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Porträt

«Sie wollten meinen Willen brechen – wie sie es mit den Tieren machten»

Sein Schicksal bringt ein wenig Licht in ein dunkles Kapitel der Schweizer Geschichte: Ueli Schärrer aus Biel wird als Verdingkind auf einem Bauernhof regelmässig verprügelt. Später trifft der bekennende Sozialist auf Wladimir Putin, der versucht, ihn zum Kommunismus zu bekehren.

Ueli Schärrer war noch keine zwei Jahre alt, als er vom Küchentisch weggezerrt wurde, um danach als Verdingkind auf einem Hof versorgt zu werden. © Peter Samuel Jaggi / Bieler Tagblatt

von Peter Staub

Wie viele Betroffene noch leben, ist nicht genau bekannt, aber man geht von Zehntausenden aus.Die ehemaligen Verdingkinder leben mitten unter uns. Einer von ihnen ist der Bieler Ueli Schärrer, der als knapp Zweijähriger seinen Eltern weggenommen wurde, um dann als Verdingkind auf einem Bauernhof am Gurnigel aufzuwachsen. «Es war wahrscheinlich im Herbst 1954, als ich vom Morgentisch weggezerrt wurde», erzählt Schärrer im Wohnzimmer des kleinen Hauses in Jens, wo er mit seiner Partnerin zur Miete lebt. Wie das genau gelaufen ist, als er und seine vier Geschwister in verschiedene Autos verfrachtet wurden, daran kann er sich nicht mehr erinnern. Dafür war er zu klein.

Die Familie lebte damals am Mösliweg. «Dort, wo heute die Friedhofmauer steht, gab es Holzbaracken. Es waren die billigsten Wohnungen.» Hinter dem Haus war ein kleines Gärtchen, dahinter kamen die ersten Gräber. «Das weiss ich, weil ich später einmal dort Ferien machen konnte.» Schärrer erzählt lakonisch. Nur ab und an spürt man, dass er Mühe hat, die mit der Erinnerung verbundenen Emotionen zu kontrollieren. Aber bei allem Leid, das ihm als Kind widerfuhr, hat sich Ueli Schärrer seinen Humor nicht nehmen lassen.

Eine Lehre zu machen, war kein Thema

Dass er als Verdingkind aufwuchs, hat auch mit der Geschichte seiner Eltern zu tun. Denn sowohl seine Mutter als auch sein Vater waren Verdingkinder. Seine Mutter Frida kam 1928 als eines von 13 Kindern zur Welt. Fridas Mutter leitete eine Art Suppenküche, ihr Vater arbeitete bei General Motors in der Sattlerei, beide hatten keine Berufsausbildung. «Meine Mutter Frida Hannah kam als Kind zu einem Bauern, bei dem sie als Hausmädchen arbeitete.» Da habe sie es von «bitter bis böse» gehabt. Vater Johann Schärrer wurde 1910 in Bellmund geboren.

Nach einem Arbeitsunfall seines Vaters vermochte Johanns Mutter die neun Kinder nicht durchzubringen. Ueli Schärrers Vater wurde auf einem Hof in Hagneck verdingt, wo es ihm den Umständen entsprechend gut ging: «Er hatte genügend zu essen, hatte gute Schulkollegen, von denen später einer sogar mein Götti wurde.» Allerdings konnte er keine Lehre machen, er blieb sein Leben lang Handlanger. Eine Lehre war auch für Uelis Mutter keinThema. 16-jährig kam sie nach Biel zurück, wo sie in einer Uhrenfabrik arbeitete. Mit 18 wurde sie schwanger und gebar ein uneheliches Kind.

Danach lernte sie Johann Schärrer kennen. Weitere vier Kinder kamen im Abstand von jeweils eineinhalb bis zwei Jahren zur Welt. Die junge Mutter wurde vom Sozialamt verpflichtet, arbeiten zu gehen, da der Vater allein zu wenig verdiente, um die Familie durchzubringen. «Sie arbeitete als Putzfrau. Aber es gab immer wieder Schwierigkeiten, etwa wenn ein Kind krank war und sie deswegen nicht arbeiten gehen konnte», erzählt Ueli Schärrer. Was dann konkret geschah, erfuhr er erst, als er kürzlich vom Bundesamt für Justiz seine Akten erhielt. Zweieinhalb Zentimeter dick ist der Stapel zu seinem Fall.

«Meine Mutter tat schliesslich das, was auch ihre Mutter mit ihr gemacht hatte: Sie nahm das kleinste Kind auf den Arm, also mich, und ging in die Stadt betteln. Das galt damals als Verbrechen», sagt Schärrer. Empört, dass Betteln als Verbrechen galt. Nachdem der Staat die Mutter mehrmals erwischt und verwarnt hatte, wurde sie vom Regionalgericht Biel wegen «schweren Bettelns» zu einem Jahr Gefängnis verurteilt. Damit war auch das Schicksal ihrer Kinder besiegelt.

