Sie sind hier

Abo

Zeitgeschichte

«Mensch ist Mensch – dafür stehe ich ein»

Lotte Wälchli setzt sich schon als junge Lehrerin im Aargau gegen die Diskriminierung der Frauen ein. Politisch aktiv wird die heute 86-Jährige aber erst vor rund 40 Jahren in Biel. Nun findet sie die Zeit, sich aktiv für den Frieden und die Emanzipation zu engagieren.

Für Lotte Wälchli gibt es immer wieder Momente im Leben, in denen man seinen Standpunkt klar darlegen muss. Auch wenn dieser nicht allen passt. (c) Peter Samuel Jaggi / Bieler Tagblatt
  • Dossier

von Peter Staub

«Sie sehen, ich rege mich noch immer auf», sagt Lotte Wälchli am Ende eines langen Gesprächs, in dem sie über ihr politisches Leben in Biel, ihre Erfahrungen während des Zweiten Weltkrieges und ihre Anfänge als Lehrerin im Aargau erzählt hat. Sie lacht zwar, als sie das sagt, aber lustig findet sie es nicht. Denn sie ärgert sich über die aktuelle Politik. Und sie empört sich noch immer über Ungerechtigkeit, über Ungleichheit und über Diskriminierungen, die sie selber oft genug erlebt hat.
Auch wenn ihr Körper der Zeit Tribut zollen muss, der Geist der weisen, pensionierten Lehrerin, die zwei Tage nach dem heutigen Frauenstreik ihren 87. Geburtstag feiern wird, ist jung und agil geblieben. Und wenn sie es heute aus gesundheitlichen Gründen nicht auf den Bieler Zentralplatz schaffen sollte, so wird sie zumindest im Herzen dabei sein. Vielleicht zieht sich dann zu Hause aus Solidarität die pinkfarbene Bluse an, die sie am Frauenstreik von 1991 stolz getragen hat.

Soziale Grosseltern als Vorbild

Lotte Wälchli wächst in den 30er-Jahren in Aarau auf. Sie kann sich gut an die Geburt ihres Bruders erinnern. Damals ist sie noch nicht einmal fünf Jahre alt: «Ich sehe das Bettchen noch genau vor mir, in dem dieses schlafende Bübchen lag, einfach herzig.» Das Bett ist so hoch und sie noch so klein, dass sie die Nase strecken muss, um überhaupt hineinzusehen. Die Freude währt nur kurz, denn bald darauf bekommt sie die Masern. Sie wird ins hinterste, verdunkelte Zimmer der grossen Wohnung am Aareufer verbannt.
Nur das Dienstmädchen hat Zutritt. Ab und an steckt der Vater den Kopf herein, sonst ist sie allein. «Das war für mich eine ganz schwierige Zeit: Ich hatte Ängste und fühlte mich verlassen, verstand die Welt nicht mehr.» Obwohl sie das Gefühl hat, ihr kleiner Bruder sei schuld an ihrer Situation, leidet ihr Verhältnis nicht nachhaltig darunter: «Ich verstand mich immer sehr gut mit meinem Bruder», erzählt Lotte Wälchli, die damals noch Liselotte Steiner hiess.  

Ihre Eltern stammen von Bauern ab, die im aargauischen Seetal auf kleinen Bauernbetrieben lebten: Einer ihrer Grossväter war Förster, der andere arbeitete auf dem Bau, ihre Bauernhöfe führten sie nebenbei. «Die eine Grossmutter war eine beeindruckend kluge Frau», erinnert sich Lotte Wälchli. Als Kind ist sie oft bei ihren Grosseltern mütterlicherseits, wo sie sich wie im Paradies fühlt und für ihr Leben geprägt wird. «Wie sie mit den Menschen umgingen, wurde für mich zum Vorbild.»
Der Grossvater war 34 Jahre lang ein Gemeindeammann, der sich um die Bevölkerung kümmerte: «Ich vergesse nie die grossen Schüsseln. Es wurden grosse Mengen gekocht, Wer gegen Mittag vorbeikam, ass einfach mit.» In der Weihnachtszeit brachte der Grossvater sehr grosse, selbstgebackene Weggen ins Armenhaus.

