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Coronablog

Mord – und ich schlief beinahe ein

Neulich war ich im Gerichtssaal. An dem Ort, wo die Zukunft eines Menschen vom einen auf den anderen Moment auf den Kopf gestellt werden kann.

Hannah Frei, Redaktorin Region. Bild: Peter Samuel Jaggi
  • Dossier

Es sind Schicksale, die tief unter die Haut gehen, auch wenn man sich noch so sehr dagegen wehrt, um die Professionalität aufrecht zu erhalten. Und doch: Neulich bin ich im Gerichtssaal beinahe eingeschlafen – während der Beschuldigte nicht mehr als acht Meter vor mir in Fussfesseln mit Fragen gelöchert wurde. Ich fühlte mich schrecklich, wenn ich meine Augen ruckartig öffnete, und feststellte, dass ich beinahe weggedöst wäre. Dabei war das Gesagte mehr als spannend, die Voten des Verteidigers fast schon mitreissend – es ging um versuchten Mord. Die Worte «Es ist ein absolut schrecklicher Fall» begleiteten meine Augenlider auf dem Weg nach unten, während meine rechte Hand weiter den Kugelschreiber umschloss und mit ihm lockere Runden auf dem Schreibblock drehte. Zum Glück konnte ich mich stets rasch zusammenraffen, meine Augen blieben wohl nie länger als eine lange Sekunde zu. Und doch hatte ich dieses bedrückende Gefühl: Wie kann es sein, dass ich während einer solch wichtigen Verhandlung, über die ich verpflichtet bin, detailliert zu berichten, es wage, meine Augen zu schliessen?

Es war wie damals im Studium: Je angenehmer die Stimme der Dozentinnen und Dozenten, umso grösser mein Bedürfnis, mich von ihren Worten in den Schlaf wiegen zu lassen. Das war grundsätzlich auch nicht weiter schlimm, abgesehen davon, dass es unheimlich anstrengend ist, in einer solchen Situation nicht ganz einzuschlafen. In einem Saal mit 150 Leuten fällt das kaum auf. Aber einmal war es anders. Da sassen wir zu zehnt in einem kleinen Raum, die Studienleiterin stellte sich persönlich vor, ich war gespannt, ihre Stimme war entspannend, und für fünf Minuten war ich weg.

Doch zurück in den Gerichtssaal: Eigentlich kann ich mich glücklich schätzen, stets mitschreiben zu dürfen. Da haben es die Polizisten, die meist während der gesamten Verhandlung am Rande sitzen und den Beschuldigten beobachten müssen, deutlich schwieriger. Manchmal würd ich ihnen gerne meinen Block und meinen Stift überlassen. Ich nähme im Austausch kurz ihre Elektroschockpistole – dann wäre ich zumindest wach.

hfrei@bielertagblatt.ch

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