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Nidau

"Mit dem Schreiben eignen wir uns unsere Geschichte neu an"

Johannes Gruntz-Stoll hat mit über 60 Jahren einen eigenen Verlag geglründet. Wie kommt man dazu und was hat sein Entscheid mit Erinnerungen und Heimat zu tun? Ein Besuch beim emeritierten Professor für Erziehungswissenschaften in Nidau.

Johannes Gruntz-Stoll: Geistreicher Erzähler, genauer Beobachter. Bilder: Matthias Käser
  • Dossier

von Raphael Amstutz

Der eigenen Geschichte nachspüren. Und dabei vielleicht auch Antworten finden auf allgemeingültige Fragen: Wie sind wir zu denen geworden, die wir sind? Warum sind Weichenstellungen so und nicht anders ausgefallen? Das steht am Anfang des Verlags Das Archiv, den der in Nidau lebende Basler Johannes Gruntz-Stoll vor kurzem gegründet hat.
 

Aufräumen und loslassen
Gruntz-Stoll hat eine reichhaltige und umfangreiche Biografie, er blickt auf ein Leben mit vielen Geschichten. Der 66-Jährige unterrichtete als Lehrer in Basel und im Kanton Appenzell Ausserrhoden. Er studierte Pädagogik, Pädagogische Psychologie, Philosophie und Ethnologie, doktorierte und habilitierte. Später war er in der Aus- und Weiterbildung von Lehrpersonen tätig – unter anderem am Sonderpädagogischen Seminar in Biel. Er leitete das Institut für Spezielle Pädagogik und Psychologie an der Universität Basel, arbeitete als Professor und übernahm regelmässig Lehraufträge im Bereich der Bildungswissenschaften.

«Immer wieder habe ich bei Familientreffen erlebt», so Gruntz-Stoll, «dass beim Betrachten alter Fotos oder beim Erzählen von Erlebnissen die Frage auftauchte: Wie war das damals genau?» In seinem Beruf hat er die Erfahrung gemacht: Erinnerungen sind ein Konstrukt. Erinnerungen sind subjektiv. Erinnerungen sind lückenhaft.

Gruntz-Stoll erwähnt den grossen, 2007 verstorbenen deutschen Schriftsteller Walter Kempowski. Dieser wurde durch seine stark autobiografisch geprägten Romane bekannt. «Ihm fühle ich mich verbunden. Ich mache etwas Ähnliches, einfach in bescheidenerem Rahmen», sagt Gruntz-Stoll. Der emeritierte Professor erzählt von den über 3000 Dias seines Vaters, die er übernommen hat. Er hat gesichtet und geordnet. Aber auch: weggelassen und verzichtet.

«Aufräumen und loslassen sehe ich als eine wichtige Aufgabe in unserem Leben», sagt er. Gruntz-Stoll hat das ständig getan. Das Ehepaar führte vor der Rückkehr nach Nidau «Quartalsversteigerungen» in der Familie durch, bei denen Aussortiertes aus dem eigenen Haushalt weitergegeben wurde. Übriggebliebenes wurde an Kindertagesstätten und Brockenhäuser verschenkt.
 

Haus und Holzspielzeug
Das Nachdenken über Weichenstellungen hat den ehemaligen Lehrer zur Verlagsgründung geführt. Eine solche «Weiche» war der familiäre Entscheid, Mitte der 80er-Jahre erstmals Ferien im Lötschental zu machen. Die Wohnung befand sich in einem Haus, das der Familie etwas mehr als zehn Jahre später zum Verkauf angeboten werden sollte. Das alte Gebäude (1617 erbaut) war der Auslöser der ersten Publikation im eigenen Verlag. Gruntz-Stoll arbeitete nämlich die Geschichte des Hauses auf. Parallel dazu ist er auch um eine Bibliografie der Literatur zum Lötschental besorgt, einer Gegend, für die er eine grosse Zuneigung verspürt.

Die Idee, ein Büchlein zum Haus herauszugeben, konkretisierte sich nach und nach. Doch wie das Ganze angehen? Er hatte zwar früher bereits publiziert – Fachliteratur vor allem – dies aber immer bei Fremdverlagen. Ein Freund, der im Verlagswesen kundig ist, riet ihm: «Leg’ einfach los und gründe einen Verlag.» Gruntz-Stoll besorgte sich eine ISBN-Nummer, liess den Namen im Handelsregister eintragen. Schliesslich erschien im vergangenen Jahr das Heft «Das Haus Hinderm Lerch – 1617-2017».
Und daraus ergab sich gleich der zweite Band. Im Haus im Lötschental sind nämlich unzählige Spielzeugfiguren aus Russland zu finden. Gruntz-Stoll ging auf Spurensuche, forschte, fragte nach, korrespondierte. Ende letzten Jahres veröffentlichte er «In Russland tanzt der Bär – Holzspielzeug aus Bogorodskoje».
 

