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Ipsach

Mit dem Fahrrad an den nördlichen Rand Europas

Über Nacht hat sich Emanuel Etter entschieden, seinen Job zu kündigen und sich einen lang gehegten Traum zu erfüllen. Mit seinem Fahrrad legte der Seeländer in 41 Tagen rund 4000 Kilometer zurück. Er fuhr durch Deutschland, Dänemark und durch Norwegen – bis er das Nordkap erreichte.

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Michael Lehmann

Spontaner Applaus brandete auf, als Emanuel Etter mit seinem vollbepackten Fahrrad das Nordkap auf der norwegischen Insel Magerøya erreichte. Eine Gruppe von Motorradfahrern, die ebenfalls gerade angekommen waren, liess es sich nicht nehmen, den jungen Seeländer auf den letzten Metern seiner Veloroute anzufeuern. Er werde das Gefühl nie vergessen, als er beim Globus ankam, dem bekannten Wahrzeichen auf dem Schieferplateau. Zuvor fuhr Etter durch den knapp sieben Kilometer langen Nordkaptunnel. Der Unterwasserweg liegt an tiefster Stelle 212 Meter unter dem Meeresspiegel und verbindet die Insel Magerøy mit dem Festland. «Die Umrisse der Nordkaphallen sieht man bereits aus etwa 13 Kilometern Entfernung», sagt Etter. Auf diesem Abschnitt müsse man jedoch einige Höhenmeter absolvieren, also nochmals die Kraftreserven mobilisieren.

In den letzten Minuten seiner Reise gingen dem 23-Jährigen zweierlei Gedanken durch den Kopf. «Zum einen Stolz und Freude, die rund 4000 Kilometer lange Strecke von Ipsach ans Nordkap tatsächlich geschafft zu haben.» Andererseits auch eine gewisse Wehmut, angesichts der ungewissen Zukunft. Nachdem er seinen Job gekündigt hatte, verfolgte Etter 41 Tage lang einen klaren Plan: Tag für Tag etwas näher ans Nordkap zu gelangen. Was nun?

Job gekündigt, Velo gekauft
Den Entscheid, mit dem Fahrrad bis zum Arktischen Ozean zu fahren, fällte der Seeländer quasi über Nacht. Die Idee hingegen war über mehrere Jahre gereift. «Begonnen hat es vor rund drei Jahren, als ich im ersten Semester meiner Berufsmatura war», erinnert sich Etter. In diesem hatte er zu Beginn etwas zu kämpfen. Er befürchtete gar, das erste Halbjahr nicht zu bestehen und die Schule verlassen zu müssen. Etter fragte sich, was er anstatt der Ausbildung machen sollte. Bald dachte er an eine längere Reise. Diese wollte er «aus eigener Kraft» bestreiten. Mit einem klaren Ziel, das er verfolgen konnte. Beim Recherchieren stiess er ein erstes Mal auf einen Reisetipp ans Nordkap.

Die immer konkreter werdende Idee hat Etter dann vorerst verworfen, denn er bestand das Semester. Der gelernte Polymechaniker arbeitete zuletzt eineinhalb Jahre auf seinem Beruf. Eigentlich hatte er die Stelle als Übergangslösung angetreten, lieber hätte er ein Film- und Fotografiestudium begonnen. Die Aufnahmeprüfung war ihm jedoch missglückt.

Erneut fragte er sich, wie es weiter gehen sollte. Die Reise ans Nordkap kehrte zurück ins Zentrum seiner Gedanken. Lange hing er dem Traum nach und fragte sich, ob er überhaupt realisierbar sei. Im Frühling sagte er sich: Jetzt oder nie. Wollte er die berühmte Mitternachtssonne erleben, musste er handeln. Denn die ist am Nordkap im Sommer für etwa zweieinhalb Monate zu bestaunen. Er kündigte seinen Job. «Dieser Schritt ist mir enorm schwergefallen», sagt Etter rückblickend. Nun sei er froh, dass er den Mut dafür aufgebracht habe.