«Wir wurden von der Jugendbehörde und der Jugendanwaltschaft im Namen des Amtsvormundes abgeholt», sagt Ueli Schärrer, der unterdessen recherchiert hat, dass der damalige Bieler Amtsvormund rund 500 Bieler Kinder zu Verdingkindern gemacht hatte. Und zwar nicht nur Kinder aus armen Familien: «Einer Frau, die in Biel ein ‹Glaslädeli› führte, nahm man den Sohn weg, weil sich dessen Vater das Leben genommen hatte.» Schärrer kennt den Fall, weil er mit dem Sohn im Heim war: «Seine Mutter hatte keine Chance, sich zu wehren.» Einen Tag, nachdem man ihr die Kinder weggenommen hatte, wurde Schärrers Mutter ins Gefängnis nach Hindelbank gebracht.

«Mit den Kleidern ins eisige Wasser geworfen»

Als Ueli Schärrer und seine vier Geschwister vom Küchentisch weggerissen wurden, setzte man sie in drei Autos. Die älteste Schwester kam nach Bern ins Heim «Steinhölzli», der Älteste wurde nach einem Umweg über ein Heim bei den Grosseltern platziert.Die drei Jüngsten kamen nach Wattenwil im Gürbenthal am Gurnigel. Dort lag auf einem hohen Hügel ein Bauernhof, in dem 15 Heimkinder untergebracht waren. Für diese waren drei Betreuerinnen zuständig, die sogenannten «Tanten». Das Gelände war so steil, dass man nicht richtig bauern konnte. Der Bauer hielt Kühe, Ziegen und Pferde.

Die Verdingkinder lebten und arbeiteten auf dem Hof. Sie seien alle aus den Städten heraus «verschlagen» worden, sagt Schärrer. Untergebracht waren sie in Zimmern im ersten Stock. «Wir waren acht kleine Jungs in einem Zimmer mit drei Betten.» An die «Tanten» mag er sich nicht mehr sehr gut erinnern. Aber sie hätten lieber zugeschlagen als mit den Kindern zu sprechen. Kleinigkeiten reichten, um verprügelt zu werden. «Oder wir wurden mit den Kleidern in den Brunnentrog geworfen, ins eiskalte Wasser.» Sobald es einigermassen ging, musste der kleine Ueli im Stall und beim Heuen helfen. Am Anfang war er der Kleinste. Mit der Zeit kamen jüngere Kinder nach, während ältere nach dem Ende der Schulzeit verschwanden.

Die Kinder fochten untereinander Kämpfe um die Rangordnung aus. «Es gab es regelmässig ‹blaue Augen›. Man musste sich immer wehren und durchsetzen.» Hin und wieder versuchten die älteren Geschwister, ihm zu helfen, aber wenn das auskam, bekamen sie Dresche. Anflüge von gegenseitiger Solidarität wurden rigoros unterbunden. Die Bauersleute griffen nur selten ein. Aber dann sei es brutal zugegangen, erzählt Ueli Schärrer: «Da hatten wir danach Abdrücke von Gürtelschnallen auf dem Rücken.» Prügel und Ohrfeigen gehörten zum Standardprogramm. Es gab Mädchen, die ohnmächtig wurden, weil sie so hart geschlagen wurden.    

Mit der für ihn typischen Untertreibung sagt er: «Da ist einiges nicht so gelaufen, wie es hätte laufen sollen.» So kam es vor, dass die Kleinkinder im Badezuber «vergessen» wurden, während die «Tanten» in der Waschküche arbeiteten. «Wir waren so klein, dass wir nicht selber aus dem Zuber klettern konnten.» So blieben die Knirpse stundenlang im kalten Wasser sitzen, bis sie fast erfroren. «Ob sie uns wirklich vergassen oder ob es Absicht war, kann ich nicht beurteilen. Aber wir hatten das Gefühl, dass man uns so einfach ruhigstellen wollte.»

«Es stank tatsächlich wie die Sau»

Der Weg zur Schule war ungefähr viereinhalb Kilometer lang und steil. «Im Sommer waren wir barfuss, im Winter hatten wir Holzschuhe.» Im Dorf galten die Verdingkinder als «Heimeler». Auf einem Hof auf der anderen Seite des Dorfes lebten die Kinder der Fahrenden, die ebenfalls ihren Eltern weggenommen worden waren. Die Dorfgemeinschaft und ihre Kinder seien regelmässig gegen die «Heimeler» und die «Zigeuner» vorgegangen. «Die grösseren Kinder haben uns abgepasst. Es gab immer wieder Schlägereien, weil wir von ihnen als minderwertig erachtet wurden», erzählt Ueli Schärrer.

