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Gericht

«Schlechte Abstammung, von Grund auf verwerfliche Gesinnung»

Ein Beziehungsdrama mit tödlichem Ausgang endet 1967 vor dem Geschworenengericht in Biel. Die Richter verurteilen den Täter zu einer Verwahrung auf unbestimmte Zeit. Man müsse «die Umwelt vor ihm schützen».

Eine Woche lang verhandelt das Geschworenengericht in Biel über den Fall des «Würgers von Brügg». Der Stil der Gerichtsberichterstattung wäre heute inakzeptabel. Bi
  • Dossier

Brigitte Jeckelmann
Im Juni 1967 ist der Sechstagekrieg in Israel Hauptthema im «Bieler Tagblatt». Die deutsche Schlagersängerin Peggy March trällert den Hit «Memories of Heidelberg». Im Fernsehen läuft «Adrian, der Tulpendieb», die erste Fernsehserie in Farbe. Die Frauen dürfen noch nicht abstimmen und die politischen Parteien übertreffen sich mit Inseraten für oder gegen die Bodenrechtsinitiative der SP und des Schweizerischen Gewerkschaftsbunds.


Pflegefamilien und Anstalten
Im Amthaus Biel verhandelt derweil das Geschworenengericht des Seelands ein dramatisches Tötungsdelikt an einer jungen Frau ein Jahr zuvor in Brügg. Der Fall gibt Einblick in eine Zeit, in der Herkunft und Armut als Gründe für ein Leben auf der schiefen Laufbahn gelten. Dies zeigt sich anhand der Tonalität, in der der Autor des «Bieler Tagblatts» die Artikel verfasst. Was ist geschehen?

Der Angeschuldigte Alois Matter* erwürgt seine Freundin Margrit Wälti*. Ist es Mord, vorsätzliche Tötung oder Totschlag? Über eine Woche lang dauert die Verhandlung, das «Bieler Tagblatt» berichtet täglich. Der Autor macht dabei keinen Hehl daraus, was er vom Angeschuldigten hält. So schreibt er vom «zigeunerhaften Wesen» der Mutter, der Vater habe dem Alkohol «wacker zugesprochen» und er betitelt den Mann als «den Würger von Brügg». Einzig «das sofortige Geständnis und die schlechte Abstammung» hätten dem Täter strafmindernd angerechnet werden können.
Die Berichte zeichnen das Bild eines Mannes, der «einen ungünstigen Start hatte». Die Behörden nehmen den liederlichen Eltern alle acht Kinder weg. Alois «pendelt zwischen Pflegefamilien und Anstalten hin und her und beginnt früh zu delinquieren». Nach Ansicht des Autors hätte «vielleicht noch etwas gebessert werden können, wenn er einmal massiv bestraft worden wäre». Aber merkwürdigerweise seien die Strafen «recht lax» gewesen.


Schutzwürdiges Interesse
«Dieser Stil ist heute inakzeptabel», sagt Cornelia Apolloni Meier, bis Ende 2002 Präsidentin des Kreisgerichts in Biel und heute in der Zivilabteilung des Berner Obergerichts. Der Autor beziehe ungeniert Stellung gegen den Beschuldigten und kommentiere diesen abwertend. Zudem nenne er dessen vollen Namen, was nur unter bestimmten Umständen erlaubt ist. Im vorliegenden Fall bestehe auch heute noch ein schutzwürdiges Interesse der Beteiligten — sowohl der Angeschuldigte, 1930 geboren, als auch Angehörige des Opfers könnten noch leben. Deshalb, so sagt Apolloni Meier, sei eine Anonymisierung zwingend notwendig.  

Was hat Alois Matter dazu gebracht, seine Geliebte zu töten? Er selber gibt die Tat sofort zu, als ihn die Polizei stellt. Alois, seit seiner Kindheit herumgeschubst, lernt Margrit beim Skifahren kennen. Sie werden ein Paar, er zieht nach Safnern, besucht seine Freundin aber oft in Brügg, wo sie zusammen mit ihrer Mutter wohnt. Dort fühlt er sich erstmals in seinem Leben geborgen. Die Frauen kochen für ihn, waschen seine Wäsche, er lümmelt vor dem Fernseher herum und geniesst «ein Paschaleben», das Margrit zu missfallen beginnt.

