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Mein Montag

«Meine Frau vergisst, manchmal auch mich»

René Blank arbeitete als Matrose, Grenzwächter, Polizist und war 20 Jahre lang Leiter der Stiftung Battenberg in Biel.
In den 70er-Jahren sass er für die SVP im Bieler Stadtrat. Heute kümmert sich der 85-Jährige um das, was er am meisten liebt: Seine Frau.

René Blank lebt seit vier Jahren in einer Alterswohnung des Seelandheims in Worben. Bild: Jonathan Liechti
  • Dossier

Aufgezeichnet: Hannah Frei

«Dreimal pro Woche gehe ich für meine Frau Madelaine Früchte einkaufen. Diejenigen, die im Seelandheim nicht zur Verfügung stehen. Erdbeeren, Kirschen, Äpfel, was gerade reif ist. Mir ist es wichtig, dass sie genügend Früchte zu sich nimmt. Ohne Anleitung ist sie eher nicht in der Lage, genügend Früchte zu essen. Denn sie vergisst vieles. Manchmal auch mich. Sie hat seit circa zehn Jahren Demenz. Wir essen jeden Abend zusammen. Und dann mache ich sie bereit fürs Bett. Aber nach dem Abendessen bin ich für sie meist nur noch ein Pfleger. Denn abends erkennt sie mich meistens nicht mehr. Mittlerweile habe ich mich daran gewöhnt.

Zum Schlafen gehe ich in meine eigene Wohnung, eine der Alterswohnungen im Seelandheim. Meine Frau hingegen bleibt auf der stationären Abteilung. Denn sie braucht viel Betreuung und Unterstützung, mehr noch, als ich ihr bieten könnte. Ich bin sehr froh darüber, dass wir im Seelandheim einen Platz gefunden haben. Einen Ort, an dem wir zwar getrennt, aber auch ganz nahe sein können. Ganz im Sinne des Betriebszieles des Seelandheimes in Worben, ‹In Würde alt sein›, und dank der Zusammenarbeit mit einem tollen Team in der Wohngruppe können wir dies eben tun.

All das, was ich noch machen kann, mache ich für sie. Das ist heute meine Aufgabe. Meine Frau hat mich so lange unterstützt, bei der Arbeit, im Alltag. Sie hat die Kinder aufgezogen, hat auch nebenbei noch gearbeitet und ich war oft weg. Nun ist es an der Zeit, dass ich ihr etwas zurückgebe. Ich denke, dem Lebenspartner in Not gegenüber ist das eine Pflicht.

Aber morgens bin ich meist für mich. Mein Tag beginnt mit der Haut- und Darmpflege – mittels Frühstück. Abends lege ich jeweils Weizen und geschrotete Leinsamen ein. Über Nacht wird daraus ein Brei. Und den gibt es dann zum Frühstück. Das mache ich schon zirka seit 30 Jahren.

Kochen tu ich eher selten. Lieber gehe ich in die Cafeteria oder auch mal auswärts mit Freunden. Gute Kontakte habe ich viele. Und meine Familie ist gross: vier Kinder, zehn Enkel und etwa gleich viele Grossenkel. Meine Kinder wohnen alle im Kanton Bern, doch eher in Richtung Emmental. Auch ich bin kein gebürtiger Seeländer. Erst 1963 zogen wir nach Biel. Geboren bin ich im aargauischen Schöftland. Dort wuchs ich als Einzelkind bei meiner Mutter auf. Meinen Vater habe ich nicht gekannt. Das kam, weil die Sägerei, die er von seinem Vater übernommen hatte, aufgrund der ersten Krise der Volksbank pleiteging. Mein Vater verfiel dem Alkohol, meiner Mutter war dies alles zu viel, sie verliess ihn und nahm mich mit. Ich war damals noch sehr jung, noch an ihrer Brust.

Bis in meinem letzten Schuljahr habe ich meinen Vater nicht mehr gesehen. Doch eines Tages, als ich im Welschland mit meiner Bauernfamilie beim Heuen war, sass ich zum ‹Z’vieri› plötzlich neben ihm. Weder ich noch er hatten einander gekannt. Der Patron musste uns aufklären. Wir waren überrascht, beide, aber meine Freude darüber hielt sich in Grenzen. Es hatte ja bisher auch ohne meinen Vater funktioniert. Zwischen uns entstand dann eine lose Kameradschaft, würde ich mal sagen.

