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Coronakrise

Selbstständige im Gesundheitswesen gehen leer aus

Physiotherapeuten, Podologen, Ergotherapeuten und andere Gesundheitsfachleute mit eigenen Praxen geraten durch die Coronakrise in Not. Denn sie können sich nicht unter den Rettungsschirm des Bundes stellen.

Hoffen auf Hilfe: Robert Harrer, Ursina Bernhard, Angela Gemelli und CHristine Smeets (von links). Bild: Peter Samuel Jaggi
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Brigitte Jeckelmann

Um die medizinische Grundversorgung aufrecht zu erhalten, müssen die Praxen von selbstständig Erwerbenden im Gesundheitswesen geöffnet bleiben. Gleichzeitig dürfen sie aber nur die absolut notwendigen Behandlungen durchführen. Die Folge: Patienten bleiben den Praxen der Physiotherapeuten, Ergotherapeuten, Logopäden, Podologen, Hebammen, aber auch denjenigen der Ärzte und Zahnärzte fern. Deren Umsätze sind deshalb massiv eingebrochen, zwischen 80 und 100 Prozent, sagt André Bürki, Geschäftsführer des Schweizerischen Verbands der Berufsorganisationen im Gesundheitswesen. Der Dachverband vertritt die Interessen von rund 50 000 ausgebildeten Fachpersonen.

Gang zum Sozialamt droht

Doch vom Massnahmenpaket des Bundes können die allermeisten von ihnen nicht profitieren. Der Grund: Als Selbstständige können sie keine Erwerbsausfallentschädigung beantragen, da kein Bundesratsbeschluss zur Schliessung der Praxen vorliegt. Nur Eigentümer und Teilhaber einer GmbH dürfen Kurzarbeit beantragen – aber auch davon sind Tausende von Selbstständigerwerbenden ausgeschlossen. Ihnen droht der Gang zum Sozialamt.

Zwar gewährt der Bund zinslose Kredite für Verdienstverluste wegen der Coronakrise. Doch das hilft den wenigsten, zumal in der Verordnung auch die Rede von variablen Zinsen ist. Das heisst, die Banken könnten je nachdem dennoch einen Zins verlangen. Die Bieler Physiotherapeutin Ursina Bernhard Heitmann sagt: «Unsere Umsätze sind viel zu tief, wir würden Jahre bis Jahrzehnte brauchen, um die Kredite zurückzahlen zu können.» Das wolle sie nicht riskieren.

Tage ganz ohne Patienten

Derselben Meinung sind ihre Bieler Berufskollegen Robert Harrer, Christine Smeets und Angela Gemelli Supersaxo. Alle vier sind sich einig: Was sie zuletzt gebrauchen können, ist, in eine Schuldenfalle zu geraten. Seit dem Erlass des Bundes am 16. März behandeln sie in ihren Praxen noch einen bis zwei Patienten täglich. Manchmal kommt auch gar niemand. Die Patienten würden reihenweise absagen, aus Angst vor einer Ansteckung. Sogar solche, die eigentlich dringend eine Behandlung nötig hätten, sagt Ursina Bernhard.

Gerade Physiotherapeuten sind gesuchte Fachleute. Die Auftragsbücher sind normalerweise übervoll, es bestehen Wartezeiten. Doch jetzt sind sie praktisch leer. Auch die Möglichkeit von therapeutischen Fernbehandlungen per Computer ist keine Option. Denn noch gibt es dafür kein grünes Licht vom Bund. «Dabei könnten sie so den Patientenkontakt vermeiden, das Risiko von Ansteckung minimieren und erneute Spitalaufenthalte verhindern», sagt Verbandsgeschäftsführer André Bürki. Es handle sich um eine Notfallmassnahme nur während der Zeit der Krise. Doch das Bundesamt für Gesundheit habe sich bisher nicht zu einem Entscheid durchringen können.

Die vier Physiotherapeuten sitzen im Gymnastikraum in der gemeinsamen Praxis von Ursina Bernhard und Christine Smeets am Unteren Quai in Biel. Platz für den vorgeschriebenen Abstand von zwei Metern gibt es hier genug. Ihre Gesichter sind ratlos.

Sie stehen im Regen

Dass der Bund sie von seinem Rettungsschirm ausschliesst und sie im Regen stehen lässt, können sie nicht verstehen. Für Robert Harrer, Christine Smeets, Ursina Bernhard Heitmann und Angela Gemelli Supersaxo geht es in den nächsten Monaten um die Existenz: Geld kommt keines mehr rein, doch die Ausgaben für Miete und Unterhalt ihrer Praxen bleiben bestehen. Nebenbei müssen sie auch noch leben können und teilweise ihre Familien mitfinanzieren.

Ursina Bernhard sagt, anfangs habe sie dem Versprechen von Bundespräsidentin Simonetta Sommaruga (SP) blind vertraut. «Wir lassen euch nicht im Stich», verkündete diese vor den Medien. Doch genau das geschieht nun mit den Selbstständigen im Gesundheitswesen wie auch den Freiberuflern aus anderen Branchen: Fotografen, Grafikern, Marketingfachleuten, Dolmetschern, Taxifahrern und vielen anderen mehr. Sie haben sich nun zusammengeschlossen und in einer Online-Petition «Corona-Soforthilfe für alle Selbstständigen – und diesmal wirklich für alle» Unterschriften gesammelt. Innert fünf Tagen haben bereits fast 48 000 Personen unterschrieben.

Hilferuf an den Bundesrat

Auch der Schweizerische Verband der Berufsorganisationen im Gesundheitswesen hat mit einem Schreiben an den Bundesrat auf den Missstand reagiert. «Wir begrüssen und unterstützen die vom Bundesrat ergriffenen Massnahmen in der Pandemie», heisst es darin. Aber: Bei den selbstständigen Fachleuten im Gesundheitswesen handle es sich häufig um kleine Betriebe oder Einzelpersonen mit minimalen Reserven. Und weiter: «Es gilt, auch in diesem Bereich Konkurse zu vermeiden und Arbeitsplätze zu erhalten – und damit sicherzustellen, dass die ambulante Versorgung auch nach der Coronakrise noch existiert und weiter gewährleistet werden kann».

Der Dachverband beantragt deshalb «einen schnellen, unbürokratischen und umfassenden Zugang für Praxen der ambulant tätigen Gesundheitsberufe zum Massnahmenpaket des Bundes». Es gehe nicht nur um die Existenz der Therapeuten und Pflegefachleute als tragende Elemente der medizinischen Grundversorgung, sagt André Bürki dazu. Sondern auch um das Wohl der Patientinnen und Patienten.

Der Hilferuf fand Gehör. An der Medienkonferenz von gestern stellte Bundesrat Guy Parmelin den Selbstständigen Hilfe in Aussicht, ohne allerdings konkret zu werden. Bis am kommenden Mittwoch sollen das Bundesamt für Sozialversicherungen, das Finanzdepartement und das Staatssekretariat für Wirtschaft Massnahmen zur Unterstützung von Härtefällen prüfen.

Simonetta Sommaruga, Bundespräsidentin

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