Eine längere Fahrradtour hatte Etter zuvor nicht gemacht. Er investierte deshalb einiges in ein neues Velo. Wichtig war ihm vor allem eine Übersetzung mit einem möglichst kleinen Gang, bei der die zurückgelegte Strecke pro Kurbelumdrehung weniger als 1,40 Meter beträgt. Denn je tiefer diese ist, desto kraftsparender lässt es sich bergauf fahren. Sein Fahrrad war nämlich mit je zwei Seitentaschen à 25 Liter (Hinterrad) beziehungsweise 12 Liter (Vorderrad) und einer weiteren Tasche mit 31 Liter Fassungsvermögen (auf den hinteren Seitentaschen) ausgestattet. Das sind insgesamt mehr als 100 Liter. Dazu kam noch ein Zelt, das separat zwischen Sattel und der 31-Liter-Satteltasche geklemmt wurde. «Fürs Anfahren und bergauf Fahren brauchte es schon etwas Kraft in den Beinen», so Etter.

Täglich 100 Kilometer
Mit einem Outdoor-Navigationssystem ausgerüstet, machte sich Etter anfang Juni auf die Reise. Die Route hatte er grob geplant und aufs Navi übertragen. Durchschnittlich legte er pro Tag 100 bis 120 Kilometer zurück. «Meist fuhr ich mal 90 Kilometer und schaute dann, wo in der Nähe ein Campingplatz ist.» Die Nächte, die Etter nicht in seinem Zelt verbrachte, sind an einer Hand abzuzählen. Beispielsweise als er einmal mehrere Stunden im Regen herumgefahren war, er bereits 100 Kilometer zurückgelegt hatte und der nächste Campingplatz noch 30 Kilometer entfernt war. «Da gönnte ich mir ein Motel.»

Das Navi hatte zudem einen GPS-Sender, der es ihm einerseits ermöglichte, im Notfall ein Signal auszusenden. Andererseits konnten Freunde und Familienangehörige seine Route auf einer Website in Echtzeit verfolgen. Für seine Mutter sei dies beruhigend gewesen, für seine Kollegen spannend. Etter erhielt viele Rückmeldungen. Die einen fragten nach Bildern seines momentanen Standortes, andere spornten ihn nach längeren Aufenthalten scherzhaft an, er solle sich mal wieder bewegen.

Seine Route führte Etter meist am Rhein entlang durch Deutschland nach Dänemark, wo er eine Fähre nahm und so nach Norwegen gelangte. Wäre er durch Schweden gefahren, hätte ihm das Zeit und Kraft gespart. Diese Strecke ist nicht nur kürzer, sondern auch weniger hügelig. Etter hat sich aber bewusst gegen die «leichtere» Route entschieden. Zum einen weil er Schweden von einer früheren Reise schon etwas kennt, zum anderen, weil ihn diese Strecke vor allem durch Wälder geführt hätte. Das, so befürchtete der Ipsacher, hätte ihm mit der Zeit zugesetzt. Lieber nahm er etwas steilere Wege in Kauf, als auf die spektakulären Aussichten auf die norwegischen Fjorde zu verzichten.

Wiederholt zogen Etter und sein mit diversen Taschen verziertes Fahrrad neugierige Blicke auf sich. Beispielsweise als er den 66. Breitengrad, also den Polarkreis, überquerte. «Als ich am Polarkreiszentrum ankam, sprachen mich einige Personen an. Dazu wollten viele ein Foto von mir machen und so wurde ich selbst zur Touristenattraktion.»

«Es gibt noch Verrücktere»
Ein mentales Tief habe er nicht durchleben müssen, sagt Etter. «Klar gab es mühsame Tage, an denen es kalt war und ich mit viel Gegenwind kämpfte.» Er habe sich jedoch nicht unter Druck gesetzt, denn es sei ihm nie darum gegangen, jemandem etwas zu beweisen. «Ich habe das wirklich nur für mich gemacht.» Für den Heimweg setzte sich Etter dann doch in ein Flugzeug. Er erklärt: «Ich habe nie eine Rundreise geplant, sondern hatte immer ein klares Ziel vor Augen.»

Geblieben sind dem Seeländer vor allem die neuen Bekanntschaften, die er unterwegs oder auf den Campingplätzen machte. Sein Fazit: «Egal was du vorhast, es gibt immer Menschen, die noch etwas viel Verrückteres machen.» So traf er beispielsweise auf einen Uruguayaner, der seit vier Jahren auf dem Fahrrad unterwegs ist. Er durchquerte zuerst Südamerika, flog dann nach Marokko um später durch Europa zu fahren. Dabei zeltete er immer wild und gab pro Tag wenn möglich nicht mehr als fünf Euro aus. Als Nächstes werde der Südamerikaner wohl via Finnland nach Russland fahren, um danach Asien zu erkunden.