Ihre Eltern waren Lehrer. «Das Seminar war damals für gewöhnliche Menschen vom Land die einzige Möglichkeit, einen Schritt in eine intellektuelle, städtische Welt zu machen», sagt Lotte Wälchli, die ihren Vornamen Liselotte von der Pfalz zu verdanken hat, deren veröffentlichte Briefe ihrer Mutter gefielen. «Ich wollte aber nicht sein wie diese Liselotte von der Pfalz, weil ich nicht ein fremdes Programm nachleben wollte», erzählt sie. Deshalb nennt sie sich Lotte. «Man kennt mich auch nur unter diesem Namen.»

Der Beginn des Zweiten Weltkriegs markiert eine Art «Erwachen» aus dem kindlichen Paradies. 1939 kommt Lotte in die erste Klasse. Gleichzeitig bezieht die Familie ein eigenes Haus auf der anderen Aareseite. Im September kommt es zur Generalmobilmachung. Von einem Moment auf den anderen ist der Vater verschwunden. Er ist Offizier. «Plötzlich war meine Mutter allein mit einem Zweijährigen und einer Siebenjährigen.» Das Haus ist noch nicht ganz fertig. «Ich sehe den Garten noch immer vor mir: einfach Dreckhaufen, furchtbar.»

Der Vater taucht nur hin und wieder kurz zu Hause auf. «Mich prägte dieser Krieg. Ich sah Dinge, von denen ich fühlte, dass sie nicht in Ordnung waren», erzählt Lotte Wälchli. So schliessen einmal Offiziere, die zusammen mit ihrem Vater von der Mutter verpflegt werden, in dieser Zeit der Entbehrung eine Wette ab, wer von ihnen zuerst 100 Kilogramm auf die Waage bringt. «Ich war noch jung, aber ich war mir sicher, dass das falsch war.» Obwohl sie nie Hunger hat, weiss sie, dass es Rationierungskarten gibt. «Wenn wir ein Wienerli erhielten, war das ein Festtag.»

Die Primarschülerin erlebt den Krieg aber nicht nur als Tochter eines Offiziers im Aktivdienst. Durch das offene Fenster ihrer Nachbarin hört sie im Radio Ansprachen von Hitler und Göbbels. «Die Reden erschreckten mich. In meinem kindlichen Denken wusste ich, dass das zwei Böse waren.» Das Schlimmste erlebt sie allerdings nach dem Krieg, als sie begreift, was die Deutschen mit den Juden gemacht haben. «Das war ein Trauma für mich, das mich nie mehr losliess. Ich konnte nicht begreifen, dass Menschen mit Menschen so umgehen können», erzählt Lotte Wälchli.

Ihr Vater kommt charakterlich verändert aus der Militärzeit zurück.  Nach gut fünf Jahren, in denen «er ein müssiggängerisches Herrenleben» führt, hat er grosse Schwierigkeiten, sich wieder ins Leben eines bescheidenen Lehrers einzufügen. «Es gab schon vorher keine grosse Nähe zwischen uns, aber das entfremdete uns noch weiter.»

Frauen müssen den Herren weichen

Die 13-Jährige macht noch eine andere Entdeckung, die sie prägt: «Als die Männer im Militär waren und die Lehrer fehlten, nahm man die Lehrerinnen mit Handkuss, weil man sie brauchte.» Plötzlich ist die Welt weiblich, überall sind es Frauen, die arbeiten, etwa als Pöstlerin. «Da hatte ich mein erstes grosses Aha-Erlebnis: Die Männer kamen als gefeierte Helden zurück. Und die Frauen mussten sang- und klanglos, ohne ein Wort der Anerkennung, wieder zurück an den Herd.» Das gibt ihr zu denken: «Wenn man die Frauen brauchen kann, duldet man sie und ist sogar froh um sie, aber sobald die Herren der Schöpfung zurück sind, müssen sie wieder verschwinden.»

