Sie sind hier

Abo

Hirnschlag

Regiert werden

Schicksalsschlag Hirnschlag: Wie Regierungsstatthalter Philippe Chételat aus dem Leben geworfen wurde. Und wie er sich wieder zurück kämpft.

Renate und Philippe Chételat. Bild: Matthias Käser

Bernhard Rentsch

Gesundheitlich von 100 auf 0. Philippe Chételat trägt seit zwei Jahren ein Schicksal, das jährlich in der Schweiz 16 000 Menschen trifft. Der heute definitiv abtretende Regierungsstatthalter wirkt trotz seiner Behinderungen stark und positiv. Ein Fels in der Brandung war er schon während der ganzen Berufskarriere. Nun liegt der Fokus anders: Eigenständigkeit und Würde stehen im Zentrum.

20. November 2018. Er vor dem TV beim Sportpanorama, sie in der Küche beim Abwaschen. Die schon fast clichéhafte Situation im Haushalt von Renate und Philippe Chételat. Der viel beschäftigte Regierungsstatthalter, damals 54 Jahre alt, gönnte sich nach einem erholsamen Wochenende eine kurze Verschnaufpause, bevor es am nächsten Tag wieder mit Vollgas weitergehen sollte. Es war die letzte Pause im «alten» Leben. Denn innerhalb von Sekundenbruchteilen rückte der Tod sehr nahe und eine Krankheit übernahm das schicksalhafte Kommando.

Hirnschlag. «Meine Frau sprach mit mir, ich habe sie aber nicht verstanden», erinnert sich Philippe Chételat. Die Szene verlief wie im Film, bei dem der Patient aus der Ferne stets präsent beiwohnt, selber aber keine Ahnung hat, was mit ihm passiert – «ein Déjà-vu wie im Krimi mit der Aufforderung der Sanitäter in der Ambulanz, ja nicht weg zu driften». Die Halbseitenlähmung war offensichtlich, Renate Chételat erkannte sofort die Diagnose und reagierte richtig. Sie habe verhindert, dass ihr Mann unkoordiniert aufstand und sich allenfalls noch schlimmer verletzte. Entsprechend hilflos war sie in diesem Moment und doch klappte die Alarmierung. Dank Nachbarschaftshilfe und dem Eingreifen der Rettungssanitäter führte der Weg mit der Ambulanz ins Spitalzentrum in Biel und schliesslich ins Berner Inselspital. Tempo und Kompetenz bei der Behandlung nützten nichts – die durch einen Thrombus ausgesetzte Durchblutung des Gehirns hatte irreparable Schädigungen zur Folge. «Akut fühlte ich mich aber pudelwohl, wie in Watte eingepackt.» Erinnerungen an die langsame Fahrt und an fürchterliche Schlotteranfälle wegen der herrschenden Kälte wechseln sich mit dunklen aber zufriedenen Phasen ab. Klar ist jedoch, dass ein Hirnschlag-Patient viel mehr mitbekommt, als es dem Umfeld den Anschein macht.

Rückblende. Die berufliche Karriere bis 65, bis zur Pensionierung, war beim jungen Philippe Chételat eigentlich schon sehr früh klar. «Da stimmten halt die Horoskope schon: Man sagte mir immer einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn nach.» Die Bubenträume wie Lokomotivführer, Kapitän oder Pilot waren rasch einmal verblasst, und nach dem Jusstudium peilte Chételat zielorientiert ein Richteramt an. 1995, mit knapp 31 Jahren, wurde er nach internen Stationen wie Gerichtsschreiber zum Gerichtspräsidenten gewählt. «Mit Macht und Verantwortung konnte ich gut umgehen, das hat mir gefallen» – die Berufswahl sei nie infrage gestellt gewesen. Die Faszination, mit zerstrittenen Parteien tragfähige Lösungen zu finden, sei Anreiz genug gewesen, um jeden Tag zufrieden zur Arbeit zu gehen. «Den Ärger mit Unzufriedenen oder belastende Themen konnte ich dabei immer gut im Büro zurücklassen.» So hatte er auch nie Angst vor Begegnungen mit Menschen, über die er nicht wohlgesinnt urteilen musste. «Die Strassenseite haben die andern gewechselt.»

Der Einstieg in den Wahlkampf um das Regierungsstatthalteramt erfolgte 2013 denn auch mit Verzögerung und wenig Überzeugung. Vorerst. Zwar stets an Politik interessiert und als junger SPler durchaus aktiv, beantwortete Richter Chételat erste Anfragen seiner Partei mit Blick auf die näher rückende Pensionierung von Werner Könitzer zurückhaltend. «Ein Nein heisst in der Politik aber offenbar Ja», sagt er heute lachend im Rückblick. Denn tatsächlich, von SP-Seite wurde nachgefasst. Und Philippe Chételat stürzte sich nach seiner Zusage anfänglich mit Zurückhaltung, später mit Begeisterung in den Wahlkampf. Sogar den Präsenzen um 6 Uhr früh auf dem Bahnhofplatz und dem Weibeln um Stimmen konnte er Positives abgewinnen. Der Kämpfer war geweckt und übernahm das Kommando. Schliesslich liess er den scheinbaren Favoriten Adrian Kneubühler dank geschickter Taktik – Chételat konzentrierte seinen Wahlkampf auf das SP-starke Biel und überliess die eher bürgerlich orientierten Gemeinden neben der Stadt seinem Konkurrenten – hinter sich.

