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Biel/Krisenfotografie

«Mich interessiert die Grauzone zwischen den Fronten»

Ostukraine, Nordirak, Westbank: Der Bieler Journalist und Fotograf Klaus Petrus geht da hin, wo es ungemütlich ist. Er sagt: «Gegen Aktivismus bin ich allergisch, aber ich ergreife Partei für diejenigen, die nicht am Drücker sind.»

Klaus Petrus ist aktuell noch in Biel. Ob er bald schon in die Ostukraine aufbrechen muss, kann er nicht abschätzen. Bild: Tanja Lander

Interview: Andrea Butorin

Klaus Petrus, als wir ein Treffen vereinbarten, sagten Sie zu, meinten aber: «Sollte in der Ukraine Krieg ausbrechen, würde ich wohl kurzfristig hinreisen.» Empfinden Sie Ihren Beruf manchmal als zynisch?

Klaus Petrus: Sie meinen: Irgendwo knallt's und alle gehen hin?

Oder böser: Endlich geht es los.

Ich glaube nicht, dass ich so denke. Ich mache praktisch keine Stories mehr über sogenannte Hotspots und bin somit selten an Orten, wo es gerade brennt. In der Ostukraine war ich schon 2019. Mich interessierte damals die sogenannte Grauzone zwischen den beiden Fronten. Die verschiebt sich immer wieder, es leben dort kaum mehr Menschen oder nur noch die Alten, die nicht wegkönnen. Würde ich jetzt zurückkehren, dann nicht nur wegen der Gefechte, sondern um diese Geschichten aufzunehmen, um zu fragen, was mit den Menschen passiert, die in einem harten Konflikt zwischen den Fronten stecken.

Noch sind Sie in der Schweiz. Was denken Sie, was wird in der Ukraine passieren?

Das weiss ich nicht, die Situation ist sehr undurchsichtig. Hoffentlich gibt es keinen Krieg.

Wie informieren Sie sich über 
die Situation in Krisengebieten?

Teils natürlich über die Medien, aber viel mehr noch über Menschen vor Ort, die ich kennengelernt habe, als ich an der Front war. Das sind Zivilpersonen, Fotografen, Journalisten oder in diesem Fall auch ukrainische Soldaten. Mit ihnen hatte ich in letzter Zeit regelmässig Kontakt. Menschen vor Ort vermitteln mir einen Blick auf die Situation. Sie sagen zum Beispiel: «In den letzten Tagen ist überhaupt nicht geschossen worden, und gerade das macht uns Sorgen.» Ein Soldat, der unmittelbar an der Frontlinie ist, meint dagegen: «Das ist alles nur Propaganda, auf beiden Seiten.» Wer selbst an solchen Orten war, wird Medienberichten gegenüber skeptisch. Gerade in Krisengebieten wird die Berichterstattung häufig stark eingeschränkt auf Kriegshandlungen oder Katastrophen. Worauf man fokussiert oder was man weglässt, hat meist mit Aktualität zu tun, und das prägt halt unsere Sicht. Ist ein Krieg oder Konflikt nicht mehr aktuell, oder anders gesagt: Ist er für uns nicht mehr interessant, so gibt es ihn nicht mehr. Wer denkt noch an Syrien? Wer an Äthiopien? Auch Afghanistan werden wir schon bald wieder vergessen haben.

Angenommen Sie würden nun doch aufbrechen. Wie würden Sie vor Ort leben?

Man denkt ja oft, in Krisenregionen sei man 24 Stunden am Tag unter Beschuss oder im Stress. Dabei muss man sehr oft warten, hin- und herfahren, versuchen, an Leute heranzukommen, über die man berichten will. Es braucht extrem viel Geduld: hier eine Sperre, da ein Papier, das angeblich ungültig ist. Grundsätzlich ist die Arbeit an der Front viel organisierter, als man sich das vorstellt. Und mit extrem viel Vorbereitungen verbunden.

Bei Ihrer Arbeit sind Sie auf Menschen angewiesen, die Sie an Orte oder zu anderen Menschen bringen, die übersetzen, die vermitteln. Wie verhindern Sie, dass Sie an dubiose Personen geraten, die Sie in Gefahr bringen oder für ihre Zwecke missbrauchen?

Man muss diesen Leuten stark vertrauen können. Unter Journalisten gibt es ein sehr gutes Netz an solchen Fixern, wie sie auch genannt werden. Sie sind Gold wert, echte Mitarbeitende. Trotzdem muss man vorsichtig sein, ganz verhindern kann man Einflussnahme nicht. Man muss zum Beispiel wissen, wenn Kontaktpersonen militärnah sind. Teilweise müssen sie vom Militär akkreditiert sein. Eine Beziehung zum Militär aufrechtzuerhalten ist ja Teil ihrer Arbeit. Sich dieser Nähe und der möglichen Einseitigkeit bewusst zu sein, ist deshalb sehr wichtig.