Lotte Wälchli ist in der sechsten Klasse, als im Mai 1945 die Friedensglocken läuten. Die Schülerinnen und Schüler machen einen Friedensmarsch, die Stadt pflanzt eine Friedenslinde. Doch der Schock folgt kurz danach. «Das erste Buch, das ich nach dem Krieg las, war das Tagebuch der Anne Frank.» Es folgen weitere Bücher über den Holocaust, der bei der jungen Frau eine grosse Krise auslöst: «Wer, was ist der Mensch? Für mich war klar: nie wieder Krieg!»
Als sie später das Lehrerinnen-Seminar besucht, findet sie zu Hause im Bücherschrank ein Buch von Bertha von Suttner: «Die Waffen nieder!» Die österreichische Gräfin war als Kämpferin für den Frieden 1905 als erste Frau mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet worden. «Ihr Buch brachte mich endgültig auf den Weg zur Pazifistin. Das bin ich bis heute geblieben.» Obwohl sie sich selbst als politisch einschätzt, weil sie sich erlaubt, selber zu denken, wird es noch Jahrzehnte daueren, bis sie politisch aktiv wird.

In den 30er-Jahren gehen im Aargau die Mädchen und Buben gemeinsam zur Schule, allerdings nur im Kindergarten und in den ersten zwei Primarklassen. Ab der dritten Klasse sind sie getrennt. Sogar örtlich. «Wir gingen nicht in denselben Schultrakt und hatten nicht den gleichen Pausenplatz.» Das ist auch im Seminar so: Die jungen Frauen werden in Aarau und die jungen Männer in Wettingen ausgebildet. Lotte Wälchli ahnt schon bald, warum das so ist: «Die Buben sollten nicht sehen, wie klug die Mädchen waren. Denn nur so konnte man das Bild des tollen Mannes, der alles weiss und alles kann, aufrechterhalten.»

Als Lehrerin unterrichtet sie später gemischte Klassen. Dabei stellt sie fest, dass die Buben in der Regel in der Entwicklung weniger weit sind als die Mädchen. «Mit ihnen hatte ich mehr Probleme, weil sie einfach noch ‹herzige Buebli› waren.» Die Mädchen sind zwar reifer, leiden aber teilweise unter ihren strengen Vätern und sind so verängstigt, dass sie sich nichts zutrauen. «Das Interessante aber war, dass auch Buben, die das Pulver wirklich nicht erfunden hatten, später in der Politik Karriere machten, während selbst die intelligenteren Mädchen nicht einmal abstimmen durften», empört sich Lotte Wälchli im Rückblick noch immer.

Das Frauenstimmrecht ist während der Ausbildung ein Thema. Vor allem die Französischlehrerin spricht oft mit den Seminaristinnen darüber. «Ich war nicht besonders gut in Französisch, deshalb genoss ich es auch, dass wir diskutierten, aber ich setzte mich schon sehr klar für das Frauenstimmrecht ein. Ich fand das nur gerecht.»

«Belehrung» des Dorfkönigs wird bestreikt

1952 beendet Lotte Wälchli das Seminar und kommt als junge Lehrerin nach Aarburg. Sie erhält eine Klasse mit über 50 Schülerinnen und Schülern. Weil es kein Schulzimmer gibt, muss sie im Singsaal unterrichten. Sie findet weder eine richtige Wandtafel noch Schulbücher oder Hefte vor, bloss ein paar Bleistifte und ein paar Bogen Zeichenpapier. Also erzählt sie Geschichten und lässt ihre Fantasie walten. «Wenn ich gewusst hätte, was mich dort erwartete, wäre ich nie nach Aarburg gegangen.» Die zweitjüngste Lehrerin, zehn Jahre älter als Lotte Wälchli, ist nett zu ihr. Doch die anderen Lehrer helfen ihr nicht und lassen sie immer ins Leere laufen. «Einige sprachen kein Wort mit mir.»
Dennoch kann sie sich durchsetzen. Etwa als der lokale Fabrikant als Dorfkönig die Lehrerschaft disziplinieren will und diese zu einer «Belehrung» bestellt, weil sich zuvor ein Lehrer im Wirtshaus kritisch geäussert hat. «Das Kollegium sass ratlos im Lehrerzimmer, bis ich als Jüngste erklärte, Herr Franke habe mir nichts zu sagen, ich sei nicht seine Angestellte, ich würde streiken.» Sie erreicht damit, dass niemand zu dieser «Belehrung» geht.

