Man habe bewusst positive Ziele formuliert. Vor allem der kommunale Wohnungsbau hat es der PdA angetan. Hier unterscheide sich die Partei auch klar von der SP oder den Grünen, die etwa bei Agglolac keine geschlossene Position verträten, sagt Schmid.

Für die Wahlen hat sich die PdA im Seeland einen Sitz als Ziel gesetzt. Über eine allfällige Fraktionszugehörigkeit würde eine kantonale Mitgliederversammlung entscheiden. Auf der Liste befinden sich neben PdA-Mitglieder auch politisch aktive Sympathisanten. 


Vom «Vatikanton» nach Lyss
Der Spitzenkandidat der Liste Piraten und Freidenker aus Lyss bezeichnet sich selber nicht in erster Linie als Pirat: «Ich sehe mich vor allem als Freidenker, als Humanist und weltlicher Mensch», sagt Valentin Abgottspon, der auch Abdankungsreden hält und Hochzeitsfeiern gestaltet. Deshalb möchte der Vizepräsident der Freidenker-Vereinigung der Schweiz vor allem auch die Diskussion über die Trennung von Kirche und Staat wieder in Schwung bringen. «Wie weltlich soll die Schule sein, wie viel Einfluss darf die Kirche haben?», fragt er. Wie er dazu steht, zeigt sich in seiner eingangs erwähnten Geschichte im Wallis, dem «Vatikanton», wie er sagt. Aber nicht nur die Präsenz der Kirche in Schulstuben ist für Abgottspon ein Thema. Auch die Finanzierung der Kirchen interessiert ihn. Wobei: «Ich bin nicht grundsätzlich antireligiös», sagt er. Wenn sich die Religionen an die Menschenrechte halten und wenn nicht alle für die Religionen mitbezahlen müssten, habe er mit Religionen kein Problem.

Auf die Liste der Piraten ist er gekommen, weil er dafür eine entsprechende Anfrage erhielt. Um beim Thema Trennung von Kirche und Staat etwas zu bewegen. Die Liste habe keine grossen finanziellen Mittel, um eine Kampagne zu führen, da auch die Freidenkervereinigung als NGO für die Konfessionsfreien nicht über viel Geld verfüge. Dafür repräsentiere er eine «riesige Bevölkerungsgruppe», die Religionen kritisch beurteile und religiösen Extremismus oder die Finanzierung der Kirchen durch die Allgemeinheit ablehne. Deshalb sieht er sich auch nicht bloss als Vertreter einer Kleinpartei, sondern als Vertreter einer sehr grossen Minderheit, wenn nicht einer Mehrheit.

Der 38-jährige Oberstufenlehrer findet auch andere Themen, die mit den Piraten in Verbindung gebracht werden, wichtig: Datenschutz und Fragezeichen hinter der Tendenz zum Überwachungsstaat. «Da stehe ich voll dahinter», sagt Abgottspon. Es gebe es für ihn bei den Piraten keine Forderungen, hinter denen er nicht stehe.

«Ich wurde schon einige Male von Parteien gefragt, ob ich für sie aktiv würde, da ich durch meine Geschichte eine relativ bekannte Person bin», erzählt Abgottspon. Aber trotz vieler Berührungspunkten habe ihn bei den Sozialdemokraten beispielsweise gestört, dass etwa von deren Präsidenten gefordert werde, dass man den Islam als «Landeskirche» anerkennen und mit Geld und Privilegien fördern solle. Weil er grundsätzlich dagegen ist, dass der Staat religiöse Gemeinschaften anders behandelt als zivilgesellschaftliche Kräfte, hätte er hier einen Spagat machen müssen, der bei den Piraten nicht nötig sei.

Abgottspon war bisher parteipolitisch nicht aktiv, obwohl er sich als sehr politisch denkenden Menschen bezeichnet. Ihn habe schon immer interessiert, wie die Gesellschaft funktioniere. Die Wahlchancen will er nicht beurteilen. Aufgrund des knappen Budgets werde es wohl nur wenige Plakate geben. Dafür bringe die Liste interessante Themen aufs Tapet.

Info: Das «Bieler Tagblatt» berichtet nicht über einzelne Wahlveranstaltungen. Aber das BT veröffentlicht ein- bis zweimal pro Woche Hinweise dazu. Damit eine Publikation garantiert ist, müssen Vorschauen auf Wahlveranstaltungen spätestens eine Woche vor dem Termin eintreffen.

E-Mail: region@bielertagblatt.ch Stichwort: «Wahlen»
 

Stichwörter: Kantonale Wahlen

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