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T itelgeschichte

«Mich interessiert, wie wir mit dem Fremden umgehen»

Heidi Specogna zeigt nächste Woche in Biel ihren neuen Dokumentarfilm «Stand Up My Beauty». Im Interview spricht die gebürtige Bielerin 
über einen Ort der Extreme, starke Äthiopierinnen und die wichtige Rolle von Kunstschaffenden in Zeiten von Fake News.

In «Stand Up My Beauty» begleitet HeidiSpecogna die Sängerin Nardos Wude Tesfaw, die davon träumt, eigene Songtexte zu schreiben und denFrauen inÄthiopien eine Stimme zu geben. Bild: zvg/Filmcoopi

Interview: Rudolf Amstutz

Heidi Specogna, in Ihrem neuen Film «Stand Up My Beauty» begleiten Sie Nardos, eine Azmari-Sängerin aus Addis Abeba, bei der Verwirklichung ihres Traums. Wie sind Sie auf diese Geschichte gestossen?

Heidi Specogna: Ich reiste nach Äthiopien mit einer völlig anderen Geschichte im Kopf. Doch die löste sich vor Ort in Luft auf. Ich war frustriert, weil ich um die halbe Welt gereist war und mich mit dem Gedanken anfreunden musste, mit einem leeren Rucksack nach Hause zurückzukehren. Am letzten Abend meines Aufenthaltes ging ich in den Musikclub «Fendika» und erlebte dort einen Auftritt von Nardos. Ich wusste sofort, dass ich über diese Frau, die auf mich eine grosse Anziehungskraft ausübte, einem Film machen wollte.

 

Sie haben einmal gesagt, es führe jeweils ein loser Faden eines abgeschlossenen Films zum nächsten Projekt. Welcher nicht zu Ende verfolgter Gedanke führte von Ihrem preisgekrönten «Cahier africain» zu «Stand Up My Beauty»? 

Zu Beginn war ich mir des roten Fadens, der die beiden Werke miteinander verbindet, noch nicht bewusst. In «Cahier africain» sieht man die Hauptprotagonistin Amzine, wie sie in einem Flüchtlingslager im Tschad auf einem brachen, staubigen Fleckchen Erde steht. Mit ihrem jüngsten Kind auf dem Arm, erzählt sie, wie sie sich diesen ungastlichen Ort in Zukunft vorstellt und was sie da bauen möchte. So endet der Film. Und am Beginn des neuen Films steht auch ein Traum: Nardos möchte als Sängerin ihre eigene Musik machen und eigene Inhalte erzählen. Das ist der rote Faden. 

 

Man könnte sagen, dass nicht Sie das Thema gefunden haben, sondern das Thema Sie.

Das stimmt. Hinzu kommt ein besonderer Aspekt des Dokumentarfilms. Er hat – im Gegensatz zum Spielfilm – kein starres Drehbuch, das realisiert werden muss. Für mich ist der Dokumentarfilm in dieser Hinsicht sehr viel näher an der bildenden Kunst und der Musik. Wir arbeiten mithilfe des gesammelten Materials. Anhand dessen, was wir während der Dreharbeiten kennenlernen und was unsere Arbeit laufend beeinflusst. Und dann gibt es noch einen zweiten grossen Prozess, wenn das Material im Schneideraum gesichtet wird. Dort wird der Film im Prinzip noch einmal geschrieben. 

 

Das braucht Zeit …

… und Menschen, die auf der Produktionsebene diese Art des Prozesses teilen. Als Filmemacherin kämpfe ich dafür, dass diese Entwicklungsmöglichkeiten während der Arbeit weiterhin möglich bleiben und nicht einige Beteiligte stur auf der ursprünglichen Idee eines Projektes beharren. 

 

In «Stand Up My Beauty» lernen wir mit Äthiopien ein Land kennen, das vielen fremd ist. Wir sehen eine Gesellschaft, die einzig und allein von den Frauen angetrieben wird. Von Frauen notabene, die bereits als kleine Mädchen zwangsverheiratet wurden. 

Das ist leider die Realität. Die ist zu grossen Teilen so in der Tradition festgeschrieben. Äthiopien ist ein schwer zu erfassendes Land. Es ist sehr gross und besitzt abgelegene Täler, in die keine Nachrichten gelangen und wo auch keine Gesetze herrschen. Grundsätzlich gäbe es eine Schulpflicht für Mädchen, aber wie will man diese in den abgelegenen Gebieten durchsetzen? 

 

Sie akzentuieren im Film auch den gigantischen Kontrast zwischen Stadt und Land.