Abzweigung und Nebengleis
Die Werke erscheinen im A5-Format in einer Auflage von jeweils 120 bis 160 Exemplaren. Gedruckt wird in Nidau. «Der Verlag ist nicht gewinnbringend, das muss er aber auch nicht sein», sagt Gruntz-Stoll und ergänzt, er würde sich freuen, wenn auch andere Menschen bei ihm publizieren würden. Der private Charakter eines Projekts sei allerdings zentral, sagt er.

Eben wurde der dritte Band des Verlags fertiggestellt. Der Hintergrund: In den 40er-Jahren ist im Berner Scherz-Verlag die Parnass-Bücherei mit Werken der Weltliteratur erschienen. 1959 wurde sie mit Band 111 eingestellt. Gruntz-Stoll hat alle Titel gesucht – und – nach vielen Jahren – tatsächlich alle auftreiben können. Nun hat er den 112. Band veröffentlicht – gleichsam als kommentiertes Verzeichnis mit persönlichen Leseerlebnissen und informativen Hinweisen zur Buchreihe.

Gruntz-Stoll erzählt ungemein lebhaft und gleichzeitig akkurat, vielschichtig und gleichzeitig strukturiert. Gerne folgt man dem 66-Jährigen auf den Pfaden seines Lebens, nimmt hier eine andere Abzweigung als gedacht, lässt sich dort auf ein Nebengleis treiben, erfährt von Brüchen und Gabelungen. Vor allem aber ist da die Freude an der Niederschrift von Gedanken zu spüren. Er nennt es so: «Mit dem Schreiben über Vergangenes eignen wir uns unsere Geschichte neu an.»

Link: www.verlag-das-archiv.ch


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"Die Erinnerung macht Veränderungen sichtbar"

Wie gründet man einen Verlag? Werden Erinne-rungen immer wichtiger?Und wie bleibt man im Alter heiter? Antworten von Johannes Gruntz-Stoll.



Johannes Gruntz-Stoll, welcher Teil der Verlagsgründung hat Sie am meisten überrascht?
Johannes Gruntz-Stoll:Überrascht hat mich vor allem, dass es – einmal abgesehen von gewissen Unkosten – keinerlei Hindernisse gibt: Wer hierzulande einen Verlag gründen will, gründet einen Verlag. Punkt. Wer den Verlag offiziell registrieren und mit einer ISBN ausstatten will, wendet sich an die entsprechende Agentur, die beim Schweizer Buchhändler- und Verleger-Verband angesiedelt ist; hier werden nicht nur Kurse angeboten, sondern auch Auskünfte und Beratung vermittelt. Und wer einen Eintrag im Handelsregister wünscht, lässt sich als Einzelunternehmen beim entsprechenden kantonalen Amt registrieren. Dafür braucht es weder einen Businessplan noch ein Verlagsprogramm, weder Aktienkapital noch Bestsellerliste …


Wie wird Ihr Verlag von aussen wahrgenommen?
Auch wenn im ersten Jahr des Verlags zwei Publikationen erschienen sind und eben gerade die dritte, habe ich nicht den Eindruck, dass der Verlag von aussen wahrgenommen wird. Zwar gibt es eine Website, die Veröffentlichungen werden im deutschsprachigen Verzeichnis lieferbarer Bücher angezeigt und die Nationalbibliotheken in Deutschland und der Schweiz haben Belegexemplare erhalten, aber die Reaktionen beziehen sich durchwegs auf die erschienenen Titel und nicht auf den Verlag, und das ist ganz in meinem Sinne, im Sinne des Verlegers also.


Was empfehlen Sie Menschen, die ähnliche Interessen haben?
Anfangen – am besten mit einem konkreten, überschaubaren Projekt; ein paar Abklärungen im Voraus sind sicher nützlich, und ohne ein gewisses Startkapital – ideell wie materiell – läuft nichts. Aber das Motto heisst – frei aktualisiert nach Erich Kästner: «Es gibt nichts Gutes, ausser frau oder man tun es.»


Abschied nehmen von Sachen ist Ihnen ein wichtiges Anliegen. Ist es Ihnen immer leichtgefallen, sich von Dingen zu trennen?
Nein, ganz im Gegenteil: Das Haben und Festhalten ist für mich stets die dominante Dimension des Seins gewesen; zwar habe ich immer gern Geschenke gemacht, aber viel mehr habe ich stets für mich behalten. Doch da gab es diesen Satz des georgischen Schriftstellers Sulchan Saba Orbeliani, der mich seit meiner Jugend plagt und dem ich nur ganz langsam auf die Schliche komme: «Was du gibst, ist dein; was du behältst, ist verloren.»