Auch eine Option für Etter? Er winkt lachend ab. «Es war sicher nicht meine letzte Velotour, aber momentan ist nichts Neues geplant.» Und doch spricht er nur wenig später von möglichen Fahrten durch die USA oder Neuseeland. Denn die nächste Tour müsse diese natürlich übertreffen. «Ich brauche ja einen neuen Traum.»


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Gastfreundschaft in Hamburg und Palmen in Frederikshavn

Auf seiner Velotour zum Nordkap hat Emanuel Etter sämtliche Stopps auf einer Karte markiert. Was er an diesen Ortschaften oder auf dem Weg dorthin erlebt hat, hat er ebenfalls notiert. Hier eine Auswahl seiner Erlebnisse.

5. Juni 2017, Start
Start in Ipsach von meinem Zuhause aus. Das Ziel: mit dem Fahrrad ans Nordkap fahren. Da hiess es nicht nur, von der Familie Abschied zu nehmen, sondern auch von meinem Freundeskreis. Deshalb gab es schon nach wenigen 100 Metern einen Zwischenstopp in der «Lago Lodge», wo eine Gruppe von etwa zwölf Personen auf mich wartete. Und dann war der Moment da, in dem der letzte Schluck getrunken und die Biergläser geleert waren. Es war der Beginn eines Abenteuers, das ich selbst noch gar nicht so im ganzen Ausmass erkannte.

Tag 4
Kurz bevor ich Frankfurt erreichte, wurde meine Achillesferse von einem immer stärker werdenden Schmerz durchzuckt. Als ich dann beim Camping ankam, konnte ich nur noch mit Mühe Laufen und humpelte stark. Zum Glück hatte ich Verbandszeug und Salben in meiner Notfallapotheke.

Tag 6
Gestern war ich erst am Anfang der fränkischen Berge und ich empfand es schon als relativ hügelig. Doch was heute darauf folgte, war mehr als heftig. Es gab kaum flache Strassen und die Hügel reihten sich hintereinander auf. Das zehrte an meinen Kräften und an meinem Essensvorrat.

Tag 9
Hamburg! Was für eine wunderschöne Stadt. Und die Menschen hier sind so hilfsbereit. Als ich in Hamburg ankam, wusste ich noch nicht genau, wo ich übernachten kann. Während ich auf meinem Smartphone nach einer Übernachtungsmöglichkeit suchte, näherte sich mir von der Seite ein junger Mann und fragte mich, ob er mir helfen kann. Er stellte sich als Ali vor. Ich erklärte ihm, dass ich eine Unterkunft für eine Nacht suche und erzählte ihm von meinem Vorhaben. Ali war unglaublich beeindruckt und sagte mir, er würde so etwas auch sehr gerne machen. Weil er aber schon eine Familie und Verpflichtungen habe, sei das nicht möglich. Dann sagte er mir, er kenne eine Jugendherberge direkt im Zentrum von Hamburg. Kaum hatte ich mein Interesse bekundet, nahm er schon sein Smartphone hervor, rief die Jugendherberge an und reservierte ein Zimmer auf meinen Namen. Ich suchte in meinem Navigationsgerät nach der Adresse, aber es zeigte eine Fehlermeldung an. Ali holte kurzum sein Auto und fuhr im Schritttempo vor mir durch die Innenstadt Hamburgs. Ich folgte ihm bis zur Jugendherberge.

Tag 14-15
Nach 14 Tagen Fahrradfahren kam ich in Frederikshavn (in der Nähe Aalborgs) an. Hier oben in Dänemark, 1500 Kilometer nördlich der Schweiz, fühlte ich mich, als wäre ich irgendwo in Spanien. Ich genoss diesen Tag mit Nichtstun und Baden am Palmenstrand.

Tag 16
Kaum in Norwegen angekommen, spürte ich schon das hügelige Gelände. Um auf den Campingplatz zu gelangen, musste ich die wohl steilste Strasse fahren, die ich jemals gesehen habe. Als ich am Camping nach den paar 100 Metern ankam, fühlte es sich so an, als wäre ich schon einen halben Tag lang Fahrrad gefahren. Da realisierte ich, dass Norwegen viel Kraft und Energie kosten wird.

