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Corona-Blog

Mit Most gegen das Fernweh

Ich vermisse das Reisen. So richtig bewusst wurde mir das neulich im Einkaufszentrum. Ich wollte für meine Eltern Spülmittel besorgen. Bestellt war solches mit Zitronengeschmack, aber das war ausverkauft. Was also nehmen?

Symbolbild Keystone
  • Dossier

Michael Schneider, Redaktor

Ich entschied mich schliesslich, in Erinnerung an gemeinsame Ferien in der Provence, für Lavendel-Limette. Frankreich fehlt mir. England auch. So kaufte ich mir für den Apéro auf dem Balkon Cider, mit Kohlensäure versetzten sauren Most. Es war keine dieser schön designten Flaschen mit spezieller Etikette, bei denen man sich vorstellt, dass jeder Apfel in Somerset auf den Ländereien eines ultrakonservativen Tory-Abgeordneten von Hand gepflückt wurde. Es war eine Aludose aus dem Discounter, eine Allerweltsmarke, hergestellt von einem internationalen Konzern. Spötter könnten sagen, dass nichts Englisches daran war. Ich aber verstehe nun jene Generation besser, die zu den Capri-Fischern von Italien träumte. Für die Gerichte wie Toast Hawaii und Riz Casimir exotische Geschmackserlebnisse verhiessen, als es hierzulande noch keinen Thaifood-Kurier und keine Curryhäuser gab. Authentizität ist überbewertet, und sowas von 2019.

Noch mehr als das Reisen an sich vermisse ich es, Tourist zu sein. Durch die Strassen von Saint-Germain-des-Prés zu schlendern, vorbei an der Bar, in der Sartre mit Simone de Beauvoir Aprikosencocktails trank. Ich fand das immer so schön, weil man sich als Tourist einbilden kann, jener Verantwortung für sich und die Welt einen Moment lang enthoben zu sein, auf der die beiden bestanden. Man ist ein Flaneur auf Zeit, in der Welt und doch nicht ganz in der Welt. Man bucht vor Städtereisen vielleicht bewusst ein Hotelzimmer und nicht eine Ferienwohnung, damit für die Einheimischen die Mieten nicht noch mehr steigen. Wenn der Taxifahrer über den Gang der Dinge schimpft, hört man zu. Aber man weiss auch, dass es nicht gut ankäme, würde man als Gast in die Schimpferei mit einstimmen. Als Tourist stelle ich mir gern vor, wie mein Leben wohl wäre, würde ich in Paris, London, Wien leben. Hätte ich einen anderen beruflichen Weg eingeschlagen. Reisen erinnert uns daran, dass das Leben ein anderes sein könnte. Dass wir mehr sind als die Summe der Sachzwänge, die uns umgeben. Und dass das, was uns vertraut ist, nicht selbstverständlich ist. Vielleicht hilft das, wenn man wieder Pläne machen kann. Wenn die Coronakrise vorbei und alles anders ist.

mschneider@bielertagblatt.ch

Stichwörter: Reisen, Tourist, Coronablog

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