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Wochenkommentar

Selbstbestimmungsinitiative: Was sie wirklich will

Der Abstimmungskampf um die sogenannte Selbstbestimmungsinitiative treibt mittlerweile seltsame Blüten.

Tobias Graden, Teamleiter Kultur und Wirtschaft

Dieser Tage kursieren Inserate, in denen folgende Argumente für ein Ja zum Anliegen ins Feld geführt werden: «Damit wir ... nicht in die EU geführt werden; Löhne und Arbeitsplätze erhalten; keine höheren Gebühren, Abgaben und Steuern bezahlen; den Schweizer Tier- und Rechtsschutz behalten; Rechtssicherheit gewährleisten.» Die Selbstbestimmungsinitiative als Heilmittel für alles? Als politisch-alchemistisches Wunder, das gleich alle Probleme löst? Geradesogut hätte das Komitee noch Punkte wie «Damit ich im Winter nicht mehr so kalt habe» hinzufügen können. Denn die Aufzählung im Inserat ist Unfug, gelinde gesagt.

Doch solches verfängt. Blickt man in Leserbriefspalten oder hört sich Debatten an, wird ersichtlich, dass oft gar nicht bekannt ist, worum es bei dieser Initiative eigentlich geht. Da werden Institutionen und Zuständigkeiten verwechselt und vermischt, es werden mit voller Kraft Schlagwörter herumgeschwungen, dass es nur so kracht. Man könnte meinen, ein Nein zur Initiative führe ohne Umwege zur EU-Mitgliedschaft, also unter Gesslers Joch, mithin direkt ins Verderben. Solche Ressentiments werden, wie Figura zeigt, von den Befürwortern bewusst geschürt. Denn die sattsam bekannten Feindbilder mobilisieren besser als eine nüchterne Diskussion über die Rangordnung von Rechtsnormen.

Fürs Erste ist darum ein Blick auf die puren Tatsachen nützlich. Was ist überhaupt dieses ominöse Völkerrecht, gegenüber dem die Schweizerische Bundesverfassung in fast jedem Fall Vorrang haben soll? Es sind die zahlreichen bilateralen oder multilateren Verträge, welche die Schweiz geschlossen hat. Dazu zählen auch die Charta der Vereinten Nationen oder die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK). Über deren Einhaltung wacht der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR). Dort sitzen also die «fremden Richter», die angeblich die Schweiz knebeln. Allerdings: Ganz so fremd sind sie gar nicht, jedenfalls nicht alle. Naheliegenderweise entsendet jeder Staat, der die EMRK unterzeichnet hat, einen Richter oder eine Richterin an den EGMR. Ebensowenig trifft es zu, dass der EGMR ständig die Schweiz rügen würde. Im Gegenteil. Zwischen 1979 und 2017 hat der EGMR von über 10 000 eingereichten Klagen nur gerade 182 überhaupt zugelassen. Und bei diesen setzte es in 106 Fällen eine Rüge für die Schweiz ab, also im Durchschnitt keine drei Mal pro Jahr. Von einem «Brüsseler Joch» (der EGMR ist in Strassburg) zu sprechen, entbehrt hier also jeglicher Grundlage.

Es ist wichtig hinzuzufügen, dass in jenen Fällen, in denen der EGMR gegen die Schweiz entschied, zumeist der «kleine Mann», die «kleine Frau» zu ihrem Recht kam. Es ging um Dinge wie das Recht auf ein faires Verfahren oder das Recht auf Freiheit und Sicherheit. Das kann mitunter bedeuten, dass die Schweiz einen straffällig gewordenen Ausländer nicht ausschaffen kann, obwohl die angenommene Ausschaffungsinitiative dies verlangt. Der Wille der Initianten ist es, dass in einem solchen Fall der Volkswille absoluten Vorrang haben soll. Bei einer Ausschaffung mag diese Haltung noch Zustimmung finden – denkt man aber etwas weiter, wird klar, wie gefährlich sie ist. Denn die EMRK, die gemäss Initiativtext als völkerrechtlicher Vertrag «nötigenfalls» gekündigt werden müsste, schützt auch die Rechte von Schweizerinnen und Schweizern. Kein Wunder, warnen darum frühere Bundesrichter vor der eigentlichen Natur der Selbstbestimmungsinitiative: Die Schweizer Verfassung würde durch sie nicht geschützt, sondern im Gegenteil gefährdet, sagte diese Woche alt Bundesrichter Heinz Aemisegger.

Die Initianten beklagen nicht nur im Falle von Ausschaffungen, sondern auch bei der Umsetzung der so genannten Masseneinwanderungsinitiative ein Kuschen vor dem Völkerrecht, in diesem Fall vor den Bilateralen Verträgen mit der EU. Dies sogar zu Recht: Eine harte Umsetzung hätte notwendigerweise deren Kündigung nach sich gezogen. Man muss sich allerdings bloss an den Abstimmungskampf erinnern, um auch hier die damalige verdeckt gehaltene Motivation zu erkennen: Die Befürworterseite warb mithin gerade mit dem Argument, die Initiative sei dann schon im Einklang mit den Bilateralen umsetzbar.

Aufrichtiger seitens der Initianten wäre es also, direkt zu sagen, welche völkerrechtlichen Verträge sie abschiessen wollen. Immerhin: Was die Personenfreizügigkeit betrifft, so kommt diese ehrliche – und legitime – Frage mit der «Begrenzungsinitiative» aufs Tapet. Aber die EMRK kündigen? Selbst in der jetzigen Stimmungslage ist kaum vorstellbar, dass eine solche Forderung in der Schweiz eine Mehrheit fände. Da ist es einfacher, mit einem «keine höheren Steuern» Stimmen zu fangen. Man könnte auch sagen: Es ist unehrlich, unlauter, unschweizerisch.

tgraden@bielertagblatt.ch

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