Auch in einem Streit um die Ortszulage gibt sie nicht klein bei. Der Vorschlag sieht unterschiedliche Zulagen vor: Verheiratete Lehrer sollen am meisten, ledige Lehrer etwas weniger und Lehrerinnen noch weniger erhalten. «Ich wehrte mich dagegen, schliesslich hatte ich dasselbe gelernt und leistete die gleiche Arbeit.» Als ältere Lehrer einwenden, ledige Lehrer seien auf die höhere Zulage angewiesen, weil sie jemanden bezahlen müssten, der ihnen die Kleider bügelte oder flickte, erwidert Lotte Wälchli, dass sie gelernt habe, Knöpfe anzunähen, und auch ledige Lehrer fähig seien, das zu lernen. Sie schlägt vor, den Lehrern mit Kindern etwas mehr zu geben, was schliesslich akzeptiert wird. «So erhielt ich die gleiche Zulage wie ledige Lehrer. Viel war es nicht. Aber es ging ums Prinzip.»

Gut sieben Jahre bleibt sie in Aarburg, bis sie ihren Jugendfreund Heinz Wälchli heiratet. «Dann musste ich gehen.» Denn Ende der 50er-Jahre gibt es im Aargau für eine verheiratete Frau keine feste Stelle als Lehrerin. «Man schickte mich als Stellvertreterin hin und her. Dafür waren die verheirateten Lehrerinnen gut genug.»

Ihr Mann wuchs in Schlesien auf, wo er vom Krieg zuerst nicht viel mitbekam, bis er im Winter 1945 fliehen musste und als 14-Jähriger in Berlin traumatische Dinge erlebte. «Aber darüber sprach er nicht gerne», erzählt Lotte Wälchli. Über Umwege kam er nach Buchs und ging von dort aus nach Aarau ins Gymnasium, wo sie ihn kennenlernte. «Er war ein Nachkomme von Oberaargauer Bauern, die im 19. Jahrhundert zu Hause kein Auskommen hatten.»
In Schlesien hingegen gab es grosse Herrensitze mit Landwirtschaft, die für den Stallbetrieb und die Käsereien gerne Schweizer anstellten. «In der Schweiz gab es damals viele Bauernsöhne, die auswanderten. Auch viele meiner Vorfahren suchten ihr Glück in Italien, Frankreich oder in Amerika, aus der Not heraus. Die Schweiz war nicht immer ein Paradies», blickt sie zurück.

Als ihr Mann 1962 die Stelle wechselt, zieht Lotte Wälchli mit ihm nach Biel: «Das war damals so üblich», sagt sie lakonisch. Weil es dem an der ETH ausgebildeten Maschineningenieur bei der BBCin Baden nicht wohl war, bewarb er sich als Dozent an der Ingenieurschule HTL in Biel. «Die HTL zahlte damals kläglich», erzählt sie. Auch deshalb arbeitet sie die in dieser Zeit regelmässig im Aargau als Lehrerin. Vor dem Umzug war sie erst einmal in Biel gewesen, auf einer Schulreise.
«Als ich mit dem Zug hier ankam und erstmals die Bahnofstrasse sah, dachte ich: ‹Um Gottes Willen, wohin hat es mich hier bloss verschlagen.› Im Vergleich zum herausgeputzten Aarau war alles ungepflegt. Auch die Altstadt war in einem erbärmlichen Zustand.» Aber sie gewöhnt sich daran. Und heute freut sie sich etwa über die Altstadt: «Biel kann sich sehen lassen.»

