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Biel

Sie arbeitet wie eine Detektivin – nur mit Trampolin

Seit 20 Jahren ist Serena Notter leidenschaftliche Logopädin. Was bei Kindern zu viel Zeit am Handy auslöst, findet sie erschreckend.

Mit dem Trampolin lehrt Serena Notter Kindern das Lesen. Bild: Peter Samuel Jaggi
  • Dossier

Aufgezeichnet: Hannah Hermann

Aufgewachsen bin ich unter anderem in Griechenland. Wir sind damals, als ich fünf war, aufgrund der Arbeit meines Vaters nach Athen gezogen.

Schon immer habe ich viel gelesen und Bücher fast verschlungen. Die Sprache hat mich fasziniert. Deswegen liebe ich es, dass ich jetzt Menschen in diesem Bereich helfen kann, weil mir die Sprache selbst so viel bedeutet.

Nach der Matura habe ich zuerst Bewegungspädagogik studiert. Ich fühlte mich jedoch unterfordert und ging zur Berufsberatung, wo ich schnell auf die Logopädie stiess. Ich hatte noch nie davon gehört, aber es vereint Psychologie, Pädagogik, Medizin und Sprache: Alles Dinge, für die ich mich sehr interessierte. Vielleicht war es auch Fügung, als ich mich für die Logopädie entschied, denn ich liebe meinen Beruf immer noch sehr.

Studiert habe ich an der Uni Fribourg. Für die Zulassung zur Ausbildung muss man sich mehreren Abklärungen unterziehen. Das Gehör, die Stimme und die Aussprache müssen einwandfrei sein, um im Beruf eine Vorbildfunktion einnehmen zu können. Nach dem Abschluss sind wir berechtigt, bestimmte Störungen zu behandeln, Diagnosen zu erstellen und in Eigenverantwortung, nicht im Auftrag eines Arztes, zu arbeiten.

In der Logopädie gibt es sehr unterschiedliche Bereiche. Zum einen wäre da die Unterteilung in den medizinischen und den pädagogischen Bereich. Das sind fast komplett andere Berufe. In diesen zwei Kategorien gibt es dann noch weitere Verzweigungen: Bei Erwachsenen geht es mehrheitlich um neurologische Störungen oder Probleme im Hals-Nasen-Ohren-Bereich, mit der Stimme und dem Schlucken. Bei den Kindern fängt es schon mit Säuglingen an, die nicht richtig schlucken oder saugen können. Der wohl bekannteste Sektor ist die Arbeit mit Kindergartenkindern bis hin in die Oberstufe. Doch wir arbeiten auch auf Sonderschulen mit Kindern mit Behinderungen.

Ich hatte schon immer ein Interesse an Aussergewöhnlichem. Deshalb wählte ich für meinen beruflichen Einstieg die Klinik Rehab in Basel. Dort werden schwer hirnverletzte Menschen behandelt, es hat sogar eine Wachkomastation. Das hat mich fasziniert: Menschen im Koma, zwischen Tod und Leben. Was nehmen sie wahr? Was spüren sie? Wie kommunizieren sie? Meine Diplomarbeit hat dieses Thema behandelt: Kommunikation mit Menschen im Koma.

Nach zwei Jahren wurden mir die teaminternen Spannungen und Kompetenzrangeleien zu viel. Es ist ein von Frauen dominierter Beruf, pro Ausbildungsgang hat es kaum mehr als einen Mann. Vielleicht liegt es daran, dass es kaum Aufstiegschancen in der Logopädie gibt.

Ich entschied mich, reisen zu gehen und blieb zwei Jahre in Südamerika. Nach meiner Rückkehr arbeitete ich für einige Zeit an einer Sonderschule. Da ich kein Routinemensch bin, der zehn Jahre lang das Gleiche machen kann, habe ich immer wieder mal etwas Neues gemacht. Schliesslich konnte ich in einer Neuro-Praxis als selbstständige Logopädin einspringen und da merkte ich: Das ist mein Ding, das will ich machen. Sich als Logopädin selbstständig zu machen, ist nicht sehr attraktiv. Zum einen finanziell, zum anderen aber auch von den Konditionen. Ich war mir meiner Sache jedoch sicher.

Es gibt nur wenige Logopädinnen, die diesen Weg einschlagen. Der Bedarf an Therapien ist jedoch gross. Mittlerweile arbeite ich neben der Praxis zusätzlich 35 Prozent für den Schulverband Nidau. Früher hätte ich nie daran gedacht, mich an einer Schule anstellen zu lassen. Doch da ich jetzt einen dreijährigen Sohn habe, für den ich alleine aufkomme, bietet es mir Sicherheit. 80 Prozent aller Logopädinnen arbeiten an Schulen, die Bedingungen sind gut.

Nichtsdestotrotz hat es in der gesamten Schweiz einen extremen Mangel an Logopäden. Ich bin nun seit 20 Jahren diplomiert und die Situation spitzt sich zu. Es fehlt an allen Ecken und Enden. Unser Beruf ist einfach noch immer zu unbekannt. Die meisten wissen nur, dass es die Logopädie gibt, wenn sie selbst betroffen sind oder jemand aus der Familie.