Addis Abeba ist eine ungemein boomende Stadt. Dort haben alle grossen Organisationen ihren Sitz. Das zieht gut ausgebildete, junge Leute an. Diese Stadt wird grundlegend umgebaut und hat sich während unseren Dreharbeiten laufend verändert. Es ist ein Ort der Extreme. Der Genuss grosser Freiheiten prallt auf die Traditionen des Landes. Im Film zeige ich zwei Mädchen vom Land, die auf dem Bau arbeiten. Das Geld, das sie verdienen, reicht gerade mal, um sich zu ernähren. Gleichzeitig sind sie auf einer Baustelle tätig, auf der am Ende ein 80-stöckiges Hochhaus stehen wird. Diese unglaublichen Kontraste stellten eine grosse Herausforderung für uns dar. Man muss zu einer Haltung, zu einer Position finden, um in der Lage zu sein, ein grösstmögliches Spektrum dieser Realität abbilden zu können.

 

Die Rolle der Männer ist interessant. Sie übernehmen keine gesellschaftliche Verantwortung.

Der Film bildet das Verhältnis der Geschlechter genauso ab, wie wir es erlebt haben. Der Ehemann von Nardos ist in ihrem Leben nicht präsent. Er ist zwar der Gastgeber bei der Taufparty, aber organisiert hat er sie nicht. Ich habe keine aktiven Männer oder fürsorglichen Väter herausgeschnitten. Die Absenz einer tragenden Rolle durch Männer hat dazu geführt, dass sich die Frauen gegenseitig unterstützen. Sie waren nie abhängig von einem Mann und sind in der Lage auf eigenen Beinen zu stehen. 

 

Und trotzdem haben diese Männer mit der Zwangsheirat eine Tradition ins Leben gerufen, unter der die Frauen massiv zu leiden haben. Eine der ergreifendsten Szenen im Film ist jene, in der Nardos erstmals ihr eigenes Lied vorträgt und so den Frauen eine Stimme gibt und damit ein Tabu bricht. 

Das Lied ist ja immer noch sehr verklausuliert. Sie spricht von einer jungen Blume, die hinter verschlossenen Türen blüht. Als Aussenstehende kann man den Text vielleicht nicht verstehen, aber die Frauen, die zuhören, wissen sofort, worum es geht. Dies mitzuerleben, war eine unglaubliche Erfahrung für mich. Das Thema wird so unterdrückt und ist gleichzeitig so präsent, dass man es in jedem Wort spürt.

 

Den männlichen Musiker, der mit von der Partie ist, scheint der Inhalt allerdings nicht zu kümmern. 

Ich habe auch erlebt, dass Frauen nach gewissen Aussagen bewusst gemeinsam lachen. Man spricht es aus und nimmt es anschliessend wieder zurück. Dieses Spiel mit Doppeldeutigkeiten ist in dieser Gesellschaft bis in den letzten Winkel hinein präsent. 

 

Als Filmemacherin benötigen Sie eine Nähe zu Ihren Protagonistinnen und Protagonisten, als Journalistin dagegen müssen Sie darauf achten, die Distanz zu wahren. Wie problematisch ist dieser schmale Grat?

Ich bin nicht allein, wenn es darum geht, die richtige Mischung zwischen Subjektivität und Objektivität herzustellen. Für Kamera und Ton sind seit Jahren dieselben Personen an meiner Seite. Wenn ich Vorgespräche führe, ist der Kameramann unterwegs und fängt Bilder ein. Zudem habe ich alles, was der Tonmann aufgeschnappt hat, übersetzen lassen. Zu dritt gelingt es uns, eine dem Thema entsprechende Perspektive einzunehmen. 

 

Für die Filmmusik zeichnete mit Hans Koch ein Bieler verantwortlich. 

Hans und ich arbeiten seit Jahren zusammen. Wegen der Pandemie kommunizierten wir ausnahmsweise digital. Normalerweise kommt er in den Schneideraum und improvisiert live zu den Bildern. Für den Film «Tupamaros» reiste er mit uns nach Montevideo und durchwanderte die Stadt oder spielte in leeren Lagerhallen, um vor Ort die Textur der Stadt und den passenden Sound zu ergründen.

 

«Fake News» sind eines der grossen Probleme unserer Zeit. Auch der Dokumentarfilm ist davor nicht gefeit, weil er Fakten suggerieren kann, wo keine sind. Wie erreicht man, dass die Authentizität dieses Genres weiterhin gewährleistet werden kann? 

