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Osteuropa

Plötzlich herrscht in ihrer Heimat Krieg

Sie stammen alle aus der Ukraine und leben nun im Seeland. Auf die sich überschlagenden Ereignisse in ihrem Heimatland blicken sie höchst unterschiedlich.

Unklare Lage: Russische Kampfhelikopter, die von belarussischem Boden aus gestartet sind, über dem Kiewer Vorort Hostomel. Die Helikopter greifen den Antonov Flughafen an. Bild: Keystone

Liana Richoz stammt aus der Stadt Dnipro in der Ostukraine. Sie ist 41 Jahre alt und lebt seit 2014 in Port. 

Gestern Morgen habe ich mit meinem Bruder und mit meiner Mutter telefoniert, die in Dnipro leben. Inzwischen hören sie schon Explosionen und Schüsse! Sie haben die Fenster mit Klebeband zugeklebt, damit im Fall einer Explosion keine Scherben in die Wohnung fallen. Ich war erstaunt, wie ruhig sie sind. Ich glaube, die innere Unruhe wurde permanent stärker, sodass sie jetzt von einer stoischen Ruhe erfasst sind. Sie sagen: Entweder kommt alles gut, oder wir sterben. Und wenn wir sterben, dann in unserer Heimat. Es gibt diese Zeile in der ukrainischen Nationalhymne: «Leib und Seele geben wir für unsere Freiheit.»

Als 2014 alles angefangen hat, konnten wir das gar nicht glauben. Wir waren doch Brüder! Wie kann es sein, dass jemand im 21. Jahrhundert einfach fremde Territorien beanspruchen will? Wir waren überzeugt und kriegten auch immer zu hören, dass diese Gebiete bald wieder ukrainisch sein werden. Kriegshandlungen hatten wir damals keine vernommen, dafür war Donezk zu weit weg. Wir hatten damals noch ein ganz normales Leben. Ich war Managerin des Stadions vom Fussballclub Dnipro. 

Dass ich 2014 ins Seeland gekommen bin, lag nicht an der politischen Situation, das fiel zufällig zusammen. 

Ich bin zweisprachig aufgewachsen. Die Ukraine ist meine Heimat. Ich glaube, dass heute in den besetzten Gebieten mehrheitlich Pro-Ukrainer leben, denn die Pro-Russen wurden alle bereits nach Russland gefahren. Ich habe Videos gesehen, wie sie sich gefreut haben. Pro-Russen kenne ich persönlich keine.

Was Putin genau will, weiss ich nicht. Der ukrainische Präsident Selenskyj hatte ihn immer wieder gefragt, was sein Ziel sei, aber Putin ist nicht in den Dialog getreten. Im Fernseher hatte er auf die Frage, wo die Grenzen Russlands lägen, geantwortet: «Russland kennt keine Grenzen.»

Dieser Konflikt muss enden! Wir wollen nicht siegen, sondern den Frieden wieder herstellen. Es gibt keine Alternative. Die Menschen wollen arbeiten, im Park spazieren, Menschen treffen. Niemand will Krieg. Heute hat sich der Krieg schon fest in die Köpfe unserer Kinder eingebrannt, sie zeichnen Panzer und Explosionen. Das muss aufhören, sie sollen andere Bilder in die Köpfe bekommen. 

Auf die Meinung der Schweiz warten wir gespannt. Die zählt in der Ukraine immer besonders viel. Denn die Haltungen der EU oder der USA sind jeweils bekannt. Wir warten. Und wir hoffen, dass unsere Nachbarländer uns nicht im Stich lassen. 

Aufgezeichnet: ab

Anton und Alevtina Kudryavtsev wohnen in Biel. Beide stammen aus der Ostukraine, sind 52 Jahre alt und Musiker: Anton ist Gitarrist, Alevtina Geigerin. Sie leben seit 1996 in der Schweiz.

