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Wochenkommentar

Schweigen hilft keinem

Ein Lehrer wird vom Unterricht suspendiert. Gegen ihn läuft ein Strafverfahren wegen des Verdachts auf sexuelle Belästigung. Das dürfte für die Eltern der Kinder, die der Oberstufenlehrer unterrichtet hat, für sich allein schon beunruhigend genug sein.

Tobias Graden Stv. Chefredaktor 2016

Es handelt sich nicht um irgendeinen Lehrer, sondern um jenen Mann, dessen Einstellung im Jahr 2004 für grossen Aufruhr gesorgt hat. Der Lehrer hatte sich zwischen 1989 und 1998 sexueller Handlungen mit fünf Knaben im Alter von 13 bis 17 Jahren schuldig gemacht. Er war deswegen im Jahr 1999 zu 14 Monaten bedingt verurteilt worden. Irène Truffer, die damalige Schulkommissionspräsidentin der Rittermatte, wurde zur Buhfrau. Gegen die Einstellung des Lehrers mit der sexuellen Präferenz für Jugendliche gab es eine Kundgebung, unter eine entsprechende Petition setzten 2200 Personen ihre Unterschrift. Die Verantwortlichen verteidigten sich: Unser Rechtssystem fusse darauf, dass Verurteilte, die ihre Strafe abgesessen hätten, eine zweite Chance verdient hätten – um zu beweisen, dass sie aus ihren Fehlern gelernt hätten. Um den Lehrer wurde ein Betreuungsnetz aufgebaut, es wurden Massnahmen und Vereinbarungen getroffen, die eine enge Begleitung des Mannes garantieren sollten.

Festzuhalten gilt: Das sexuelle Interesse an Jugendlichen ist – wie andere sexuelle Veranlagungen – eine Neigung, die sich die Betroffenen nicht aussuchen können. Klar ist aber auch, dass ein tatsächliches Ausleben dieser Neigung weder aus ethischer noch aus juristischer Sicht möglich ist und darum unter allen Umständen verhindert werden muss.

Offenbar ist das in der Bieler Rittermatte jahrelang gut gegangen. Zumindest sind bis vor einigen Tagen keine Verfehlungen öffentlich geworden. Nun aber gibt es laut dem zuständigen Gemeinderat Cédric Némitz Hinweise darauf, dass der Lehrer «Grenzen überschritten und ihm auferlegte Abmachungen verletzt» habe. Festgestellt und gemeldet haben dies nicht etwa die Vorgesetzten des Mannes oder andere Lehrkräfte, sondern die Suspendierung erfolgte aufgrund von «Hinweisen aus der Bevölkerung».

Genaueres ist nicht zu erfahren. Die Stadt beruft sich auf das laufende Verfahren, sie hält an der Unschuldsvermutung fest und schützt so die Persönlichkeitsrechte des Lehrers. Das ist sicherlich korrekt, dient aber letztlich niemandem – auch nicht dem Lehrer selber. Denn die Kommunikation der Stadt wirft mehr Fragen auf, als dass sie beantwortet; die eigentliche Nicht-Kommunikation öffnet Spekulationen Tür und Tor. Angesichts der Vorgeschichte haben aber die Jugendlichen, die Eltern, die Schulbehörden, mithin: die Öffentlichkeit ein berechtigtes Interesse an genauerer Information. Wie sicher können sich Schüler und Eltern fühlen, wenn sie mehr Fragen als Antworten haben?

Er gehe «zum aktuellen Zeitpunkt» davon aus, dass nichts Gravierendes vorgefallen und es zu keinen sexuellen Handlungen gekommen sei, sagt Némitz. So sicher scheinen sich die Verantwortlichen aber nicht zu sein – denn wenn Némitz’ Einschätzung stimmt, wirkt die Suspendierung als Überreaktion. Allerdings sind die Tatbestände, wegen derer jetzt ermittelt wird, Antragsdelikte. Es ist also zu mindestens einer Anzeige gegen den Lehrer gekommen – ein Mittel, zu dem man nicht ohne Weiteres greift.

Bis die Untersuchung abgeschlossen ist, wird einige Zeit vergehen. Eine Suspendierung bei gleichzeitigem Schweigen ist aber kein dauerhaft praktikabler Zustand. Beenden kann ihn vorerst wohl nur der Lehrer selber. Der Mann ist 63 Jahre alt – ein Rücktritt mit allfälliger Frühpensionierung ist angezeigt. Denn selbst wenn sich die jetzigen Verdachtsmomente schliesslich als unbegründet erweisen sollten, ist ein künftiges geordnetes Anstellungsverhältnis und ein störungsfreier Unterricht nur noch schwer vorstellbar.

E-mail: tgraden@bielertagblatt.ch

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