Mit einer Win-win-Situation – eine Wahl wurde angepeilt, eine Nichtwahl hätte das Verbleiben in einer sehr schönen Tätigkeit bedeutet – startete Philippe Chételat in den 9. Juni 2013, den Wahlsonntag. Es sollte ein Freudentag werden. Ein Tag, an dem die beruflichen Weichen völlig neu gestellt wurden. Chételat erinnert sich an grosse Nervosität, an eine ausgedehnte Geheimniskrämerei durch Werner Könitzer und an riesige Vorfreude. Er war seinem Ideal der Berufskarriere einen Schritt näher gekommen.

Und dann – die Realität im Alltag als Regierungsstatthalter? «Ich trat interessiert und ohne Vorurteile den Posten an und fand rasch Tritt und Geschmack. Die vielen Kontakte und das breite Aufgabenspektrum motivierten. Dabei konnte ich mich im Statthalteramt auch immer auf ein fantastisches Team verlassen, das mir nötigenfalls den Rücken freihielt.» Das grosse Pensum mit unzähligen Abend- und Wochenendanlässen habe er gerne in Kauf genommen. Als umgänglicher Mann sei er auch bezeichnet worden, weil er selbst schwierige und umstrittene Entscheide offen und ehrlich diskutiert und begründet habe. «Ich drückte mich auch da nie vor persönlichen Kontakten mit Unzufriedenen.»

Herzoperation. Es war denn auch nicht Überlastung oder Stress, die die Krankheitsgeschichte einleiteten. Es war ein angeborener Herzfehler, der im Sommer 2017 nach Unwohlsein und einer tückischen Lungenentzündung entdeckt wurde. Die daraufhin geplante Herzoperation am 3. Juli 2018 trat Philippe Chételat mit der ihm eigenen Gelassenheit und mit viel Pragmatismus an. Nichts ahnend, dass die mittelfristigen Folgen davon ein tragisches Ausmass annehmen würden. Die Rehabilitation verlief zwar nach Plan und erfolgreich. Er fühlte sich gesund und nahm etappenweise die Tätigkeiten wieder in Angriff. Die medikamentöse Blutverdünnung sollte ihn in der Folge lebenslänglich begleiten und schützen. Unklarheiten bei der Dosierung hatten aber letztlich den Hirnschlag vom 20. November 2018 zur Folge. Detailabklärungen von Verantwortlichkeiten und Schuldzuweisungen sind Gegenstand von laufenden juristischen Verfahren, bringen aber letztlich die verlorene Gesundheit nicht mehr zurück.

Erinnerungen. Die weissen gekachelten Wände im Inselspital seien ihm noch stark in Erinnerung, so Philippe Chételat zur Fortsetzung des Schicksalstages vor knapp zwei Jahren. Und das unangenehme Gefühl eines darauf folgenden epileptischen Anfalls ist ebenfalls noch sehr präsent. Ansonsten fehlt viel vom mehrwöchigen Schweben zwischen Leben und Tod. Es ist vielmehr die Ehefrau, die von den täglichen Besuchen und dem Bangen erzählt: «Philippe hatte viel Glück und kämpfte sich in kleinen Schritten ins Leben zurück.» Die Tragik der Situation wurde dem Patienten durch niederschmetternde Diagnosen der Ärzte erst schrittweise bewusst. Die Selbstverständlichkeit des Gesundwerdens war auch für den immer währenden Optimisten in weite Ferne gerückt. «Bis zum Beweis des Gegenteils glaubte ich immer an das Gute». Nun trat der Beweis der Tragik ins Rampenlicht. Aufgeben war aber dennoch nie eine Option. «Ich war traurig, resignierte aber nicht. Ein Funken Hoffnung begleitete mich immer.»

Die Realitäten zeigten sich nach drei Monaten Aufenthalt in Bern, wo primär das Überleben im Vordergrund stand, während der nachfolgenden Rehabilitation in der Klinik Bethesda in Tschugg. «Erkennen tut man den Schaden relativ rasch einmal, einordnen oder gar akzeptieren kann man ihn dann aber sehr lange nicht», so Philippe Chételat zu diesem mental schwierigen Prozess. Entsprechend war der lange Aufenthalt in der Klinik denn auch mühsam, wie dies Chételat schildert. Als «Einzelhaft» empfand er, was zu seinem Guten organisiert wurde. Und auch die fehlende tägliche Dusche wurde zum Thema. Trotz vielen Reklamationen will er sich aber heute nicht beklagen: «Man kann es einem Kranken nur schwer recht machen. Alles in allem war die Reha in Tschugg ein Erfolg.» Parallel kümmerte sich Renate Chételat mit unermüdlichem Elan um das Zuhause. Beide kannten nur ein Ziel: die Rückkehr in die eigenen vier Wände. Ein Abschieben in ein Pflegeheim kam nicht in Frage.