Verdienen die Fixer Geld?

Ja, und das ist auch richtig so, schliesslich riskieren sie viel. Da Sie von Zynismus gesprochen haben: Der Preis schnellt natürlich in die Höhe, je aktueller die Geschichte und je gefährlicher die Lage ist. In der Ostukraine zum Beispiel sind die Fixer derzeit ausgelastet, da sehr viele Journalisten und Fotografen hinfahren.

Wie gehen Sie mit Angst um? Sind 
Sie schon in gefährliche Situationen geraten?

Solche Gefühle kommen oft erst später hoch. Aber ja, ich habe auch schon Angst gehabt. In der Westbank war ich mit demonstrierenden Palästinensern unterwegs. Wir waren relativ nah an israelischen Soldaten. Plötzlich begannen die scharf zu schiessen. Ich wurde hinter Mauern eingekesselt und konnte nicht mehr weg, jedes Mal, wenn ich mich bewegte, knallte es. Ich dachte, ich sei ausreichend gut als Journalist erkennbar, doch das war nicht der Fall. Und so harrte ich relativ lange aus. Zumindest fühlte es sich lange an. Plötzlich kam eine Ambulanz aus einer Querstrasse angefahren. Ich sprang auf, und wir fuhren weg. Im Nachhinein überlegte ich mir: Wieso hast Du weiterfotografiert, bist nicht weggerannt?

Sind damals Menschen getötet 
worden?

Ja, es gab Verletzte und Tote. Neben mir wurde einem jungen Palästinenser in den Rücken geschossen, er verstarb noch an Ort. Speziell die Arbeit im Palästina-Israel-Konflikt kann gefährlich sein, zum Teil gibt es da Häuserkämpfe, die Situation ist dann sehr unübersichtlich. Wenn man nicht nur über einen Konflikt berichten will, sondern über die Menschen im Konflikt, dann muss man näher ran, sonst geht das nicht. Anders News-Journalisten. Sie müssen bei Konflikten rasch von Ort zu Ort, haben wenig Zeit und bleiben deshalb auf Distanz oder zoomen von der Ferne mit ihren Kameras heran. Ich kritisiere das nicht, es ist einfach eine andere Arbeitsweise.

Für Ihre Reportage im Nordirak (siehe Seiten 23 bis 25, Anm. der Red.) haben Sie mit traumatisierten Mädchen und Frauen gesprochen. Ich kann mir kaum schwierigere Gespräche vorstellen. Wie gehen Sie so etwas an und wie kommen Sie an die Menschen heran?

Natürlich landet man als Reporter nicht einfach in Erbil, steigt ins Auto, fährt an die syrische Grenze in ein Flüchtlingslager und fragt: «Hallo, haben Sie mal fünf Minuten Zeit, können Sie mir etwas über Ihr Trauma erzählen?» Wie immer brauchen solche Themen viel Vorbereitung. Ich stand schon lange vorher im Austausch mit den Therapeuten, die vor Ort arbeiten. Wir diskutierten über meine Fragen, über die Form der Gespräche, und sie waren auch bei allen Interviews anwesend.

Wie schwer ist es, diesen traumatisierten Menschen gegenüberzutreten?

Zwar habe ich mit niemandem gesprochen, der oder die nicht schon mit Therapeuten im Gespräch wäre. Aber man muss um jeden Preis verhindern, dass es zu Retraumatisierungen kommt. Das ist das Wichtigste. Manchen fällt es schwer, darüber zu reden, andere wollen das unbedingt. Einmal habe ich mit einer jungen Frau in Anwesenheit ihrer Familie und von Therapeuten ein langes Gespräch geführt. Sie wurde viele Male vergewaltigt und erzählte jedes einzelne Detail. Ich spürte: Eigentlich erzählte sie mir das alles, um zu zeigen: Ich lebe noch! Gern hätte ich mit ihr noch über etwas Unverfänglicheres gesprochen, sie gefragt, welche Musik sie hört, ob sie auch auf Instagram ist oder so. Einfach um mehr über sie zu erfahren. Aber das Setting hat nicht gepasst. Und obwohl es für sie wichtig gewesen wäre, dass ich das alles schreibe, habe ich mich dagegen entschieden. Das war wirklich ein Clinch, aber ich merkte: Wenn ich allein über ihre Vergewaltigung berichte, reduziere ich diese Frau auf ein blosses Opfer. Das wäre nicht richtig gewesen.