Anton Kudryavtsev: Dass jetzt Krieg herrscht, ist sehr schlecht. Es ist schade, dass die Ukrainer und Russen keinen anderen Ausweg gefunden haben. Gestern Morgen früh habe ich meine Mama in Dnipro, früher Dnepropetrovsk, angerufen. Es ging ihr soweit gut, sie hatte bis dahin noch nichts von Kriegshandlungen mitbekommen. Danach war ich den ganzen Tag bei der Arbeit absorbiert.

Natürlich haben alle grosse Angst. Hoffentlich muss die Zivilbevölkerung nicht unnötig leiden wegen der Unfähigkeit der Führung beider Länder, eine gemeinsame Lösung zu finden. Der ukrainische Präsident Selenskyj hätte mit den beiden besetzten Gebieten reden sollen. Er aber sagte, er werde nicht mit Verbrechern reden. So kommt man nicht weiter! Auf beiden Seiten wird Hass gesät, das ist sehr schlecht. 

Nach dem Majdan-Aufstand gab es eine neue Ordnung, die für die beiden Gebiete Donezk und Luhansk nicht gestimmt hat. Sie wollten die neue Herrschaft nicht anerkennen. Nie hat die Ukraine versucht, auf diplomatischem Weg mit ihnen ins Gespräch zu kommen. Für mich ist klar, dass die USA den Majdan-Aufstand gesteuert haben. Die Ukraine steht unter amerikanischem Einfluss, und der Donbass steht unter russischem Einfluss. Ich will zwischen den beiden Seiten keine Wahl treffen, finde beide nicht besonders gut. 

Natürlich wollen wir keinen Krieg. Niemand will Krieg, niemand will bombardiert werden. Alles, was wir wollen, sind bessere Bedingungen für unsere Leute, dass sie keine Angst mehr haben müssen. Die Situation in der Ukraine ist heute sehr schlecht. Die Rente meiner Mutter hat sich seit 2014 halbiert. Sie kriegt jetzt genau 100 Schweizer Franken, im Gegenzug sind die Lebensmittelpreise enorm gestiegen. Vor 2014 habe ich die Verwandten nur sporadisch finanziell unterstützt, jetzt aber muss ich jeden Monat Geld schicken. Es heisst, das sei wegen des Krieges gegen Russland. Obwohl Russland bis gestern acht Jahre lang nie einen Krieg erklärt hatte. 

Ich habe ukrainische, russische, rumänische und belarussische Vorfahren. Ich bezeichne mich als Russe. Russisch ist meine Sprache, ich habe in Sankt Petersburg, damals noch Leningrad, studiert. Mein Bruder in Dnipro dagegen bezeichnet sich als Ukrainer, aber mit ihm ist es sowieso schwierig. Die Menschen zuhause sind umgeben von einer riesengrossen Propaganda. Klar, beide Seiten machen Propaganda. Auch in der Schweizer Presse lese ich überall nur eine Sicht auf die Dinge.

Alevtina Kurdyavtsev: Es ist unfassbar, wie viele Kinder schon ums Leben gekommen sind. Krieg ist in der Ukraine ein Business. Viele Leute heuern an, weil sie keine andere Verdienstmöglichkeit haben. Der Nachbar meiner Eltern war bei der Anti-Terror-Organisation. Er erzählte, dass sie gemeinsam mit dem «Feind» ein Besäufnis veranstaltet und die gesamte Munition verballert hätten. Ob das stimmt, weiss ich nicht.

150000 Menschen, vor allem Alte, leben seit acht Jahren an der Frontlinie und stehen unter Dauerbeschuss. Ich finde, die Ukraine hätte nun acht Jahre lang Zeit gehabt, das Minsker Abkommen zu erfüllen. Ich verstehe nicht, dass der Westen diese ukrainischen Nationalisten blind unterstützt. Darunter befinden sich sogar Nazis! Leider drängt Amerika aus eigenen
Interessen zum Krieg.