Wenn Eltern die Sprachentwicklung ihrer Kinder früh fördern wollen, sollten sie ganz natürlich mit dem Kind reden, keine Babysprache. Sie sollten auch selbstständiges Handeln fördern und ermutigen, Dinge auszuprobieren. Wenn ich dem Kind als Elternteil immer hinterherrenne und es nicht eigene Lösungen finden lasse, wirkt sich das negativ auf die Entwicklung der Kleinen aus. Sprachentwicklung basiert auf dem Forschergeist. Wir sagen: Die Sprache will entdeckt werden.

Zudem ist wichtig, dass jeder in seiner eigenen Muttersprache mit dem Kind spricht. Egal wie selten sie ist oder wie wenig sie gesprochen wird. Denn die eigene Sprache ist die Herzenssprache. Sie transportiert Gefühle und baut die Bindung auf. So erfährt das Kind Sicherheit und ist emotional eingebettet. Es erhält eine solide Basis für seine eigene Kommunikationsfähigkeit.

Die meisten Kinder kommen problemlos mit mehreren Sprachen gleichzeitig klar. Mein Sohn wächst beispielsweise mit vier Sprachen gleichzeitig auf und kann diese gut unterscheiden und passend anwenden. Für andere Kinder kann aber schon eine zweite Sprache zu viel sein.

Ein Kind soll Langeweile erfahren dürfen. Das regt den Geist an und lässt es neue Beschäftigungen finden. Wenn es ständig das Handy oder iPad in die Hand gedrückt bekommt, kann sich seine Sprache schlecht entwickeln. Ich habe solche Kinder in der Therapie. Es ist erschreckend. Sie können kaum vollständige Sätze bilden, vom Schreiben ganz abgesehen. Die natürliche Entwicklung leidet extrem. Es fehlen wichtige Bereiche, beispielsweise das räumliche Vorstellungsvermögen oder die Eigenwahrnehmung des Körpers. Die Sprachentwicklung geht einher mit der intellektuellen Entwicklung, ist also prägend für das ganze Leben.

Man kann sich die Sprache wie einen Baum vorstellen. Die Wurzeln sind die Wahrnehmungsbereiche, die Motorik und die Psyche. Daraus entwickelt sich als Stamm das Sprachverständnis, und darauf bauen sich Laute, Worte und Sätze als Äste auf. Ein Baum muss gepflegt und gegossen werden und er braucht Licht und Sonne. Das Licht repräsentiert in diesem Sinne den Kontakt und die Sonne die Liebe. Meine Arbeit als Logopädin sehe ich darin, herauszufinden, wo ein Kind einen Mangel aufweist, also quasi ein Loch im System zu finden und das zu füllen, ein bisschen wie eine Detektivin. Das ist kein Nachhilfeunterricht, auch keine Förderung. Das ist Therapie.

Drei Nachmittage pro Woche empfange ich Kinder in meiner Praxis. Alle haben LRS, eine Lese-Rechtschreibschwäche. Mit Kindern ist die Therapie sehr spielerisch. Wir haben da beispielsweise das «Blotto» kreiert: ein Lotto mit Buchstaben. Viele haben bis hin zur 6. Klasse Schwierigkeiten beim Lesen von «ch», «ng», «sch», «eu», «äu». Das Entziffern von Wörtern benötigt zu viel Arbeitsspeicher und macht müde. Durch das Spielen werden die Laute im Langzeitgedächtnis verankert.

Beim Schreiben muss das Kind in einem ersten Schritt genau das schreiben lernen, was es hört. Laut für Laut, zum Beispiel Kette: K-E-T-E. In einem zweiten Schritt lernt es dann, wieso Kette mit zwei «t» geschrieben wird. Kette hat ein kurzes «e», deshalb die Verdoppelung. Dafür gehen die Kinder auf das Trampolin. Bei einem kurzen Laut hüpfen sie, bei einem langen grätschen sie die Beine.

Es gäbe hunderte schöne, berührende Erlebnisse in meinem Beruf. Zu mir kam mal eine Frau, die über eine lange Zeit eine sehr schwache, heisere Stimme hatte. Nachdem sie sich von ihrem Freund getrennt hatte, kam die Stimme kraftvoll zurück. Für mich ist ein Stimmproblem immer nur die Spitze des Eisbergs.

Meine Freizeit kommt leider in letzter Zeit viel zu kurz. Entweder arbeite ich oder ich bin mit meinem Sohn zusammen. Doch ich versuche, mir wieder mehr Auszeiten zu schaffen. Tanzen und singen tue ich leidenschaftlich gern. Ab und zu treffe ich mich in Bern mit einer Pianistin. Auch in der Natur kann ich gut auftanken. In Biel liebe ich die Altstadt und den See, ich bin gerne hier zu Hause.

Stichwörter: Mein Montag, Biel

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