Sie sind hier

Abo

Biel

An Kneubühls Gefährlichkeit scheiden sich Experten-Geister

Gestern wurde am Regionalgericht über die Verwahrung von Peter Hans Kneubühl verhandelt – in Abwesenheit des Rentners, der 2010 ganz Biel in Atem hielt. Er weigerte sich, vor Gericht zu erscheinen.

Eine handvoll Kneubühl-Unterstützer protestierte vor dem Amthaus gegen den angeblichen «Justiz-Skandal». Bild: Mattia Coda
  • Dossier

Lino Schaeren

Am Regionalgericht in Biel wird über die Verwahrung von Peter Hans Kneubühl entschieden. Zum Auftakt war gestern das Interesse enorm, jeder Platz im Gerichtssaal in Biel war besetzt. Bis auf einen. Einer ist nicht gekommen: Peter Hans Kneubühl. Er habe vom Regionalgericht Thun Bescheid erhalten, dass sich Kneubühl weigere, an der Verhandlung teilzunehmen, sagte Gerichtspräsident Markus Gross. Kneubühl protestiert mit seinem Fernbleiben gegen die Justiz. 2013 und 2014 wurde er durch alle Instanzen wegen versuchter vorsätzlicher Tötung und Gefährdung des Lebens verurteilt. Die Gerichte kamen allerdings zum Schluss, dass der heute 76-Jährige unter einer schweren wahnhaften Störung leide und deshalb schuldunfähig sei. Für Kneubühl wurde deshalb eine stationäre therapeutische Massnahme angeordnet – die er nie angetreten hat. Auch wenn er rechtskräftig verurteilt ist, akzeptiert Kneubühl das Verdikt nicht. Er fordert nach wie vor, dass sein Fall neu aufgerollt wird.

Erfolg mit Hungerstreik

Dass der 76-Jährige gestern aus Protest lieber im Gefängnis ausharrte, passt ins Bild seines Kampfes gegen die Behörden und Institutionen. 2010 hielt er während mehrerer Tage ganz Biel in Atem: Weil seine Liegenschaft im Bieler Lindenquartier öffentlich versteigert werden sollte, verschanzte er sich in seinen vier Wänden. Die Räumung des Hauses ging auf einen Erbschaftsstreit mit seiner Schwester zurück. Nachdem die Kontaktaufnahme durch die Polizei scheiterte, gab Kneubühl mehrere Schüsse auf die Beamten ab, verletzte einen Polizisten schwer am Kopf. Danach gelang dem Rentner die Flucht, trotz Grossaufgebot wurde er erst neun Tage später gefasst. Bis heute behauptet Kneubühl, dass er von den Polizisten angegriffen worden sei, nicht umgekehrt.

Weil Kneubühl nach seiner Verurteilung jegliche Therapie ablehnte, versuchten die Bewährungs- und Vollzugsdienste 2017, ihn auf dem Thorberg im normalen Strafvollzug unterzubringen. Dagegen wehrte sich der Verweigerer erfolgreich mittels Hungerstreik, die Behörden gaben letztlich seiner Forderung nach und verlegten ihn zurück ins Regionalgefängnis.

Dort wähnt sich Kneubühl – wie vor seiner Verurteilung – in Untersuchungshaft. Er wolle so lange in Untersuchungshaft bleiben, bis sein Fall richtig untersucht werde, sagte Kneubühl im Oktober 2017 gegenüber dem BT. Er forderte für die Aufarbeitung die Einsetzung einer parlamentarischen Untersuchungskommission (PUK), des höchsten politischen Untersuchungsgremiums in der Schweiz. Da eine Therapie aussichtslos war, hoben die Vollzugsdienste die stationäre Massnahme 2018 auf und beantragten bei Gericht die Verwahrung des Rentners. Seither sitzt Kneubühl in Sicherheitshaft.

«Rückfallrisiko gering»

Sein Hungerstreik hat Kneubühl 2017 auch auf die Bewachungsstation des Inselspitals in Bern gebracht. Dort traf er auf Werner Strik, Klinikdirektor bei den Universitären Psychiatrischen Diensten Bern (UPD). Dieser sorgte gestern am Regionalgericht in Biel für Aufsehen: Als Zeuge geladen, relativierte er die Gefährlichkeit Kneubühls, dem in Gutachten aufgrund seiner Wahnvorstellungen stets ein grosses Rückfallrisiko attestiert wurde. Strik sagte, die Diagnose der wahnhaften Störung sei falsch.

Werner Strik und sein Team behandelten und beobachteten Kneubühl auf der Station Etoine der UPD «fast sechs Monate während 24 Stunden am Tag», wie der Psychiatrieprofessor ausführte. In seiner gutachtlichen Stellungnahme diagnostizierte er Kneubühl eine schizoide Persönlichkeit, nicht aber Wahnvorstellungen. «So, wie wir Peter Hans Kneubühl kennengelernt haben, ist er ungefährlich, sofern er nicht in die Enge gedrängt wird», sagte er gestern auf die Frage von Gerichtspräsident Gross, was passieren würde, wenn man Kneubühl heute freilassen würde.

