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Neulich

In Saas Grund oder im Abgrund

Diese Erfahrung hat am Selbstwertgefühl genagt: Ich wanderte in den Walliser Bergen und plötzlich war ich ganz woanders. Jedenfalls nicht mehr auf dem Wanderweg, wie er auf der Karte eingezeichnet ist.

Bild: Niklaus Baschung

Autoritätsgläubig bin ich zuvor einem Wegweiser gefolgt. Offenbar verhält es sich im Wallis mit den Wanderhinweisen wie mit den Tageszeitangaben durch die einheimische Bevölkerung. Sie sind mehrdeutig. Es ist 15 Uhr am Nachmittag und im Dorf, welches wir passieren, wird mein berndeutsches «Grüessech» nacheinander von Walliser Passanten mit «N’Abend», «Güotun Tag» und schliesslich noch mit «Moorgnd» erwidert. Wer in einem solchen Kanton noch auf Wanderschilder vertraut, ist selber schuld.

Fünf Jahre später soll nun das Selbstvertrauen wieder aufgebaut und der Ort Saas Grund, das Ziel dieser wunderschönen Höhenwanderung, ohne Umwege erreicht werden. Wie schon beim letzten Mal geht es zu zweit flott voran, die Aussicht ist phänomenal, regelmässig laden Bänke zum Verweilen und Geniessen ein. Nach rund eineinhalb Stunden begegnen wir einem Paar in unserem Alter, welches auf einer Bank das
Mittagessen aus dem Rucksack einnimmt. Sie grüssen uns freundlich – und voller Mitgefühl. Wirke ich schon dermassen heruntergekämpft? Zehn Minuten später hört der Wanderweg mitten im Wald auf.

Eine Barriere und ein Verbotsschild versperren das Weitergehen. Die Wanderer werden stattdessen links bergauf geführt und sollen dann einen steilen felsigen Abhang hinunterkraxeln. Weiter unten in diesem Gefälle ist ein Warnschild sichtbar, das auf Steinschlag hinweist. Auf allen Vieren klettere ich bergab, die Hüfte schmerzt, mir ist nicht wohl, doch das Ziel ist nah, in drei weiteren Wanderstunden sind wir, so Gott will, in Saas Grund. Oder im Abgrund. «Ich habe Angst», meint meine nachfolgende Partnerin, «komm, wir kehren um.»

Nein!!! Alles in mir rebelliert und flucht. So ein Frust. Aber sie hat
leider recht, es gibt in der Schweiz schon genug Wanderunfälle in harmloserem Gelände.

Bei der Rückkehr begegnen wir wieder dem picknickenden Paar, das uns voller Freude empfängt. Auch sie sind an der derselben Stelle wieder umgekehrt. «Ich hatte grosse Angst», erklärt die Frau, «aber das ist gar nicht selbstverständlich, dass die Partner darauf eingehen. Viele wären rücksichtslos einfach weitergewandert.» – «Wissen Sie», ergänzt ihr Mann, «ich muss mir in meinem Alter nichts mehr beweisen.»

So habe ich es noch gar nicht betrachtet. Was bin ich doch für ein «Cheibäsiäch».

Während die beiden zurückkehren und wir auf der Bank nun ebenfalls das Mittagessen einnehmen, wandert ahnungslos ein drittes Wanderpaar an uns vorbei. Sollen wir sie vorwarnen? Aber die zwei sind ja alt genug, die müssen sich nichts mehr beweisen. Wir sehen sie allerdings nie wieder. So ein rücksichtsloses Mannsbild! Oder die beiden sind abgestürzt.

Oder die Frau hat zu ihrem verängstigtem Partner gesagt: «Jetzt sei mal ein richtiger Mann und halt dich nicht immer an mir fest.»


Info: Niklaus Baschung ist Journalist, Kommunikationsfachmann und Hundehalter.
kontext@bielertagblatt.ch

Stichwörter: Neulich, Niklaus Baschung

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