Zuerst lebt das Ehepaar am Hochrain, am Waldrand, wo es Lotte Wälchli sofort gefällt. 1966 und 1968 kommen die Söhne zur Welt. Lotte Wälchli informiert sich über die Geschichte Biels, und die Familie nimmt an Heimatschutz-Führungen teil. In den 70er-Jahren wird sie «überraschend und ungefragt» in den Vorstand des Heimatschutzes Biel-Seeland gewählt, wo sie dann 15 Jahre das Sekretariat betreut und die Protokolle schreibt.
Daneben kümmert sie sich um die Kinder. Deshalb ist sie vor der Abstimmung über das Frauenstimmrecht von 1971 auch noch nicht politisch aktiv. «Aber seither habe ich keine Abstimmung verpasst, ausser wenn ich mal krank war. Stimmen und Wählen ist für mich Plicht und Ehrensache.»

Anfang der 80er-Jahre sind ihre Kinder «aus dem Gröbsten raus», wie sie sagt. Lotte Wälchli ist gegen 50 Jahre alt, als sie politisch aktiv wird und beginnt, sich bei den Frauen für den Frieden zu engagieren.  «Ich bin jetzt seit 37 Jahren dabei, und das ist das Letzte, was ich aufgebe», sagt sie resolut.
Zudem setzt sie sich auch für Frauenrechte ein, etwa beim Frauenplatz Biel. An ihre erste Demo-Teilnahme erinnert sie sich nicht mehr, aber sie weiss noch, dass sie zuerst lernen musste, zu demonstrieren. «Als Frauen für den Frieden machten wir regelmässig Aktionen auf dem Zentralplatz. Dort stand ich oft am Rand und wurde auch schon mal angespuckt», erzählt sie.

Den Weg zu den Friedensfrauen findet sie über das «Politische Nachtgebet» der deutschen Theologin Dorothee Sölle. «Friedfertig und widerständig, ist unser Motto und die Menschenrechte unser Wegweiser.» Entsprechend gewaltfrei sind die Demonstrationen. Ihr Mann unterstützt ihr Engagement nicht nur ideell, sondern auch tatkräftig, etwa wenn es darum geht, einen Stand aufzustellen.

«Ich bin überzeugte Jesus-Anhängerin»

Beim ersten Frauenstreik im Jahr 1991 beteiligt sich Lotte Wälchli, ist aber nicht speziell engagiert. «Ich war damals nicht im Komitee, aber für mich war es selbstverständlich, teilzunehmen, meine pinkfarbene Bluse anzuziehen und auf dem Platz zu stehen.» Diese Bluse hat sie heute noch. Es gebe im Leben immer wieder Momente, in denen man seinen Standpunkt klar darlegen müsse, auch wenn es anderen nicht passe: «Das muss man inkauf nehmen.»
Lotte Wälchli lebt mit ihrer Familie unterdessen in Leubringen, wo es auch «Mehrbessere» gibt, die mit ihr nichts zu tun haben wollen. «Beim Frauenstreik war es wunderbar, zu erleben, nicht allein zu sein», erzählt sie. Wenn es ihr gesundheitlich gut geht, ist sie auch beim heutigen Frauenstreik dabei.

Obwohl Lotte Wälchli nicht aus einem religiösen Haus kommt, hat sie sich immer für spirituelle Fragen interessiert: «Ich bin aber nicht sehr kirchlich.» Sie findet es lustig, dass einer ihrer Söhne heute Pfarrer ist und der andere unter anderem Religionslehrer war. Wichtig ist ihr die folgende Abgrenzung: «Ich bin keine Christin, da mir an dieser Theologie vieles nicht passt, aber ich bin eine überzeugte Jesus-Anhängerin.» Auch die tibetische Religion und der Dalai Lama faszinieren sie. Was nicht zuletzt daher kommt, dass sie im Auftrag des Roten Kreuzes jahrelang Tibeter betreut.
Ihr Credo ist klar: «Falls es einen Gott gibt, hat er alles gemacht, es ist ein Werk.» Es sei wie bei den Trachten, diese seien verschieden, aber darunter sind alle Menschen gleich, egal wie gross sie sind oder welche Hautfarbe sie haben. «Mensch ist Mensch, dafür stehe ich ein», sagt sie dezidiert. Wir seien schliesslich alle Kinder Gottes oder des Grossen Geistes.