Stossen Sie in solchen Gesprächen auch auf Hoffnung?

Die gibt es fast immer. Von aussen nimmt man oft nur die schwierigen Themen wahr, dabei erlebt man vor Ort immer wieder Schönes und auch Lustiges. Oder Menschen, über die wir sagen würden, ihre Situation ist hoffnungslos, wissen sich zu helfen oder erhalten von jemandem Hilfe.

Manche Flüchtlingslager existieren schon sehr lange. Im Camp, das Sie besuchten, waren Sie bereits 2018 einmal. Welche Veränderungen 
haben Sie festgestellt?

Oft ist es so, dass sich an den Orten, an die ich zurückkehre, nicht sehr viel rührt. In weiten Teilen der Welt ist das, was wir als Krise betrachten, leider Gottes normal. Das vergisst man hier in dieser fast einzigartigen, seit Langem befriedeten Zone manchmal.

Ihre Themenfelder sind klar umrissen: soziale Konflikte, Armut, Ausgrenzung, Menschen- und Tierrechte. In einem Portrait der «Medienwoche» widersprechen sie dem Journalisten, eine politische Agenda zu 
verfolgen. Ist das nicht naiv?

Das ist eine Frage der Definition. Bedeutet politische Agenda, Aktivismus zu betreiben, dann ist das bei mir nicht so. Dem gegenüber bin ich sogar ziemlich allergisch. Wenn es aber heisst, in der Art und Weise, wie man Themen angeht, die Konsequenzen von Krieg, Vertreibung, Hunger und Armut für diejenigen Menschen aufzuzeigen, die nicht am Drücker sind, dann ergreife ich Partei. Denn genau um diese Leute geht es in meinen Reportagen. Als Journalist objektiv zu sein, ist ohnehin schwierig – wenn nicht sogar unmöglich. Viel wichtiger ist mir, dass ich so gut es geht unabhängig bleibe. Und mir immer wieder die Frage stelle: «Könnte es nicht auch anders sein?» Gerade bei der Fotografie passiert es schnell, dass man ein Bild für bare Münze nimmt. Ich versuche deshalb, die Situation aus verschiedenen Perspektiven zu zeigen.

Im Unterschied zu uns Journalistinnen hier sehen Sie direkt vor Ort, was die Menschen in einem Kriegsgebiet oder auf der Flucht erleben. Wir 
müssen den Menschen, die uns eine Flucht- oder Kriegsgeschichte erzählen, primär glauben – oder auch nicht. Wie gehen Sie mit den Teilen einer Biografie um, die Sie nicht verifizieren können?

Das ist ein sehr wichtiger Punkt. Das Problem versuche ich zu lösen, indem ich in Portraits möglichst nah an die Menschen rangehe. Für mich wird das, was sie als Teil ihrer Biografie betrachten, ihre psychologische Wahrheit, fast wichtiger als die Realität. Das bedingt aber, dass ich dies in der Reportage oder im Portrait klar mache. Natürlich muss man sich trotzdem immer wieder die Frage stellen, ob das Erzählte glaubwürdig ist und es mit den verfügbaren Informationen abgleichen. Ein lupenreiner Faktencheck wird aber nicht möglich sein. Bei meinem Langzeitprojekt auf Fluchtrouten quer durch den Balkan treffe ich immer wieder auf dieselben Leute, die versuchen zu fliehen und immer wieder scheitern. Einem, der inzwischen in Italien angekommen ist, habe ich mal die erste Version seiner Fluchtgeschichte gezeigt, die er mir vor vielen Jahren erzählt hat. Es bestand ein grosser Unterschied zu dem, was er inzwischen berichtete. Das bedeutet aber nicht, dass er mir am Anfang etwas vorgemacht hätte. Fluchtgeschichten ändern sich, das ist ein bekanntes Phänomen. Auf der Flucht ist man nicht mehr da, wo man war und auch noch nicht angekommen, da versucht man, sich selber eine Geschichte zu geben.

Manche Protagonistinnen oder 
Helfer kontaktieren Sie immer 
wieder, sie sind aber nicht immer gleich wichtig für Ihre aktuelle Arbeit. Denken Sie manchmal, diese Menschen beruflich auszunutzen?

Das Gefühl habe ich schon manchmal. In Krisensituationen sind wir Reporter oft weit und breit die einzigen, die nicht helfen. Es gibt Ärztinnen, Psychotherapeuten und wir stehen einfach daneben, saugen Stories ab, machen Bilder und geben nichts zurück. Oder höchstens in einem abstrakten Sinn, indem wir hier, tausende Kilometer vom Geschehen entfernt, darüber berichten. Hilft das, was wir Journalisten tun, diesen Menschen wirklich? Ich habe manchmal meine Zweifel. Aber was ist die Alternative?