Tag 21
Zwei Tage vor Trondheim war der härteste Tag auf der gesamten Tour. Es regnete unaufhörlich und es war saukalt, nur etwa 7 Grad. Dazu kamen von Nordwesten heftige Windböen, die mich manchmal fast vom Fahrrad rissen. Zu allem Unglück war an diesem Tag meine Jacke nicht mehr dicht und ich war schon nach 30 Minuten «pflotschnass». Weitere sechs Stunden so zu fahren, war nicht gerade motivierend.

Tag 22-24
Aufenthalt in Trondheim für einen kleinen Service am Fahrrad. Es ist die bis dahin schönste Stadt auf meiner Fahrradtour. Den späteren Abend nutzte ich, um am Hafen ein Bier zu trinken. In der Bar/Disco machte ich Bekanntschaft mit einigen Norwegern, die mich dann zu sich nach Hause eingeladen haben. Es war schon verrückt, um 5 Uhr morgens war ich irgendwo in Trondheim in einer Wohnung mit sechs hübschen Norwegerinnen, die ich bis vor ein paar Stunden noch gar nicht kannte.

Tag 31
Kurz bevor ich Bodo erreichte – es waren nur noch etwa 12 Kilometer – erwischte mich ein heftiger Regenschauer, der bis zum nächsten Morgen andauerte. Ich war sehr froh, als ich in der Jugendherberge ankam und noch ein Bett zur Verfügung stand. Ich teilte mir das Zimmer mit einem Spanier und einem Norweger, der auf den Lofoten lebt. Als ich ihm erzählte, dass ich mit dem Fahrrad von der Schweiz losgefahren bin, war er so beeindruckt und fasziniert, dass er mir seinen ganzen Essensvorrat überreichte. Er meinte, dass ich ihn mehr benötige als er.

Tag 32
Auf den Lofoten angekommen, eröffnete sich mir schon am ersten Tag eine beeindruckende Landschaft. Zwischen den steilen und spitzigen Bergen schlängelt sich entlang der Küste eine schmale Landstrasse. Die erste grössere Ortschaft ist Reine, überall sind Holzgestelle zu sehen, an denen die Fische getrocknet werden – begleitet von einem beissenden Gestank.

Tag 34
Die Fahrt ging an vielen Fjorden vorbei. Auf den Lofoten gibt es leider einige Tunnels zu durchqueren. Ich versuchte, wenn es möglich war, die Tunnels entlang der Küstenstrasse zu umfahren. Bei einigen war das nicht möglich. Immerhin: Das war sicher eine gute Vorbereitung auf den bevorstehenden Nordkaptunnel.

Tag 38
Was für ein Abend gestern. Mit zwei Deutschen habe ich gekocht und zu Abend gegessen. Dann stiessen noch zwei Holländer zu uns, die auch eine Skandinavien-Rundreise machten. Aber deren ganze Ausrüstung bestand nur aus einem Auto und etwa zehn 24er-Harrasen Heineken. So wurde es ein langer Abend, an dem das eine oder andere Bier geflossen ist.
Der Tag war dann relativ anstrengend, da ich über zwei Pässe fahren musste. Ich war sehr froh, als ich nach knapp 85 Kilometern mein Tagesziel erreichte.

Tag 41
Nordkap! Weder Hügel noch Unterwassertunnel konnten meine Motivation und Fahrt stoppen!
Der Weg dahin war steil, steinig und sehr windig. Als ich von einer Anhöhe das Nordkap etwa 13 Kilometer entfernt sah, war das ein unbeschreiblicher Moment. Ich fuhr weiter und passend zu dieser Situation und Gefühlen spielte ich den Song «We are the Champions» ab.
Als ich das Nordkap nach einem Letzten beschwerlichen Aufstieg erreichte, gab es eine wirklich schöne Überraschung für mich. Um den Eingangsbereich haben sich etwa sechs Motorradfahrer versammelt und alle klatschten, als ich die Pforte zum Nordkap durchfuhr. Und nun, hier am Ende der Strasse, stand ich vor dem symbolträchtigen Globus. 41 Tage und 4167 Kilometer nach dem Start in Ipsach. 

Aufgezeichnet: leh
 

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