Eigentlich hätte ich ja Maschinenbauer werden wollen. Ich hatte auch bereits einen Lehrstellenplatz. Aber dann besuchte ich einen Anlass der Jungen Kirche, der reformierten Kirche Payerne. Und dort haben zwei Schiffsführer der damaligen Schweizerischen Reederei AG einen Diavortrag gehalten. Sie wollten junge Leute von ihrem Beruf überzeugen. Und bei mir hat das funktioniert. Ich fing an, mich für die Schifffahrt zu interessieren. Die beiden sagten damals, dass die Landesversorgung der Schweiz infolge der Kriegswirren nicht mehr funktioniere. Die Reederei hatte den Auftrag des Bundes, die Transportwege zur See und weiter auf dem Rhein neu zu organisieren. Das brauchte Schiffe und entsprechend ausgebildete Mannschaften. Da wollte ich dabei sein. So absolvierte ich die offizielle dreijährige Lehre zum Matrosen auf verschiedenen Schiffen und durchlief dreimal
17 Wochen Ausbildung auf dem Schulschiff ‹Leventina›. So war ich auch vorbereitet für eine Weiterbildung als Steuermann und Schiffsführer.

Kurze Zeit später lernte ich meine zukünftige Frau Madelaine kennen. Nicht auf dem Schiff, dort lebt man wie im Kloster: kein Vereinsleben, kaum Freizeit. Frauen als Mitglieder der Mannschaften waren damals nicht zugelassen.

Madelaine bin ich dank eines Arbeitsunfalls begegnet. Ihre Tante hat mich gepflegt, im Basler Bürgerspital. Als ich aus dem Spital entlassen wurde, fragte sie mich, ob ich während meinen Ferien nicht zu ihrer Familie kommen wolle, um beim Heuen zu helfen. Und so ging ich mit ihr mit. Meine Frau kam dann als gleichaltriges Mädchen einmal zu Besuch. Seither gehen wir gemeinsam durchs Leben.

Als sie dann schwanger wurde, musste ein neuer Job her. Denn Madelaine konnte sich nicht erwärmen für ein Familienleben auf Schiffen. Zur Polizei wollte ich damals aber noch nicht. Es hiess: Das sind alles ‹Halbschuhe›. So ging ich zur Grenzwache. Dort war ich meist für einen Posten in den Freibergen zuständig und konnte mit meiner jungen Familie wohnen. In dieser Zeit machte ich berufsbegleitend Fernkurse zur Vorbereitung auf eine Matura. Im Anschluss begann ich das Studium der Betriebswirtschaft, habe aber nicht abgeschlossen. Ich fand die nötige Zeit dafür nicht mehr. 1960 erhielt ich dann ein Angebot aus Witzwil. Sie suchten einen Wärter für den Sicherheitsdienst im Justizvollzug. Und so zog ich mit meiner Familie dorthin. Und zwei Jahre später landete ich dann doch bei der Bieler Stadtpolizei – bessere Arbeitsbedingungen.

1965 haben wir dann aber einen ganz anderen Weg eingeschlagen: Zu dieser Zeit entstand in Biel das Uhrmacherzentrum für Invalide, die heutige Stiftung Battenberg. Arthur Hirt war damals Sozialdirektor und suchte nach einer Leitung für diese Stiftung. Und meine Frau und ich wurden angefragt. Sie war stark im Hauswirtschaftsbereich und ich in der Organisation und der Betriebswirtschaft. Also fiel die Wahl auf uns. Ich übernahm die Leitung und sie die Hauswirtschaft. Damals bestand die Stiftung aus 24 Ausbildungsplätzen und ebenso vielen Betten. Wir haben sie weiterentwickelt bis zu 80 Betten und 120 Ausbildungsplätzen.

Ende der 70er-Jahre landete ich dann für die SVP im Bieler Stadtrat. Schliesslich brauchte ich einen Zugang, um die Stiftung Battenberg vorwärtszubringen. Als dann nach einigen Jahren der Zürcher Flügel der SVP immer stärker wurde, habe ich aber sowohl die Partei als auch den Stadtrat verlassen. Die Kompromissbereitschaft wurde immer kleiner. Das hat mir nicht mehr zugesagt.

Die Stiftung haben wir 20 Jahre lang geführt. In dieser Zeit hatte ich endlich die Möglichkeit, das Vereinsleben kennenzulernen. Bis dahin konnte ich weder Jassen noch Turnen, nur Schiessen. Aber in Biel war ich dann zehn Jahre lang Präsident der philanthropischen Gesellschaft Union Kreis Biel.

Heute treffe ich mich oft mit Freunden, in der Cafeteria oder unterwegs. Zuhause lese ich am liebsten die Sprüche auf den Abreisskalender-Zetteln. Pro Tag zwei Sprüche, philosophische Weisheiten. Abends lese ich die Sprüche dann meiner Frau vor, wenn sie im Bett liegt, kurz bevor sie einschläft. Mich regen die Sprüche zum Nachdenken an. Und ich glaube und hoffe, dass sie dies auch bei meiner Frau tun.

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