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Einsamkeit im Alter

Mit Geselligkeit wider das grosse Vergessen

Soziale Kontakte sind gerade für ältere Menschen wichtig, damit sie gesund bleiben. Und sie schützen das Gehirn vor der Alzheimer-Krankheit. Eine Bielerin und ein Bieler erzählen, wie sie mit dem Thema Einsamkeit und Alter umgehen. Interessierte erfahren morgen an einem Vortrag in der Residenz au Lac in Biel mehr zum Thema.

Auch inmitten von hektischen Menschen können Isolation und Einsamkeit allgegenwärtig sein. Martin Jetter und Françoise Verrey Bass gehen die Herausforderungen des Alters mutig an. Bilder: Frank Nordmann

Brigitte Jeckelmann


Manchmal kommt Françoise Verrey Bass morgens kaum aus dem Bett. Ihre 79 Jahre machen ihr zu schaffen – und das Alleinsein. «Ich kämpfe dagegen an», sagt sie. Früher hatte sie das nie. Früher, als sie noch als Familie zu fünft zusammenlebten. Das ist lange her. Heute fühlt sich Verrey Bass, Fachärztin für Neurologie und Mitglied im Vorstand des Bieler Seniorenrats, trotz regelmässiger Aktivitäten hin und wieder einsam. Auch Martin Jetter (73) kennt das Gefühl. Wie die beiden damit umgehen, erzählen sie in den Porträts unten.
Françoise Verrey Bass und Martin Jetter gehören zu dem Drittel der Schweizer Bevölkerung über 65, die immer mal wieder unter Einsamkeit leidet. Das hat die letzte Gesundheitsbefragung des Bundesamts für Statistik vor fünf Jahren ergeben. Wenn soziale Kontakte fehlen, kann das an die Gesundheit gehen. Das zeigen inzwischen viele wissenschaftliche Studien. Laut dem Schweizerischen Gesundheitsobservatorium Obsan senkt eine gute soziale Integration die Risiken von Herz-Kreislaufkrankheiten, Krebs und Infektionen deutlich. Wie genau gute soziale Beziehungen auf den Körper wirken, ist zwar bislang nicht geklärt. Doch kommen gemäss Obsan Studien zum Schluss, dass diese über positive Gefühle im Körper biologische Reaktionen auslösen, die einen direkten Einfluss haben auf Stressreaktionen, Hormonspiegel, Immunabwehr und Entzündungsprozesse. Mehr noch: Geselligkeit und gute Beziehungen schützen das Hirn womöglich auch vor der Alzheimer-Krankheit.


«Zwäg ins Alter»
Ein Informationsanlass morgen im Seniorenzentrum Residenz Au Lac in Biel, veranstaltet vom kantonalen Programm «Zwäg ins Alter» und dem Bieler Seniorenrat, informiert Interessierte darüber, wie Begegnungen das Gedächtnis unterstützen. Zu den vortragenden Dozenten gehört auch der Neurologe Hans Pihan vom Spitalzentrum Biel (siehe Interview rechts). «Zwäg ins Alter» ist vom Alters- und Behindertenamt der kantonalen Gesundheits- und Fürsorgedirektion finanziert. In Zusammenarbeit mit Pro Senectute Kanton Bern bieten Fachleute des Programms vielerlei Dienstleistungen rund um Gesundheitsvorsorge im Alter an. In den Büros der Fachstellen oder auch zuhause können sich Senioren persönlich und kostenlos zu Gesundheitsfragen beraten lassen (siehe Infobox). Vorträge zu den verschiedensten Themen gehören ebenfalls zum Programm. Cécile Kessler, Gesundheitsfachfrau bei «Zwäg ins Alter», sagt: «Obschon sich viele ältere Menschen einsam fühlen, sprechen sie nicht gerne darüber.» Es brauche für die ältere Generation sehr viel Mut und Überwindung, zuzugeben, dass sie sich nach Gesellschaft sehnen.


