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Mein Montag

Sie will die Armut sichtbar machen

Monika Stampfli aus Nidau ist Geschäftsführerin der Winterhilfe Schweiz. Um die kantonalen Stellen der Hilfsorganisation zu besuchen, reist sie mit dem Zug durchs ganze Land. Die 53-Jährige bewundert, wie ihre Klienten den Alltag meistern.

«Ich bin ein Mensch, der relativ gelassen unterwegs ist», sagt Monika Stampfli. Bild: Nico Kobel
  • Dossier

Aufgezeichnet: Carmen Stalder

«Um halb sieben reisst mich der Wecker aus dem Tiefschlaf. Ich stehe unter die Dusche, fülle mir einen Cappuccino in meine Thermos-Tasse und gehe auf den 7.15-Uhr-Zug. Ich sitze immer in den gleichen Wagen, immer ins gleiche Abteil. Das Zugfahren ist für mich Erholung pur: Morgens und abends habe ich jeweils eine Stunde, in der ich keine Telefone beantworte und in der niemand zu mir kommen kann. Ich kann die Mails abarbeiten, Konzepte schreiben oder Sitzungen vorbereiten. In Zürich angekommen, gehe ich zu Fuss zehn Minuten zu meinem Büro. Dort erwartet mich mein zehnköpfiges Team und wir beginnen mit Sitzungen.

Ich habe die Geschäftsführung der Winterhilfe Schweiz inne. Zusammen mit meinem Team kümmere ich mich um das nationale Fundraising, die Kommunikation, die Organisation unserer nationalen Angebote und das Durchführen von Schulungen für die kantonalen Stellen. Die Winterhilfe ist zwar bei den über 70-Jährigen noch sehr bekannt, bei den Jüngeren hört es jedoch auf. Meine derzeitige Hauptaufgabe ist die neue Positionierung. Sie läuft unter dem Slogan ‹Winterhilfe – weil Armut in der Schweiz oft unsichtbar ist›. Als ich mich vor zweieinhalb Jahren für die Stelle beworben habe, habe ich selbst gedacht, dass Armut in der Schweiz doch kein Thema ist, da wir wirklich gute Sozialwerke haben. Aber es gibt Menschen, die dazwischen fallen, zum Beispiel die sogenannten Working Poor. Trotz Job kommen sie fast nicht über die Runden. Da bin ich recht auf die Welt gekommen.

Die Winterhilfe Schweiz ist die Dachorganisation aller 27 kantonalen Winterhilfe-Organisationen. Wir sind ein nationales Hilfswerk, das Armutsbetroffenen in der Schweiz, die sich in einer akuten finanziellen Notsituation befinden, hilft. Letztes Jahr haben wir über 32 000 Menschen unterstützt. Wir sammeln das ganze Jahr über Geld, auch wenn wir Winterhilfe heissen. Der Name ist für Aussenstehende irritierend, deshalb haben wir darüber diskutiert, ob wir ihn wechseln sollen – uns aber dagegen entschieden. Die Winterhilfe wurde 1936 in einem wirklich harten Winter zwischen den Weltkriegen gegründet. Innerhalb einer Woche haben Unternehmer und Politiker über eine Million Schweizer Franken gesammelt. Die Winterhilfe hat Kleider, Kohle und Essensgutscheine abgegeben.

Ausser der Abgabe von Kohle machen wir heute immer noch Ähnliches: Wir geben Kleiderbons und Essensgutscheine ab, wir bezahlen Zahnarztrechnungen oder Nebenkosten. Die meisten unserer Klienten verdienen knapp mehr als das Existenzminimum und haben entsprechend keinen Anspruch auf Sozialhilfe. Wenn eine aussergewöhnliche Rechnung kommt, bringt das ihr ganzes System durcheinander. Bevor alles zusammenbricht, sollen sie zu uns kommen. Sie sind Überlebenskünstler. Es ist wirklich bewundernswert, wie sie ihren Alltag meistern.

