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Biel

«Menschen aus Eritrea sind sich ein geselliges Leben gewohnt»

Abdu Mohammed Andu hat in seiner Heimat Eritrea als Journalist gearbeitet. Heute lebt er in Biel und engagiert sich dafür, dass sich seine Landsleute gut in der Schweiz zurechtfinden.

Abdu
 Mohammed Andu hat
 ursprünglich Mathematik studiert. Bild: 
Barbara Héritier
  • Dossier

Aufgezeichnet: Carmen Stalder

Ich sehe es als meine Aufgabe, meinen Landsleuten zu erklären, wie das Leben in der Schweiz funktioniert. Ich will den Eritreerinnen und Eritreern helfen, sich zu integrieren. Wie können sie erfolgreich sein? Und wie können sie für andere ein Vorbild sein? Genau solche Vorbilder sollen im Radio von sich erzählen. Während fünf Jahren habe ich auf freiwilliger Basis für das Zürcher Lokalradio Lora gearbeitet. Wir hatten ein Programm auf Tigrinya namens Radio Brhan, das einmal im Monat gesendet wurde. Dabei ging es vor allem um Integration. Wir haben Interviews mit Experten geführt, darüber gesprochen, wie man einen Job finden kann und welche Ausbildungen es gibt. Unser Ziel war, der eritreischen Gemeinschaft den schweizerischen Lebensstil zu erklären.

Menschen aus Eritrea sind ein sehr geselliges Leben gewohnt. Wer einen Anlass bei sich zuhause veranstaltet, muss niemanden einladen: Jeder, der davon hört, kann kommen. Wenn man bei einer Hochzeit mit 300 Personen rechnet, können es auch 600 werden. Und wenn jemand aus der Familie stirbt, kommen wirklich alle vorbei, die diese Person gekannt haben. Hier in der Schweiz ist man dagegen sehr privat und ruhig. In der Nacht gibt es sogar Ruhezeiten ab 22 Uhr! Das ist wirklich sehr anders, als wir es kennen. Bei uns gehört es dazu, sonntags in einer Gruppe von zwei oder drei Familien bei jemandem zuhause Kaffee zu trinken. Das stört vielleicht die Nachbarn. Also muss man ihnen entweder sagen, dass man Gäste haben wird oder man muss es ganz sein lassen.

Man kann Eritreerinnen und Eritreer schon von weit entfernt hören, weil wir so laut sprechen. Einmal war ich spät abends mit dem Zug unterwegs und habe Menschen lachen gehört. Ich habe mir gesagt: Das müssen Eritreer sein! Und so war es tatsächlich. Ich hatte keine Zeit, um ihnen zu erklären, dass sie die Situation und Kultur der Schweiz respektieren sollten. Aber das ist etwas, das mir oft durch den Kopf geht: Das Leben, das wir in Eritrea gelebt haben, können wir hier nicht einfach fortführen.

Als ich noch beim Radio Lora gearbeitet habe, ist der eritreische Medienbund auf mich zugekommen und hat mich eingeladen, mit ihm zu arbeiten – unter anderem als Moderator für die Talkshows. Das Ziel dieser Organisation ist es, die Öffentlichkeit über die eritreische Diaspora in der Schweiz zu informieren. Mit dem Medienbund haben wir letztes Jahr gute Arbeit geleistet, besonders, was Corona angeht. Wir haben viele Interviews mit Experten und Ärztinnen geführt, und wir haben darüber gesprochen, warum es die Impfung braucht. In unserer Gemeinschaft kursieren viele Falschinformationen, entsprechend sind nur wenige geimpft. Zudem übersetze ich News-Beiträge vom Onlinekanal Diaspora TV auf Tigrinya.

Meine Muttersprache ist Blin, das im Zentrum von Eritrea gesprochen wird. Schon von klein an habe ich aber auch die weitverbreitete Landessprache Tigrinya und dazu noch Tigre gesprochen. Ab der frühen Primarschule habe ich Amharisch, das in Äthiopien gesprochen wird, gelernt. Ich kann mich auch auf Arabisch, Englisch und Deutsch verständigen. Und weil ich zeitweise in St. Imier gelebt habe, verstehe ich gut Französisch, sprechen kann ich es allerdings nur wenig.

Ich lebe seit zehn Jahren in der Schweiz. Die ersten Jahre waren sehr schwer für mich. Als alleinerziehender Vater musste ich mich um meine fünf Kinder kümmern. Ich war viel zuhause und konnte mich nicht so gut integrieren, wie ich mir das gewünscht hätte. Zwar habe ich mein Bestes versucht, um die Sprache zu lernen. Doch ich war darin nicht immer erfolgreich, weil ich zu wenig Energie hatte.

Ursprünglich habe ich Mathematik studiert. Aber dann habe ich in Eritrea während 16 Jahren als Journalist gearbeitet. Die ersten acht Jahre beim Radio, danach war ich als Korrespondent in verschiedenen Regionen des Landes unterwegs. Ich habe mein Bestes getan, um Kritik am politischen System zu vermeiden, weil mich das in Gefahr bringen könnte. Am Ende war ich damit nicht erfolgreich, weshalb ich fliehen musste.

Grundsätzlich mag ich Arbeit, die mir viel Freiheit lässt. Ich will keinen Chef, der mir genau vorgibt, was ich machen muss. Eine solche Arbeit habe ich nun auch hier in der Schweiz gefunden: Seit über einem Jahr bin ich in Bern 40 Stunden pro Woche als Velokurier für Eat.ch unterwegs. Das Team ist jung und kooperativ, das gefällt mir. Mir wurde nur zu Beginn erklärt, was ich machen muss, nun bin ich selbst für mich verantwortlich. Es macht mich sehr glücklich, so frei arbeiten zu können.

Daneben habe ich noch ein Zehn-Prozent-Pensum an der Universität Bern. Studierende der Sprachwissenschaften sind an meiner Muttersprache interessiert. Sie wollen wissen, wie sie aufgebaut ist. Die Universität hat soeben mein Engagement um weitere vier Monate verlängert. Mein grösster Traum ist es allerdings, als Kolumnist für lokale Zeitungen zu schreiben. Dafür muss ich aber erst mal die Sprache richtig gut lernen. Ich weiss also nicht, wann sich dieser Traum erfüllen wird.

Von den Schweizerinnen und Schweizern wünsche ich mir das Bewusstsein dafür, dass wir Eritreer aus einer anderen Kultur stammen und oft einen schwierigen Hintergrund haben. Einige von uns waren im Militär und haben dort sehr schwierige Situationen erlebt. Manche haben einen dramatischen Weg durch die Sahara hinter sich, sie hatten es mit Schmugglern zu tun, mussten übers Meer fliehen. Teilweise sind die Menschen traumatisiert, wenn sie hier ankommen. Es gibt junge Leute, die alleine hier sind und ohne Ratschläge ihrer Eltern auskommen müssen. Sie hatten keine Chance auf Bildung und wissen nichts über das Leben. Manche von uns sind gebildet, andere können weder schreiben noch lesen. Es gibt unter uns Menschen, die schlechte Dinge machen. Aber es gibt auch viele, die sich integrieren wollen und sich der Schweiz angepasst verhalten möchten. Das müssen die Leute hier verstehen: Die Integration ist nicht so einfach, wie man sich das vielleicht vorstellt.

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