Sie interessieren sich für das Thema Grenzen aller Art. Europa bietet da seit einigen Jahren zunehmend viel Anschauungsmaterial: Bosnien/ Kroatien, Polen/Belarus, Ukraine/ Russland, das Mittelmeer: Wie 
blicken Sie auf Europa?

Gut, Europa ist viel mehr als nur die sogenannte Migrationskrise. Aber die Tendenz, rundherum Mauern und Zäune zu bauen und viel Geld und Ideologie in dieses Projekt zu investieren, finde ich schon bemerkenswert und auch befremdlich. Denn Wirkung hat es ja fast keine; es ist ja nicht so, dass niemand mehr käme. Abschottung ist also sicher nicht der Garant schlechthin. Aber eine Lösung habe ich auch keine. Migration ist ein komplexes Thema. Was ich aber beobachten kann: Dass an den EU-Aussengrenzen unsere Menschlichkeit so langsam aber sicher auf der Strecke bleibt. Am Anfang dachte man ja, dass die Gewalt an der Grenze nur punktuell vorkommt. Aber es hat sich schon sehr bald abgezeichnet, dass es systematisch passiert. Systematisch und gewollt. Mit einem klaren Ziel: die Geflüchteten mit Gewalt zurückzudrängen.

Wie kam es zu ihrem radikalen 
Berufswechsel vom Philosophie-
professor zum Krisenreporter 
und -fotografen?

Ich hatte super Arbeitsbedingungen und tolle Studierende, die mich gefordert hatten. Das war eine grosse Freude. Trotzdem fragte ich mich: Will ich das jetzt noch zehn, zwanzig Jahre lang machen?

Und dann sagten Sie sich: So, jetzt werde ich Kriegsreporter?

Nein. Ich wollte einen Wechsel und war mir sicher, dass es mit Fotografie zu tun haben sollte. Ich hatte schon vorher ab und zu für NGOs fotografiert und journalistisch gearbeitet. Aus meinem Interesse für Grenzen aller Art, Mauern, Sprachgrenzen, Grenzen im Kopf, reiste ich in den Nahen Osten und dokumentierte den Israel-Palästina-Konflikt. 2015 wurde die Migration zum Thema, und ich begann, vertieft in diese Richtung zu arbeiten.

Wenn Sie in Biel sind, führen Sie ein normales Leben? Oder verspüren Sie eine déformation professionnelle, dass Sie zum Beispiel ständig in 
erhöhter Alarmbereitschaft leben, auf der Hut sind?

Manchmal, aber das hat eher mit Psychologischem zu tun. Ich glaube, wir alle kennen das: Wenn man mal in Gefahr war oder etwas sehr Belastendes erlebt hat, so speichert sich das in uns ab. Beklemmende Situationen können einem brutal nachgehen. Oft sind es Nebensächlichkeiten, die das auslösen. Der Körper vergisst nichts.

Aber zum Glück sind Sie ja Profi und wissen, wie man dieses Körpergedächtnis umprogrammieren kann.

Naja, etwas wissen und es an sich selber anwenden, sind bekanntlich unterschiedliche Dinge.

Denken Sie, dass das mit der Zeit 
zunehmen wird?

Vermutlich ja. Ich weiss von Kollegen und Kolleginnen, die kamen irgendwann an einen Punkt, an dem das Fass überlief. Niemand weiss genau, wann der kommt. Aber oft ist es auch eine diffuse Müdigkeit oder Traurigkeit, die einen aus dem Nichts anspringt. Wie auch immer, ich mache das alles ja freiwillig und kann auch immer zurück in meine Komfortzone. Meine Arbeit sehe ich als Privileg und nicht als Belastung. Dieser Blues, den ich ab und zu nach meinen Reisen habe, ist nichts im Vergleich zu dem, was die Leute durchmachen, denen ich begegne. Sie stecken immer noch in der Misere oder kämpfen um ihr Leben, wenn ich schon lange wieder hier bin.

 

 

Zur Person

1967 in Naters geboren

lebt in Biel

Studium der Philosophie 
an der Universität Bern

Bis 2012 Professor für Sprachphilosophie an der 
Universität Bern

Seither freischaffender 
Fotograf und Journalist.

Seit 2019 ausserdem Co-
Leiter des Strassenmagazins «Surprise»

Themenfokus: Armut, Ausgrenzung, Migration, Kriegs- und Krisengebiete

realisiert ein Langzeitprojekt zum Thema Migration mit 
Fokus auf der Balkanroute.

Spricht Englisch und lernt
 Arabisch 

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