«Bestes Hirnjogging»
Kessler sagt, die Wissenschaft habe den Einfluss von Sozialkontakten auf das Hirn lange unterschätzt. «Heute weiss man, dass der Austausch, das Zwischenmenschliche, die Diskussionen mit anderen Menschen das Gedächtnis unterstützen und so Abbauprozessen im Gehirn entgegenwirken.» Das bestätigt Albert Wettstein, Neurologe, ehemaliger Stadtarzt von Zürich und Delegierter von Via, einem nationalen Projekt zur Förderung der Gesundheit im Alter. Wettstein: «Tatsächlich schützen soziale Beziehungen stark vor Alzheimer.» Sie zu pflegen sei das beste Mittel, dieser Krankheit vorzubeugen. «Das ist bestes Hirnjogging», sagt Wettstein. Denn Beziehungsarbeit sei schwierig. Die Hälfte aller Schweizer würden es ja nicht schaffen, ihre wichtigste Beziehung, die Ehe, vor dem Scheitern zu bewahren. Dass gute Beziehungsarbeit auch messbare positive Veränderungen im Gehirn bewirke, sei deshalb nicht erstaunlich, denn jede regelmässig ausgeübte Gehirntätigkeit «stärkt die entsprechend daran beteiligten Strukturen». Wie Wettstein ausführt, ist genau das die viel beschriebene Plastizität des Gehirns, die bekanntlich bis ins höchste Alter erhalten bleibt. Damit meint Wettstein die Fähigkeit des Hirns, sich laufend neuen Anforderungen anzupassen – so bleibt es fit und beweglich.


Einsam oder sozial isoliert?
Soziale Isolation macht krank, sagen Fachleute. Doch ist das dasselbe wie Einsamkeit? Wer sozial isoliert ist, dem fehlen gemäss Definition gute Beziehungen. Der Zürcher Altersforscher, François Höpflinger, weiss: «Einerseits fühlen sich nicht alle sozial isolierten Betagten einsam, andererseits ist Einsamkeit auch in einer Ehe denkbar.» Zudem könnten soziale Isolation und Vereinsamung im hohen Lebensalter auch «das Ergebnis eines gewollten Rückzugprozesses darstellen», sagt Höpflinger. Der deutsche Gerontologe Frieder Lang von der Uni Erlangen hat in einer Studie nachgewiesen, dass viele alte Menschen ausserfamiliäre Beziehungen oft aus eigenem Antrieb und aus selbst gewählten Gründen beenden. Facharzt Albert Wettstein ist der Ansicht, Einsamkeit beinhalte «auch die Suche nach ihr und Verlassenheit eher das Schicksalhafte, Schmerzliche». So gesehen wirke Einsamkeit stärkend und Verlassenheit schwächend. Einsamkeit auszuhalten, kann man lernen, das zeigt die Geschichte: Vor etwa 2500 Jahren verbrachte Buddha vor seiner Erleuchtung «viele Jahre mit einsamem Bemühen». Etwa 500 Jahre später fastete Jesus 40 Tage in der Einsamkeit der Wüste und widerstand so den Verlockungen des Bösen. Für Wettstein ist dagegen klar: Verlassenheit schwäche immer und gehe oft zusammen mit dem Abbau der Orientierung sowie innerlicher und äusserlicher Verwahrlosung. «So gesehen macht nicht die Einsamkeit krank, sondern Verlassenheit», sagt Wettstein.