Wenn ich nicht in Zürich bin, bin ich bei den kantonalen Organisationen. Ich bin in der ganzen Schweiz unterwegs: letzte Woche im Thurgau, davor im Tessin und in Lausanne. Dabei kann ich meine Sprachkenntnisse einsetzen und auf die verschiedenen Kulturen eingehen. Die Kantonalorganisationen sind sehr unterschiedlich, wir haben die urbanen Kantone, die ländlichen, die kleinen, die grossen … In die Kantone zu gehen, ist definitiv etwas, was ich sehr gerne mache. Ich mag es, mich auszutauschen und die Leute miteinander zu vernetzen.

Die Winterhilfe-Mitarbeitenden, viele von ihnen arbeiten ehrenamtlich, sind wie eine Familie. Sie verfügen alle über eine grosse Sozialkompetenz. Die Menschen, die an uns gelangen, sind in einer Notsituation. Uns geht es grundsätzlich nicht darum, wie sie in diese geraten sind, sondern wie sie wieder hinauskommen. Ich selbst habe nur ab und zu direkt mit den Betroffenen Kontakt. Ich bin Betriebsökonomin: Ich weiss, wie man eine Non-Profit-Organisation führen muss, wie ich Projekte anpacken und sie durchziehen kann. Ich bin ein Mensch, der relativ gelassen unterwegs ist. Wenn etwas kommt, das mir nicht in den Kram passt, versuche ich trotzdem, etwas Positives daraus zu nehmen.

Beim Fundraising habe ich viel gelernt. Ich finde es auch nicht ideal, all die Couverts mit irgendeinem Geschenkli zu erhalten. Aber wenn wir das wissenschaftlich anschauen, sehen wir, dass ein Mailing mit Geschenk netto viel mehr Geld einbringt, als eines ohne. Also müssen wir einen solchen Verstärker mitschicken, weil wir damit mehr Menschen helfen können. Erst gerade wurde mir gesagt, dass man doch nicht immer einen Einzahlungsschein beilegen kann. Eben doch! Weil jeder, der etwas einzahlt, sich gut fühlt dabei. Wenn wir jemandem keinen Einzahlungsschein beilegen, verwehren wir ihm also die Chance, sich gut zu fühlen.

Was mich im Moment bedrückt, ist die Diskussion um die Kürzung des Grundbedarfs im Kanton Bern. Man kann darüber diskutieren, wie viel Geld die ärmsten Bewohner für Nahrung, Kleidung, ÖV und so weiter benötigen. Aber ich finde, man sollte diese Diskussion im Rahmen aller Kantone führen, so wie dies bei der Skos (Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe, Anm. d. Red.) gemacht wird. Als einziger Kanton die Skos-Normen zu unterschreiten, finde ich kontraproduktiv.

Bis ich 40 Jahre alt war, war ich in der Privatwirtschaft tätig. Dann hatte ich den Wunsch, etwas Sinnstiftenderes zu machen. Während acht Jahren habe ich zusammen mit Unternehmen Kindertagesstätten aufgebaut, unter anderem auch in Biel.

Viele Leute haben das Gefühl, Non-Profit sei etwas Wohlfühlen und Basteln. Aber als Betriebsökonomin habe ich die genau gleichen Auflagen wie ein 
in der Wirtschaft geführter Betrieb: Ich muss mit den Geldern, die ich zur Verfügung habe, das Beste herausholen.

Wenn ich in Zürich bin, essen meine Kolleginnen und Kollegen meist gemeinsam unser Mitgebrachtes. An einem nicht zu strengen Tag gehe ich um
16 Uhr auf den Zug. Wenn ich länger arbeite, kann ich bei meinen Eltern in Zürich übernachten. Auch Home Office ist immer mal wieder angesagt. In meiner Freizeit habe ich meine Fixpunkte. Am Dienstag gehe ich seit Jahrzehnten ins Yoga, das ist mir heilig. Aber sonst bin ich sehr flexibel. Je nach Wetter mache ich abends noch etwas Sport oder gehe ins Kino.

Ich bin überzeugt, dass es die Winterhilfe Schweiz noch lange geben wird. Es kommt ein ziemlicher Wandel auf uns zu. Der wachsende Wohlstand, den wir seit den 70er-Jahren geniessen, wird so nicht weiter gehen. Da wird ein grosses Umdenken stattfinden müssen.»

 

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