Und wirklich: Tatsache war, dass der bei Eintritt in Tschugg noch schwerbehinderte Philippe Chételat während dem achtmonatigen Aufenthalt grosse Fortschritte machte. Den Rollstuhl konnte er irgendwann verlassen und die Bewegungsfreiheit am Gehstock eröffnete neue Möglichkeiten – wenn auch sehr langsam und sehr eingeschränkt.

Die Realität. So vielversprechend die Fortschritte, so hart die nackte Botschaft des Chefarztes, dass eine Zukunft als Regierungsstatthalter ausgeschlossen sei. «Ein schwerer Schlag.» Dank idealer Stellvertretung durch Béatrice Meyer, die das Regierungsstatthalteramt führte, konnte er das Hintertürchen für eine Rückkehr lange offenhalten. Er rang mit sich und suchte Lösungen, wie er trotz Handicap ein guter Statthalter bleiben könnte.

Philippe Chételat wollte entsprechend (noch) nicht zurücktreten. Er liess sich Zeit. Die Rückkehr ins mittlerweile baulich angepasste Eigenheim und die Klärung der finanziellen Situation nach Ausscheiden aus dem Berufsleben hatten Vorrang. Nie mehr arbeiten – diese Vorstellung verdrängte er lange. Die Fortschritte freuten und motivierten, auch wenn es nur in ganz kleinen Etappen vorwärtsging. Er lernte, sich zu organisieren. Dass es nicht ohne fremde Hilfe ging, hatte Chételat inzwischen akzeptiert. In seiner Frau fand und findet er die Verbündete, die heute spontan vorhandene Lücken erkennt und füllt.

Das lange Zögern hatte ein Ende. Der Tag der beruflichen Entscheidung war trotz aller Zuversicht und trotz allem Optimismus im Mai gekommen. Er wusste, mit der Demission ist die berufliche Karriere endgültig vorbei. Diese Tatsache wurde schliesslich mit dem Rücktritt per 31. Oktober Realität. Die Endgültigkeit hallt nach wie vor nach. Den Entscheid zum Rücktritt selber gewählt zu haben, ist für den abtretenden Regierungsstatthalter aber wichtig: «Ich gehe in Würde und erspare mir die Demütigung einer Abwahl.» Mit dem heutigen Tag gibt Philippe Chételat seine «Herrschaft» im Schloss Nidau gezwungenermassen freiwillig ab.

Ein speziell schwieriger Moment ist es nicht (mehr): «Ich habe abgeschlossen.» In den letzten Tagen verfiel Philippe Chételat eher in den Organisationsmodus betreffend den letzten Kontakten mit den Arbeitskolleginnen und Arbeitskollegen, mit der Ausrichtung des Apéros und mit dem Begleichen der letzten Rechnungen als amtierender Regierungsstatthalter. Dass er jetzt in ein neues Loch falle, glaubt er nicht. «Weil meiner Meinung nach alles im Leben seinen Sinn hat, hadere ich jetzt auch nicht betreffend einer himmelschreienden Ungerechtigkeit.» Er sei zufrieden mit dem, was er habe, und schaue durchaus optimistisch in die Zukunft.

Erwartungen. Was erwartet ein Mensch in der Situation von Philippe Chételat? «Nicht allzu viel», so der Betroffene. «Ich erwarte in erster Linie Empathie.» Er habe in den letzten zwei Jahren die wahren Freunde kennengelernt und freue sich über regelmässige Kontakte mit ihnen. Deren Besuche in Bern oder in Tschugg hätten ihn stets gefreut. Wichtig ist ihm zudem der Familienzusammenhalt und die Rückendeckung durch Renate, deren Beitrag in den letzten zwei Jahren er mit einem einzigen Wort umschreibt: heroisch. «Jede Veränderung bringt Chancen», gilt weiterhin als Leitmotiv im Leben von Philippe Chételat. Trotzdem. Er bleibt sich bei seinen Wünschen und Träumen treu: «Ich gebe nicht auf und kämpfe weiter. Ich möchte ganz gesund werden, sodass ich noch eine neue berufliche Perspektive in Angriff nehmen könnte.» Wohl wissend, dass diese Ziele (zu) hoch gesteckt sind, aber auch darauf vertrauend, dass alles so kommt, wie es muss. Der Schalk ist ihm nicht zu nehmen: «Ab morgen bin ich Frührentner.» Invalid oder IV-Bezüger kennt der Wortschatz von Philippe Chételat nicht. Aufgeben ist weiterhin keine Option.

 

Weitere Texte zur Geschichte im BT Print oder im E-Paper:

  • Im Gespräch mit Ehefrau Renate Chételat
  • Im Gespräch mit Daniela Wiest, CEO Klinik Bethesda Tschugg
  • Im Gespräch mit Klaus Meyer, Chefarzt Klinik Bethesda Tschugg

Nachrichten zu Biel »