Martin Jetter:«Ich mache mir viele Gedanken über mein Leben»
«Ich habe in Le Locle die Uhrmacherschule besucht. Nach verschiedenen Tätigkeiten in diversen Bereichen arbeitete die ich die letzten zehn Jahre als Sachbearbeiter Kundendienst bei Breitling, wo ich noch zwei Jahre über das Pensionsalter hinaus angestellt war. Seit ich pensioniert bin, muss ich mich jedoch stark einschränken, ich bin finanziell nicht auf Rosen gebettet. Ich verzichte zum Beispiel auf Reisen oder esse selten auswärts. Das ist nicht sehr angenehm, wenn im Sommer die Leute draussen sitzen und sich einen genehmigen, und man selbst nicht daran teilhaben kann. Das führt manchmal dazu, dass ich nicht mehr unter die Leute gehe.
Der Ruhestand war für mich ein echter Einschnitt. Ich bin verwitwet und alleinstehend. Nach meiner Pensionierung zog ich von Grenchen nach Biel. Hier ist es lebendiger und ich mag die Zweisprachigkeit und den See. Ich selbst bin auch bilingue aufgewachsen. Hier überlegte ich mir dann, wie und wo ich unter die Leute komme. Eigentlich wollte ich zu den Grauen Panthern, aber die gibt es in Biel leider nicht. Daher informierte ich mich bei der Pro Senectute über Möglichkeiten und bin jetzt im Seniorenrat. Wir organisieren Reisen, Ausflüge, Vorträge, die Sonntags-Bummel, den Sonntags-Club mit Mittagessen. Jede Reise wird zuerst rekognosziert, das heisst wir fahren die Strecke ab, schauen uns um, erkundigen uns nach Sehenswürdigkeiten, Führungen, Preise etc. Wir bieten auch Bundeshausführungen an, die sehr beliebt sind und mit 40 Leuten immer ausgebucht. Eine Zeit lang habe ich einen Tanzkurs im Line-Dance genommen, und jetzt lerne ich den sogenannten Everdance in der Migros Clubschule. Es tut gut, mich mit anderen Leuten zu treffen. Früher hatte ich mehr Freunde als heute, und auch Familie ist eigentlich keine mehr da. Ich habe mich aber auch etwas zurückgezogen. Eine engere Beziehung zu haben wäre schön.
Zum Glück ist da noch Hund Charly, den ich sehr oft hüte. Dank ihm bin ich viel unterwegs und bewege mich regelmässig. Wenn der Hund nicht bei mir ist, was meistens am Wochenende der Fall ist, kann es schon mal passieren, dass ich den ganzen Tag die Wohnung nicht verlasse. Dann mache ich mir viele Gedanken über mein Leben. Ich hatte eine zu behütete Jugend, was dazu führte, dass ich nicht so richtig lernte, mich für mich einzusetzen. So frage ich mich oft, was gewesen wäre, wenn ich mich in bestimmten Situationen anders verhalten hätte.»
Aufgezeichnet von Sarah Zurbuchen