Sie lernt einen anderen Mann kennen. Alois ertappt sie dabei, wie sie sich küssen. Es kommt zu Szenen. Zeugen sagen aus, er habe gesagt, wenn er sie nicht haben könne, dann solle sie auch kein anderer haben. Eher bringe er sie um. Zeugen sagen weiter aus, Margrit habe sich erbarmt, als Alois sie immer wieder anbettelte, «doch wieder lieb» zu ihm zu sein - was sie fatalerweise dann auch tut. Sie lässt ihn wieder an sich heran, um sich einen Tag später erneut von ihm loszusagen.

Am Abend des 20. Januar 1966 sitzen die beiden in Margrits Wohnung in Brügg und streiten. «Plötzlich habe ich Rot gesehen», wird Alois später aussagen. Er würgt sie zehn Minuten lang, drückt ihren Kopf in die Sofapolster. Danach legt er Margrits leblosen Körper in ihrem Zimmer aufs Bett, legt sie fein säuberlich hin und fährt tagelang ziellos in ihrem Auto in der Gegend umher, bis ihn die Polizei in einem Steinbruch bei Biel aufspürt.


Vermindert zurechnungsfähig
Das psychiatrische Gutachten bescheinigt dem Mann verminderte Zurechnungsfähigkeit mittleren Ausmasses, was eine mildere Strafe zur Folge gehabt hätte. Doch die Geschworenen sind anderer Meinung: Matter habe die Tat «bei klarem Verstand und mit besonderer Gefährlichkeit» ausgeführt. Sie sind überzeugt von dessen «von Grund auf verwerflichen Gesinnung». Das Urteil: 13 Jahre «Zuchthaus». Diese Strafe wandelt das Gericht um in «eine Verwahrung auf unbestimmte Zeit». Denn «es besteht kein Zweifel darüber, dass Alois Matter eine Gefahr für die Umwelt darstellt - man muss sie vor ihm schützen».

1967 sind bei Strafprozessen mit einem Strafmass von über fünf Jahren Geschworenengerichte üblich. Die historischen Wurzeln gehen unter anderem auf die Französische Revolution zurück: Juristisch nicht gebildete Menschen aus dem Volk sollen die Rechtssprechung mitbestimmen. Mehr noch: «Das Volk sollte die oberste Gewalt haben, um Beamtenwillkür und Kabinettsjustiz zu unterbinden», sagt Oberrichterin Cornelia Apolloni Meier. Sie hat selber noch in Biel die Zeit der Geschworenengerichte erlebt. Diese Prozesse seien schwerfällig gewesen und hätten oft lange gedauert, sagt sie. Der Grund: Die Geschworenen haben als Laienrichter keinerlei Kenntnis der Akten. Sie müssen den Fall alleine anhand der Verhandlung beurteilen. Es gilt das Prinzip der Unmittelbarkeit und Mündlichkeit.


Gesunder Menschenverstand
Was man damit erreichen will? Apolloni Meier drückt es so aus: «Geschworene sollten das Element des gesunden Menschenverstands in die Rechtssprechung mit einfliessen lassen.» Der unmittelbare Eindruck von Beschuldigten, aber auch von Zeugen, sei wichtig, sagt Apolloni Meier. Eigentlich lautet die korrekte Bezeichnung Geschwornengerichte, in alten Gesetzestexten auch Assisen genannt. Der Name ist aus dem Spätmittelhochdeutsch und bedeutet, dass jemand durch einen Eid verpflichtet ist. Das Geschworenengericht setzt sich jeweils aus drei Berufsrichtern und acht dieser Laienrichter zusammen, die das Kantonsparlament wählt. Für die Prozesse lost man sie jeweils aus dem Topf der Gewählten aus.

Während in den USA Geschworenengerichte verfassungsrechtlich vorgeschrieben sind, verschwinden sie in der Schweiz nach und nach. Heute hat einzig der Kanton Tessin noch ein Geschworenengericht. Mit der Justizreform 1997 schafft sie der Kanton Bern endgültig ab. Dennoch sind weiterhin Laienrichter an den Gerichten tätig. Im Kanton Bern stehen jeweils zwei oder vier von ihnen dem Gerichtspräsidenten zur Seite, ausschliesslich in Straffällen ab einer gewissen Schwere. Im Unterschied zu den früheren Geschworenen haben sie aber Aktenkenntnis «und mehr Routine, weil man sie öfter aufbietet», sagt Oberrichterin Apolloni Meier.

Sollte Alois Matter noch leben, wäre er jetzt 87. Offen bleibt, wie er heute über seine Tat denken würde.

*Namen geändert

Stichwörter: Gericht, Würger, Brügg

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