Da steht in der Tat viel auf dem Spiel. Es geht darum, welches Verhältnis wir zu unserem Publikum haben. Ich bin darauf angewiesen, dass das Publikum weiss, dass ich hinter meinen Film stehe. Was ich in meinen Filmen zeige, ist das, was ich erlebt habe. Wir Filmemacher schliessen in den ersten Minuten eines Films einen Vertrag mit dem Publikum. Es muss ganz klar ersichtlich sein, was ich mit meinem Film beabsichtige. In meiner ethischen Vorstellung ist es deshalb nicht legitim, den Vertrag im Laufe des Filmes zu ändern und das Publikum mit einer anderen Form zu konfrontieren. Im Journalismus kennen wir verschiedene Formen – die Reportage, den Kommentar oder den Leitartikel. Anhand dieser Gefässe kann das Publikum den Hintergrund einer Äusserung verstehen und einordnen. Doch diese Abgrenzungen verschwimmen zunehmend. Wir müssen aufpassen, dass die Menschen das Vertrauen in uns nicht verlieren. Das ist unser einziges Kapital. 

 

Ansonsten glaubt man am Ende auch der wahren Dokumentation nichts mehr. 

So ist es. 2008 habe ich «Das kurze Leben des José Antonio Gutierrez» am Sundance Festival in den USA gezeigt. Darin gibt es eine Szene, in der man sieht, wie Flüchtlinge auf einen Zug springen, um in die USA zu gelangen. Nach der Vorführung wollte das Publikum wissen, wie ich es geschafft hätte, all diese Leute auf diesen Zug zu bringen. Das war vor 15 Jahren und schon damals hat man meinem Film nicht mehr Glauben geschenkt. In den USA existiert ein kollektiv akzeptiertes Faktenlevel schon lange nicht mehr. Jeder glaubt nur noch seiner eigenen Quelle. Und ich hoffe sehr, dass wir es schaffen, diese Entwicklung bei uns noch abwenden zu können. 

 

Sie schildern in Ihren Filmen das Grosse mithilfe des Kleinen, erzählen anhand des Lebens von Menschen das Schicksal einer ganzen Region oder eines Landes. Ihre Geschichten aus der Ferne tragen aber auch dazu bei, dass wir das Fremde in unserem eigenen Leben erkennen können. Was reizt Sie am Erzählen von Geschichten, die scheinbar weit von uns entfernt geschehen?

Mich interessieren das Fremde und die Frage, wie wir mit dem Fremden umgehen. «Weshalb Afrika?», werde ich immer wieder gefragt. Um dies zu beantworten, bemühe ich den allerersten Film, den ich je gedreht habe. Er handelt von der Gemeinde Wileroltigen, also von einem Ort, der nur 20 Minuten von Biel entfernt ist. Ich traf damals auf eine völlig andere Kultur, auf eine andere Sprache und ich muss sagen, ich war in meinem Leben noch nie an einem fremderen Ort als in Wileroltigen. (lacht) Gleichzeitig steht diese Gemeinde auch für das Kleine. Erst an einem solchen Ort schärfen wir unseren Blick für das Andere und wir lernen, das Fremde in uns selbst zu erkennen. Der Film war damals Teil meiner Ausbildung und das geforderte Thema lautete: Wie stelle ich das Fremde dar? Wie finde ich eine Sprache dafür? 

 

Sie lehren an der Filmakademie Baden-Württemberg. Was können Sie einer jungen Generation an Filmemacherinnen und -machern weitergeben?

Sie sollten sich die Erkenntnis bewahren, dass Reisen und praktische Arbeit sehr viel mehr wert sind, als alle Diplome, die man sich in seinen Lebenslauf schreiben kann. Es gibt in «Stand Up My Beauty» eine Szene, in der Nardos erzählt, dass sie früher auf dem Bau gearbeitet hat. Sie macht dabei ganz kurz eine solche Handbewegung (Sie deutet an, etwas Schweres zu heben, Anm. d. Red.). Das dauert nur ein, zwei Sekunden, aber die Körpersprache und die Geste beweisen, dass Nardos weiss, wovon sie spricht. Jemand, der nie gearbeitet hat und immer nur die Schulbank gedrückt hat, würde dies nicht erkennen. 

 

Nun präsentieren Sie «Stand Up My Beauty» persönlich in Biel. Ist diese Heimkehr für Sie als Wahl-Berlinerin auch heute noch etwas Besonderes? 