Françoise Verrey Bass:«Ich spüre, dass ich mich dem fragilen Alter nähere»
«Als Neurologin hatte ich von 1976 bis 2002 eine Praxis in Biel und begleitete oft über mehrere Jahre chronisch kranke Patienten. Ich erlebte, wie vor allem Frauen langsam vereinsamen können. Frauen, die an den Rand der Gesellschaft gedrückt werden, oder sich selber zurückziehen. Ich wollte versuchen, mich und möglichst viele Frauen dazu zu bewegen, aktiv etwas gegen die Isolierung zu tun. Daher meldete ich mich als Freiwillige beim Seniorenrat der Pro Senectute, sobald ich nach der Pensionierung noch halbtags in meiner Praxis arbeitete. Wir unternehmen zum Beispiel Ausflüge, organisieren Führungen und auch Vorträge.
Ich vertrete den Seniorenrat in verschiedenen Gremien: Etwa in den Arbeitsgruppen bei «Biel für Alle» und für eine gesunde Ernährung in den Tagesschulen und Heimen. Ich bin froh, ausserdem im Organisationskomitee der Bieler Philosophietage mithelfen zu können. Dann bin ich noch Präsidentin der Vereinigung der schreibenden Ärzte der Schweiz. Für mich ist ganz wichtig, dass ich mich regelmässig bewege. Was lange gut ging, wird langsam schwieriger. Ich spüre allmählich die Last der Jahre. Es ist wie bei einem alten Auto, wenn jeden Morgen der Motor neu angekurbelt werden müsste, und es nicht auf Anhieb gelingt. Es ist gut, wenn ich bereits am Morgen etwas zu erledigen habe. Dann komme ich einfacher aus dem Bett. Sonst kann es vorkommen, dass ich nicht aufstehen möchte, mich energielos fühle, weil ich eine schlechte Nacht gehabt habe.
Am Sonntag kann es schlimm sein. Da stelle ich mir vor, dass alle anderen Menschen mit ihrer Familie oder mit Bekannten den Tag verbringen. Obschon ich genau weiss, dass es nicht so ist. Wenn man in ein Familiensystem eingebunden ist, ist es wohl einfacher, sich aufzuraffen. Und doch möchte ich nicht bei einem meiner Kinder wohnen. Aber es geht mir gut, wenn ich den Sonntag mit der einen oder anderen Familie verbringen kann, mit den Enkeln. Da tanke ich auf.
Man spricht vom fragilen Alter. Ich spüre, dass ich mich dieser Zeit nähere: Ich werde unsicherer, das Gleichgewicht, sowohl körperlich wie psychisch, ist nicht mehr, wie es früher war. Ich muss eine Siesta machen. Auch Tränen können rascher fliessen, wenn ich die Energie für irgendetwas nicht mehr aufbringe, oder etwas mich stärker berührt als früher. Da wird Nachbarschaftshilfe wichtig. Es braucht vielleicht Überwindung, um herauszufinden, welche Kontakte helfen, ruhiger der Zukunft entgegenzugehen. Jeder Tag ist ein kleiner Kampf: Meine innere Stimme sagt: ‹Ich mag heute nicht ins Turnen gehen, es geht mir nicht gut.› Die Gegenstimme sagt aber: ‹Doch geh. Du weisst, es hilft dir.› Und jeder Tag ist ein kleiner Sieg, wenn ich abends sagen kann: ‹Heute ging es mir gut.›»
Aufgezeichnet von Brigitte Jeckelmann

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Für Senioren in Biel und im Seeland
Vortrag von morgen im Foyer der Residenz Au Lac in Biel: Begegnung unterstützt das Gedächtnis, von 17 bis 19 Uhr, Referate von Experten mit Tipps für den Alltag. Die Präsentationen werden in Deutsch und Französisch gezeigt. Anmeldungen heute noch möglich an Telefon 032 323 45 20, der Eintritt kostet 10 Franken.
Persönliche und kostenlose Beratungen für die Gesundheitsvorsorge gibt es bei «Zwäg ins Alter». Informationen unter der Telefonnummer 032 328 31 11.
Der Seniorenrat der Pro Senectute Biel/Bienne Seeland führt regelmässige Anlässe durch. Informationen bei Françoise Verrey Bass unter Telefon 032 323 45 20 oder Pro Senectute Biel/Bienne Seeland 032 328 31 11.
Informationen über Kurse und Veranstaltungen sowie Beratungen erteilt Pro Senectute Biel/Bienne Seeland (032 328 31 11). Ein ausführliches Programm beinhaltet das Magazin «Activ» der Pro Senectute. Kostenlos erhältlich bei den Fachstellen in Biel und Lyss oder auf der Homepage www.region-bbs.ch
Projekt «Altern in Biel. Aktiv im Netz» im Rahmen des Programms Socius: Seniorencafé, jeden Donnerstag von 9 bis 11 Uhr an der Poststrasse 41 in Mett. Eine Fachperson ist anwesend und nimmt Vorschläge für Aktivitäten entgegen.
Im Rahmen des Migros-Kulturprozents gibt es in Biel die Möglichkeit, bei Gastgebern zusammen zu kochen und zu essen.  Informationen unter www.tavolata.ch, Auskünfte unter Telefon 058 565 86 85.
Seniorentische, organisiert von der Fachstelle für Erwachsenenbildung sind Diskussionsrunden für Menschen in der Lebensphase 55+. Diskutiert werden Themen wie Gesundheit, Bewältigung von Alltagssituationen, Budget, soziale Netze etc. www.effe.ch, Telefon 032 322 66 02. bjg

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