Was halten Sie von der Aussage: Früher war vieles besser?
Das ist natürlich Unsinn und – erst noch zutreffend, allerdings erst mit der Ergänzung: Früher war vieles besser, und vieles war schlechter. Beispiele gibt es unzählige – eines ist der Verlust an Freiheiten im Studium durch die Folgen des Bolognaprozesses an den Hochschulen; ein gleichzeitiger Gewinn wäre – zumindest theoretisch – in den Bereichen Flexibilität und Mobilität im Studium zu erwarten. Die Schriftstellerin Germaine de Staël meint dazu übrigens: «Neue Ideen missfallen den alten Leuten, sie gefallen sich in der Überzeugung, dass die Welt nur verloren und nicht gewonnen habe, seit sie aufgehört haben jung zu sein.»


Sie sagen, beim Erinnern geht es immer auch darum, sich der eigenen Heimat gewahr werden. Was bedeutet für Sie Heimat?
Ein Aspekt des Erinnerns ist die Vergegenwärtigung von Räumen der Vergangenheit: Wenn ich in Basel unterwegs bin, begegne ich auf Schritt und Tritt Orten, an denen ich mich in den Jahren der Kindheit und Jugend bewegt und aufgehalten habe; allerdings haben sich diese Orte in den letzten Jahrzehnten so stark verändert, dass gerade die Erinnerung Veränderungen sichtbar macht: Es ist nicht mehr so, wie ich mich erinnere, dass es war. Mich in solchen «Erinnerungsräumen», wie sie die Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann beschreibt, zu bewegen, weckt also Gefühle der Zugehörigkeit und der Fremdheit, und ich nehme an, dass jedes Heimatgefühl neben der Geborgenheit und dem Vertrauten auch das Fremdeln oder Befremden beinhaltet, so wie das Vergessen zum Erinnern gehört.


Bedeutet sich erinnern auch: sich und die Welt besser verstehen?
Zweifellos, denn Verstehen heisst ja immer auch Auslegen – im buchstäblichen wie im übertragenen Sinn, und ob Erfahrungen – für mich und andere – wichtig sind und Bedeutung haben, zeigt sich meist erst im Nachhinein, in der Erinnerung. Beim Erinnern wird das Erlebte gedeutet, und beim Erzählen versuche ich die Erfahrung sozusagen auf die Reihe zu bekommen, ich lege aus und – verstehe. Und weil dieses Verstehen nie zu einem Ende kommt, begnüge ich mich wohl oder übel damit, beim Erinnern mich und die Welt ein wenig besser zu verstehen.


Werden Erinnerungen wichtiger, wenn man älter wird?
Nicht zwingend, aber in meinem Falle gewiss: Durch die Krankheit meiner Frau ist auch mein Bewegungsradius stark eingeschränkt; das hat bei mir eine Denkwende ausgelöst. Statt der weiten Ferne rückt die unmittelbare Nähe ins Blickfeld; und weil jede und jeder ja sich selbst am nächsten sind, habe ich die eigenen Erlebnisse und das, was die Erinnerungen davon zugänglich machen, als Neuland entdeckt: Den Spuren in diesem – zumindest teilweise – unwegsamen Gelände zu folgen, ist ein eigentliches Abenteuer.


Sie erscheinen mir als neugieriger, eloquenter, heiterer Mensch. Für viele andere Menschen ist die Pensionierung eine harte Prüfung. Wie bleibt man dem Leben zugewandt?
Salopp gesagt: Ich bleibe dem Leben zugewandt, indem ich mich dem Leben zuwende; es gibt ja so viel in meiner Umgebung, das mein Interesse weckt, und es gibt noch viel mehr, von dem ich wenig oder gar nichts weiss, das zu erfahren und entdecken aber interessant, spannend und lohnend ist. Ein Gedanke des Pädagogen und Theologen Jan Komensky ist für mich wegweisend, seit ich ihm vor Jahrzehnten erstmals begegnet bin; mit über 70 Jahren hat sich Comenius, so die lateinische Version seines Namens, etwa so geäussert: «Ich danke Gott, dass er mich ein Leben lang ein Mann der Sehnsucht hat sein lassen.» Ich bin zwar noch nicht ganz so alt, aber auch ich verspüre diese Sehnsucht und jene Dankbarkeit und – freue mich darüber. Interview:Raphael Amstutz

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