Unbedingt. Schliesslich habe ich in Biel alles gelernt, was ich für mein späteres Leben benötigt habe. Ich erinnere mich gerne zurück an die «Cinq à Sept»-Vorführungen oder das Kino Metro. Auch das «Bieler Tagblatt» bedeutet mir viel, habe ich doch als Zwölfjährige auf der Jugendseite begonnen zu schreiben. Ich habe meine ersten Artikel nur mit Heidi gekennzeichnet (lacht). Biel ist im Vergleich zu anderen Städten auch ein extrem offener Ort. Für uns fühlt sich Paris genauso nah an wie Zürich. Diese spezielle Perspektive auf die Welt nehmen wir mit, wenn wir wegziehen.

Info: «Stand Up My Beauty», Vorpremiere am nächsten Mittwoch um 18 Uhr im Kino Rex in Biel. Heidi Specogna wird anwesend sein und Fragen aus dem Publikum beantworten. Das BT verlost Tickets. Mehr dazu auf der Filmseite vom Samstag.

 

Wie eine gute Freundin

Während des Kaiserreichs waren die Azmari in Äthiopien für die soziale Kritik zuständig. Sie sangen nicht nur über alltägliche Dinge, sondern griffen auch mal die Mächtigen an, wenn das Volk mit ihnen nicht zufrieden war. Heute singen die Azmari meist in Nachtclubs. Zu traditioneller Musik unterhalten sie die Nachtschwärmer und Touristen mit improvisierten Inhalten, die nur selten tiefer gehen.

Die junge Sängerin Nardos Wude Tesfaw will dies ändern. Als Kind wurde sie von der Mutter in die Stadt geschickt, damit sie nicht zum Opfer einer Tradition wird, die in den ländlichen Gebieten Äthiopiens bis heute aufrechterhalten wird: Die Zwangsheirat junger Mädchen mit erwachsenen Männern. Nardos Traum ist es, eigene Lieder zu schreiben mit eigenen Texten, die den betroffenen Frauen eine Stimme verleihen sollen.

Die Fügung des Schicksals war es, die Nardos und die Bieler Filmemacherin Heidi Specogna zueinander hat finden lassen. Desillusioniert, weil sich das ursprüngliche Thema nicht konkretisieren liess, besucht Specogna am letzten Tag ihres Aufenthaltes den Musikclub «Fendika» und erlebt dort die charismatische Ausstrahlung dieser jungen Frau. Specogna, die bereits in ihrem letzten Film, dem mehrfach preisgekrönten «cahier africain», die Resilienz von Frauen in den Mittelpunkt gerückt hat, wird in «Stand Up My Beauty» zur kongenialen Begleiterin von Nardos.

Während sechs Jahren hat Specogna die junge Mutter begleitet. Reist mit ihr in entlegene Täler, besucht ihr Heimatdorf und protokolliert mit einer präzisen Mischung aus empathischer Nähe und journalistischer Distanz den Alltag von Nardos. Wir lernen im Laufe dieser behutsam aufgebauten Geschichte zahlreiche Protagonistinnen kennen: Die Mutter, die ihre verlorene Tochter empfängt. Die Schwiegermutter, die erstmals einer Kamera ihr Schicksal offenbart. Und auch Gennet, die im Stillen ihren Schmerz als Poesie aufs Papier bringt und nun gemeinsam mit Nardos das Leid in Musik verwandelt.

«Stand Up My Beauty» unterstreicht einmal mehr deutlich die Stärke von Heidi Specogna. Parallel zum geschilderten Einzelschicksal schafft sie es, das ganz grosse Bild zu zeichnen. In diesem Fall jenes einer Gesellschaft, die sich zwischen Tradition und Moderne reibt. 

Der Film erzählt auch von der passiven Rolle der Männer und der Tatsache, dass das Funktionieren des äthiopischen Alltags einzig und allein von den Frauen aufrechterhalten wird. Und er erzählt auch vom Wandel der Zeit: In wortlosen Bildern wird uns vorgeführt, wie Addis Abeba sich – unter chinesischer Bauherrschaft – Schritt für Schritt zu einer gigantischen Skulptur aus Beton und Glas erhebt.

«Stand Up My Beauty» mag eine Geschichte einer uns fremden Welt erzählen und doch schafft es Specogna mit feinsten Details immer wieder aufzuzeigen, dass das Menschsein – egal, wo wir uns befinden und egal, wie wir leben – uns verbindet. Am Ende erscheint uns Nardos wie eine gute Freundin. Und in jenem Moment, in dem sie erstmals ihr Lied vorsingt – das Lied über die Blume, die hinter verschlossenen Türen blüht – und wir dank der ruhenden Kamera in die Augen der Frauen blicken dürfen, zerfällt das Fremde endgültig. In einer Welt, die sich zunehmend anfühlt, als würde sie auseinanderbrechen, führt uns Specogna mit ihren subtil erzählten Geschichten wieder zueinander. Rudolf Amstutz

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