Sie sind hier

Abo

Biel

«Meine Nase ist noch heil»

Boxen ohne harte Schläge und K.o., geht das? Auf jeden Fall, sagt Jennifer Corti. Sie trainiert Kinder im 
Leichtkontaktboxen. Was diese dabei lernen, ist laut der 39-jährigen Grenchnerin eine eigentliche Lebensschule.

Familie, Beruf und Boxen, Jennifer Corti bringt viel unter einen Hut. Bild: Yann Staffelbach
  • Dossier

Aufgezeichnet: 
Sarah Zurbuchen

Mein Tag beginnt morgens um halb sechs. Sobald ich aufstehe, gibts auch gleich Radau mit meinen zweieinhalbjährigen Zwillingstöchtern. Die beiden schlafen keine Minute länger als nötig. Bis zum Mittag betreuen entweder meine Eltern oder die Tagesmutter die Kleinen. Ich arbeite halbtags als Präzisionsschleiferin. Ab Mittag übernehme ich dann die Mädchen wieder. Ihre Energie ist praktisch grenzenlos. Damit sie sich auspowern können, verbringe ich jede freie Minute mit ihnen draussen an der frischen Luft. Mein Mann arbeitet als Koch hauptsächlich mittags und abends, mit Ausnahme des Montags. Dann ist Papitag, und ich kann mich um mein Hobby kümmern.

Ich bin als einziges Mädchen unter sechs Brüdern aufgewachsen. Als einer meiner Brüder mit dem Boxen begann, weckte das auch bei mir das Interesse. Doch er meinte, der Sport sei viel zu hart für ein Mädchen. Da wollte ich es erst recht ausprobieren. Er hat dann irgendwann aufgehört, doch bei mir entwickelte sich der Sport zu einer grossen Leidenschaft. So richtig gepackt hat es mich, als ich eine Zeit lang bei meinen Verwandten in Italien wohnte und im dortigen Boxclub trainierte. Für die Nationalmannschaft trug ich damals diverse Kämpfe aus, 2009 wurde ich italienische Meisterin, an der EU-Europameisterschaft 2011 holte ich Bronze. Einige Zeit wohnte ich im Tessin und war Mitglied im Boxclub Ascona. Leider konnte ich nie an einer Schweizermeisterschaft teilnehmen, da ich keine Gegnerin in meiner Gewichtsklasse hatte.

Nach der Weltmeisterschaft in China 2012 entschied ich mich, mit den Wettkämpfen aufzuhören.

Heute gebe ich an zwei Abenden pro Woche Boxtraining. Eine Frau, die boxt, wird oft nicht ernst genommen. Hauptsächlich Männer fragen mich gerne: «Kann eine Frau überhaupt boxen?» Als Trainerin muss eine Frau ganz klar mehr zeigen als ein Mann. Steht ein aufgepumpter Mann hin und kann nichts, dann hat dieser mehr Chancen als eine Frau, die viel Erfahrung und Können hat.

Mein Steckenpferd ist das Leichtkontaktboxen für Kinder, zusätzlich trainiere ich Frauen- und Wettkampfboxen. Oft sind mit dem Boxsport Vorurteile verbunden: In den Köpfen der Leute geht es um Aggression. Um blaue Augen, blutende Nasen und Kämpfe bis zur Bewusstlosigkeit. Aber meine Nase ist noch heil! Ich unterrichte Kinder zwischen 8 und 13 Jahren. Beim Leichtkontaktboxen geht es nicht darum, so hart wie möglich zuzuschlagen, sondern sanft und kontrolliert. Technik und Taktik stehen im Vordergrund. Wer boxt, macht dies mit viel Energie und Einsatz. Es geht um Leidenschaft. Im Wettkampf ist es denn auch oft nebensächlich, wer gewinnt. Wichtig ist, dass sich die Kinder mit einem Gegenüber auf Augenhöhe messen können. Ich versuche, das Ganze spielerisch anzugehen. Bei Kämpfen schaue ich darauf, dass die Körpergrösse der beiden Gegner nicht mehr als zehn Zentimeter Unterschied beträgt. Das Gewicht spielt keine Rolle. So können auch etwas korpulentere Kinder mitmachen.

Eltern müssen sich dabei keine Sorgen machen: Die Gesundheit und Sicherheit der Kinder haben für mich oberste Priorität. Bei mir besteht Helm- und Zahnschutzpflicht.

Es ist interessant zu sehen, wie sich das Boxtraining auf andere Bereiche im Leben positiv auswirkt; bei Kindern etwa auf die Konzentrationsfähigkeit, das Feedback der Eltern bestätigt mir das immer wieder. Dies hat damit zu tun, dass die Koordination von Armen und Beinen trainiert wird und so die beiden Gehirnhälften gleichzeitig aktiviert werden.

Leichtkontaktboxen kann sich auch hilfreich auf die soziale Interaktion auswirken. Ich achte bei den Kindern sehr streng darauf, dass keine harten Schläge ausgeteilt werden. Die Kursteilnehmenden müssen lernen, ihre Emotionen und Impulse zu kontrollieren. Wenn du zwei, drei Mal einen etwas heftigeren Schlag kassierst, solltest du nicht einen obendrauf setzen und noch härter zurückschlagen. Das ist eine gute Übung, sich nicht gegenseitig in der Aggression hochzuschaukeln, auch im normalen Leben.

Im ersten Lockdown, als die Schulen auf Fernunterricht umstellten, waren die Kinder richtig wild. Ich merkte ihnen an, dass sie ihre Energie nicht wie gewohnt ausleben konnten. Damals musste ich regelmässig vom normalen Boxtraining auf Spiele umstellen, damit sie sich austoben konnten.

Familie, Beruf und das Boxen unter einen Hut zu bringen, bedeutet einen enormen Aufwand. Deshalb versuche ich, mich mit einer guten Organisation über Wasser zu halten. Abends um 21 Uhr – wenn die Mädchen endlich schlafen, ist Ruhe im Haus. Dann widme ich mich entweder dem Haushalt oder meinen Funktionen im Verein: Ich bin in der Ethikkommission und Dopingverantwortliche bei Swissboxing.

Damit auch das Paarleben nicht zu kurz kommt, ist der Sonntagabend ausschliesslich für mich und meinen Mann reserviert.

Info: Am 13. November findet im Fight Gym Grenchen um 13 Uhr ein Start-up im Leichtkontaktboxen statt. Mitmachen können alle Boxerinnen und Boxer, die sanft schlagen können und mindestens sechs Monate Leichtkontaktboxen trainiert haben. Regeln: Wie bei einem Wettkampfsparring mit Punkt und Ringrichter. Es wird nach Grösse und nicht nach Gewicht gekämpft.

Stichwörter: Mein Montag, Biel, Menschen

Nachrichten zu Biel »