Deshalb setzt sie sich nicht nur für die Gleichberechtigung der Frauen ein. «Auch die Männer haben die Emanzipation bitter nötig.» Man müsse die Männer von überholten Männerbildern befreien. «Mein Traum war immer, aus Buben und Mädchen, aus Frauen und Männern Menschen werden zu lassen.» Entsprechend erzieht sie ihre Söhne. Diese erfahren beispielsweise, dass es keine niedrige Arbeit gebe. «Beide erledigen ganz selbstverständlich Hausarbeit, und sie können auch ihre Kleider selber flicken.»

«Es ist ungeheurlich – ein Skandal»

Gegen Ende des Gesprächs kommt Lotte Wälchli noch auf ein anderes aktuelles Thema zu sprechen: «Ich verstehe die #Me-Too-Bewegung, auch ich machte Erfahrungen mit Männern, die sich nicht zu benehmen wussten.» In Aarburg nimmt sie einmal ein älterer Präsident der Schulpflege im Auto mit und belästigt sie, statt sie wie versprochen nach Hause zu bringen. «Obwohl er verheiratet war und ich ihm klar sagte, dass ich nichts von ihm wollte.»
Sich zu wehren, ist nicht einfach: «Wenn die Frauen damals zu schroff waren, da waren sie geliefert.» Sie weiss sich zwar zu helfen, aber auch sie wehrt sich nicht öffentlich: «Sonst wäre ich die Dumme gewesen.» Heute könnten sich die Frauen zum Glück besser wehren.

Wie ungebrochen ihre Empörung ist, zeigt sich, als sie über die kantonale Abstimmung zur Sozialhilfe spricht. Sie habe sich über den Berner Regierungsrat Schnegg geärgert, sagt sie. «Es ist ungeheuerlich, ein Skandal, dass die Löhne jener, die den ganzen Tag lang brav arbeiten, teilweise so tief sind, dass sie kaum davon leben können.» Da müsse man nicht die Sozialhilfe senken, sondern die Löhne erhöhen.
«Ich bin weder Kommunistin noch Marxistin, ich versuche, nach den Vorgaben Jesu zu leben.» Aber die Spitzenlöhne wüchsen so schnell, dass die oben nicht mehr wüssten, was sie mit ihrem Geld machen sollten. Zugleich seien unten die Löhne so tief, dass man fast schon von Sklaverei reden müsse. «Sie sehen, ich rege mich immer noch auf. Meine Empörung ist immer noch gross», ruft sie aus. Es sei letztlich bloss eine Frage der gerechten Verteilung: «Es muss doch möglich sein, dass alle genug zum Leben haben», sagt sie.
 

Zur Person
Lotte Wälchli wird am 16. Juni 1932 in Aarau als Liselotte Steiner geboren. Nach der Primar- und Bezirksschule absolviert sie in Aarau die Ausbildung zur Primarlehrerin.
Bereits jetzt setzt sie sich für die Gleichberechtigung der Frauen ein. 1959 heiratet sie ihren Jugendfreund Heinz Wälchli. Drei Jahre später zieht sie nach Biel, wo ihr Mann an der HTL eine Stelle als Dozent antritt.
Anfang der 80er-Jahre beginnt sich Lotte Wälchli bei den Frauen für den Frieden zu engagieren. Später gehört sie zu den Gründerinnen des Frauenplatzes Biel.
Zusammen mit ihrem mittlerweile verstorbenen Mann und ihren zwei Söhnen wohnt sie lange in Leubringen. Unterdessen lebt die zweifache Grossmutter nun in Bieler Quartier Madretsch, wo sie sich des Ausblicks auf den von ihr geliebten Jura erfreut.
 

Nachrichten zu Biel »