Ich komme aus Pawlograd und habe ebenfalls Vorfahren aus allen möglichen Ländern. In unserem Bezirk Dnepropetrovsk in der Ostukraine dominiert die russische Sprache, aber wir hatten intensiven Ukrainischunterricht und man konnte wählen, in welcher Sprache man die Schule oder die Universität besuchen will. Damals haben wir die Ukraine nicht als zweigeteiltes Land wahrgenommen. Der Nationalismus ist erst nach dem Zerfall der Sowjetunion erstarkt. 

Aufgezeichnet: ab

Dimitri Vasylyev stammt aus Kiew. Er lebt seit 22 Jahren in Biel und ist Schweizer Bürger. Vasylyev ist Dirigent verschiedener Blasmusik-vereine und Leiter des Bieler Art-Dialog-Festivals.

Gestern Morgen war die Situation in Kiew noch nicht dramatisch. Dann haben sich die Ereignisse überschlagen. Ich war den ganzen Tag am Telefonieren und am Medien Konsumieren. Meine Mutter hat gestern Nachmittag zwei Stunden lang im Zivilschutzraum verbracht. Niemand weiss, was die Nacht bringen wird.

Viele versuchen, aus Kiew zu fliehen, was nicht einfach ist. 

Alles, was in der Ukraine geschieht, passiert wegen der psychischen Krankheit eines einzelnen Menschen, Putin. Er kann partout nicht akzeptieren, dass wir in der Ukraine Freiheit geniessen, freie Wahlen durchführen können. Er hatte in den letzten Tagen ja wörtlich gesagt, der grösste Fehler des letzten Jahrhunderts sei, dass die Ukraine als selbstständiger Staat überhaupt existiert. In den letzten acht Jahren hat die russische Propaganda andauernd davon gesprochen, dass die Ukraine von Banden und Nazis regiert wird, was absoluter Quatsch ist. 

Jetzt haben wir Krieg. Putin spricht von einer «Operation für Rettungsmassnahmen». Doch was oder wen will er retten? Das weiss niemand. 

Ein Schulfreund von meiner Frau lebt leider in Donezk. Er
ist Leiter der dortigen Musikakademie und ist wegen seiner Stelle dortgeblieben. Er informierte uns, dass gestern Morgen alle Männer beim Versammlungspunkt eintreffen mussten. Er ist Musiker und hatte noch nie eine Waffe in der Hand! Ich habe Angst um ihn. 

Ich weiss nicht, wie die Menschen in den Gebieten Donezk und Luhansk vor 2014 gewählt hätten, zu wem sie gehören möchten, wenn sie tatsächlich eine freie Wahl gehabt hätten. Das grösste Problem hat die Regierung Janukowitsch verursacht. Die war äusserst korrupt und hat den Donbass quasi sich selbst überlassen. Ich glaube, wenn zu diesem Zeitpunkt die ökonomische Situation in dieser Region besser gewesen wäre, wäre nie so etwas passiert. Ebenso wenig auf der Krim. 

Ich kann nicht abschätzen, was jetzt noch alles passiert. Ich weiss nicht, wer Putin stoppen kann und wie. In Russland habe ich viele Freunde, die seine Politik nicht unterstützen, aber sie haben Angst, das offen kundzutun. In Russland herrscht keine Redefreiheit wie in der Ukraine. Ich hoffe, dass die Sanktionen der Weststaaten ein Signal für die russische Bevölkerung werden, dass sie deswegen Widerstand ergreifen. 

Vermutlich wird es jetzt zum Partisanenkrieg kommen. Die Ukrainer werden sich gegen die Russen in ihrem Land wehren, und es gibt viele Waffen in privaten Haushalten. So wird es viele kleine Scharmützel geben, Terrorakte und natürlich viele Tote von beiden Seiten. 

Aufgezeichnet: ab 

 

Russland rückt von drei Seiten in die Ukraine ein

Nach heftigen Raketenangriffen sind Bodentruppen auf dem Vormarsch.