Strik kritisierte das forensisch-psychiatrische Gutachten von Elmar Habermeyer, Direktor der Klinik für Forensische Psychiatrie an der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich. Dieser hatte sein Gutachten alleine aufgrund der Akten erstellen müssen – da sich Kneubühl weigerte, mit ihm zu sprechen. Strik hingegen hat nach eigenen Angaben während Kneubühls Aufenthalt in der UPD drei dokumentierte und einige weitere Gespräche mit ihm geführt. Vor Gericht sagte er: Aufgrund der Akten könne man durchaus zum Schluss kommen, dass Kneubühl unter einer wahnhaften Störung leide. Im Gespräch relativiere er aber viele seiner schriftlichen, pointieren Aussagen. Das Rückfallrisiko sei gering, findet Strik, solange der Bieler Rentner nicht mit behördlichen Anweisungen konfrontiert werde, die er als unverhältnismässig erachte. Strik sagt, er erachte eine engmaschige Begleitung durch eine Fachperson als angebracht. Kneubühl, glaubt er, würde zwar nicht verstehen, wieso eine solche nötig sei. Er würde sie aber akzeptieren.

Er fühlt sich verfolgt

Gutachter Habermeyer widersprach Strik vor Gericht praktisch auf der ganzen Linie, hielt an seiner Diagnose einer anhaltenden wahnhaften Störung fest. Alles, sagte er, hänge mit dem Grundkonflikt zwischen Kneubühl und seiner Schwester zusammen. Habermeyer verwies darauf, dass Kneubühl bereits seit 1992 davon ausgehe, dass er kontinuierlich überwacht werde. Dass er glaube, der Staatsschutz habe verhindern wollen, dass er sich im Kanton Bern niederlasse. Dass er den Kontakt zu allen Bekannten abgebrochen und seine Stelle als Lehrer gekündigt habe, aus Angst, im Klassenzimmer verhaftet zu werden. Das Problem, so Habermeyer, sei, dass Kneubühl nach wie vor nicht anerkenne, dass er krank sei. «Die Fronten haben sich in den letzten Jahren sogar noch weiter verhärtet.»

Der Gutachter sieht eine grosse Rückfallgefahr. Er glaubt: Würde Kneubühl freigelassen, befände er sich schnell wieder in derselben Lage wie vor den fatalen Entwicklungen im September 2010. «Er würde sich rasch wieder unter Druck gesetzt fühlen von der Polizei und der Justiz», so Habermeyer. Dies auch durch alltägliche Handlungen, welche die allermeisten Menschen als unproblematisch ansehen würden. Er nennt zwei Beispiele aus den Tagebüchern Kneubühls: Dieser sei bei jeder Überwachungskamera im öffentlichen Raum davon ausgegangen, dass diese nur wegen ihm dort angebracht worden sei. Und auch offenkundige Tierspuren in seinem Garten habe er als Zeichen dafür gewertet, dass er überwacht werde.

Das eigentlich Tragische, sagte der Gutachter, sei, dass sich Kneubühl krankheitsbedingt in einer Notlage befinde. Seine Symptome würden verhindern, dass er mit den Behörden kooperiere. «Er hat das Vertrauen in die staatlichen Institutionen verloren. Das Problem ist, dass jetzt genau diese Institutionen über seinen weiteren Werdegang entscheiden müssen.»

«Ein Therapiebericht»

Als Vertreter der Bewährungs- und Vollzugsdienste beantragte Markus D’Angelo die Verwahrung. Er mass der gutachtlichen Stellungnahme von Strik kein Gewicht bei: Dieser habe den zu Beurteilenden behandelt, was für einen Gutachter nicht gehe. «Strik und sein Team haben sich stark eingesetzt für Kneubühl. Das ist keine gutachtliche Stellungnahme, sondern viel mehr ein Therapiebericht», sagte er. Auch Staatsanwalt Manus Widmer meinte: «Strik fehlt die kritische Distanz zu Kneubühl.» Widmer sagte, dass der Rentner nach wie vor gefangen sei in seinen Wahnvorstellungen. «Jeder Behördenvertreter oder Arzt, der über ihn eine Beurteilung abgibt, wird in sein Wahnsystem eingebaut.» Kneubühl glaube nach wie vor an eine koordinierte Intrige, eine politische Verschwörung.

«Eine Ausnahmesituation»

Kneubühl selber kam aufgrund seines Fernbleibens nur indirekt zu Wort. Er liess über seinen Anwalt Sascha Schürch ausrichten, dass der Antrag auf Verwahrung abzuweisen und die Sicherheitshaft aufzuheben sei. Damit würde er wieder auf freien Fuss gesetzt. Schürch argumentierte, sein Mandant habe sich 2010 in einer absoluten Ausnahmesituation befunden. Um bei einer Zwangsräumung die Nerven zu verlieren, müsse man nicht unbedingt psychisch krank sein. Ihm seien andere Fälle bekannt, bei denen es bei Räumungen zu Gewalttaten gekommen sei. Schürch sagte, es sei bei einer Freilassung nicht anzunehmen, dass Kneubühl je wieder in eine solche Extremsituation wie 2010 geraten könnte. Das Haus sei jetzt ja weg. «Dass sich ein solches Ereignis wiederholen könnte, kann also mit grosser Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden.»

Kneubühl dürfte auch heute Nachmittag, wenn Markus Gross den Gerichtsentscheid über seine Verwahrung verlesen wird, nicht im Bieler Amtshaus anwesend sein. Wohl aber seine Unterstützer. Der 69-jährige Johannes Zweifel aus Meinisberg, der Kneubühl seit Jahren regelmässig im Gefängnis besucht, veranstaltete gestern vor dem Gerichtsgebäude eine Art stillen Protest. Mit einem speziellen Gefährt und einem Transparent machte er darauf aufmerksam, dass aus seiner Sicht dem Bieler Rentner durch die Justiz Unrecht widerfahre.

Nachrichten zu Biel »