Die Nacht lag noch schwarz über Charkiw, der zweitgrössten Stadt der Ukraine im Nordosten des Landes. Feuerbälle stiegen am Himmel auf, dann ertönte der Donner von schweren Explosionen. Es kursierten zahllose Videos davon im Internet. Das war die erste Angriffswelle des Krieges, den Wladimir Putin kurz zuvor befohlen hatte. Ähnliche Berichte kamen wenig später auch aus anderen Städten.

Das russische Militär hatte einen Enthauptungsschlag gegen die ukrainischen Streitkräfte begonnen. Ziele von Marschflugkörpern und ballistischen Raketen waren Militäreinrichtungen und Flugplätze in der Hauptstadt Kiew und im gesamten Land.

Gemeldet wurden weitere Angriffe aus Kramatorsk und Dnipro im Osten der Ukraine, aus Saporoschschja und Mariupol im Süden, aber auch aus den im Westen gelegenen Städten Lwiw, Iwano-Frankiwsk und Luzk sowie Odessa und Cherson am Schwarzen Meer. Eine zweite Welle von Raketenangriffen aus Russland traf die Ukraine gestern am späten Vormittag.

Damit war die umfassende Invasion Russlands in der Ukraine in Gang, vor der die USA und ihre Verbündeten seit Wochen gewarnt hatten. Auch die Regierung in Kiew sprach inzwischen von diesem Szenario. Es seien Angriffe gegen 10 der 27 ukrainische Regionen gestartet worden. Truppen drangen nach Angaben der ukrainischen Regierung von Osten, Norden und Süden in die Ukraine ein. Wenige Stunden nach Beginn der Offensive waren die Russen bereits in der Hauptstadtregion Kiew.

Luftwaffe ausgeschaltet

Russlands Verteidigungsministerium meldete, dass die Infrastruktur der ukrainischen Luftwaffenstützpunkte zerstört sei. Ein solcher Angriff war von Militärexperten erwartet worden. Sofern sich Russland tatsächlich die uneingeschränkte Lufthoheit über der Ukraine sichern konnte, erleichterte dies den Vorstoss von Bodentruppen erheblich und machte es der Ukraine unmöglich, Truppen schnell zu verlegen oder sich aus der Luft zu verteidigen. Zudem dürften Kommunikationseinrichtungen und Kommandostände des ukrainischen Militärs Ziel der Angriffe gewesen sein. Damit wäre die Fähigkeit der Ukraine zu einer koordinierten militärischen Verteidigung des Landes vermutlich erheblich beeinträchtigt.

Aus Mariupol am Asowschen Meer gab es Berichte über den Beschuss von See aus sowie von Landungsoperationen. Gleichzeitig häuften sich Meldungen über den Vormarsch russischer Bodentruppen auf ukrainisches Territorium vor allem an mehreren Flanken im Norden.

Offensive der Separatisten

Die von Moskau kontrollierten Separatisten starteten Angriffe auf der gesamten mehr als 400 Kilometer langen Front entlang der bisherigen Kontaktlinie in den Regionen Donezk und Luhansk an. Das Verteidigungsministeriums in Moskau teilte mit, Russland leiste Unterstützung bei der Offensive der separatistischen Kräfte. In Luhansk und in Charkiw beobachteten Augenzeugen russische Panzer. Ukrainischen Angaben zufolge gab es im Osten des Landes bereits viele Todesopfer, auch Zivilisten.

Ein russischer Militärkonvoi brach auch von der annektierten Halbinsel Krim nördlich in Richtung ukrainisches Kernland auf. Videos von Überwachungskameras zeigten, wie Militärlastwagen und Panzer die Grenze überqueren.

Russische und ukrainische Behörden machten widersprüchliche Angaben zu Opferzahlen und Schäden. Russlands Verteidigungsministerium erklärte, es habe viele ukrainische Luftwaffenstützpunkte, Militäreinrichtungen und Drohnen zerstört. Es seien keine Städte angegriffen, sondern Präzisionswaffen eingesetzt worden. Eine Gefahr für die Zivilbevölkerung habe nicht bestanden.

Paul-Anton Krüger

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