Auch in der Schule galten die Verdingkinder als Menschen zweiter Klasse. Der kleine Ueli etwa sass mehrere Jahre lang zuhinterst im Schulzimmer alleine an einem Pult. Das kam so: Als er eingeschult wurde, wurde er in ein Zimmer verlegt, das über dem Schweinestall lag. «Wir waren vier Knaben in diesem Zimmer, und es stank tatsächlich wie die Sau.» In der Schule zogen sie ihn damit auf, dass er mit den Schweinen schlafe. Er stank so sehr, dass niemand neben ihm sitzen wollte.

Die Zustände auf dem Hof führten immer wieder dazu, dass ein Kind die Flucht ergriff und das Weite suchte. Das dauerte in der Regel nicht lange, spätestens nach einer Woche wurden sie zurückgebracht. DieAusreisser seien dann zuerst anderswo «betreut» worden. Man habe ihnen diese «Betreuung» gut angesehen, als sie wieder auf den Hof kamen. In der zweiten Klasse versuchte Ueli Schärrer auch einmal, abzuhauen. Weit kam er nicht, lief er doch bald einem anderen Bauern in die Arme, der ihn zurückbrachte.

«Das ist dumm gelaufen. Ich konnte dann eine Woche lang nicht zur Schule», erzählt er lapidar. Der Bauer habe es sich nicht nehmen lassen, selber zuzulangen: «mit der Gürtelschnalle, mit den Fäusten, mit allem». Drei Tage lang wurde der Dreikäsehoch in einen Kellerraum gesperrt, ohne Matratze, ohne Wasser und Brot. «Danach war ich weich gekocht.» Er sei rausgekrochen und sei dankbar gewesen, etwas zu Essen zu erhalten. Er habe sogar «merci» gesagt.

«Sie versuchten, uns Kinder zu brechen. Wie sie das mit den Kälbern oder den Pferden machten, damit sie gehorchten. Sie wollten einfach meinen Willen brechen.» Dazu nutzten sie auch andere Gelegenheiten. Etwa den Umstand, dass Ueli Schärrer keine «Nidle», also keinen Rahm vertrug. «Gekochte Milch konnte ich nicht riechen, da musste ich mich gleich übergeben. Das ist heute noch so.» Das hinderte die «Tanten» und die Bauersleute aber nicht daran, ihm immer eine grosse Tasse mit viel warmer Milch und wenig Kaffee hinzustellen. «Ich trank die Tasse schnell aus und rannte nach draussen zum Miststock, um zu kotzen.»

Als er einmal etwas später aus dem Stall zum Frühstück kam, hatten sie ihm mit abgestandener «Nidle» eine Kachel gefüllt. Er weigerte sich, diese zu trinken und ging zur Schule, wo er über Mittag wie üblich mit Suppe, Brot und einem Apfel verpflegt wurde. Abends stand die Tasse mit dem Rahm noch immer auf dem Tisch. Es hiess, dass er nichts anderes kriegen würde, bis er sie ausgetrunken hätte. Das ging eine ganze Woche lang so. «So lange erhielt ich kein Abendessen.» Doch der Junge wusste sich zu helfen: «In der Nacht schlich ich mich in den Keller, wo ich Käse und Brot so stibitzte, dass es aussah, als seien die Mäuse dran gewesen», erzählt er verschmitzt.

Aber natürlich ging das nicht lange gut. «Eines Nachts stand plötzlich jemand hinter mir, der mich dann mit einem groben Stock verprügelte.» Nach etwa einer Woche ass Ueli Schärrer schliesslich den unterdessen zu Joghurt gewordenen Rahm. «Natürlich kriegte ich prompt Durchfall, aber das interessierte niemanden.»Die Botschaft war klar: Es gab keine Ausnahmen, die «Heimeler» hatten nichts zu wünschen. «Das wurde uns immer wieder eingetrichtert.»

Im Winter eiskalt, im Sommer wie im Backofen

In der vierten oder fünften Klasse bekam Ueli Schärrer einen jungen Lehrer aus Thun. Dieser rümpfte die Nase, als er ins Klassenzimmer kam. Er reagierte und rief auf den Höfen an und verlangte, dass die Kinder ab sofort nicht mehr stanken. «Bei mir ging es noch drei Monate, bis es schliesslich soweit war, dass ich nicht mehr wie ein Schwein roch.» So lange musste er im alten Zimmer bleiben, bis er in den Estrich umziehen durfte, wo man direkt unter den Ziegeln zwei Zimmer eingerichtet hatte. «Im Winter war es eiskalt und im Sommer heiss wie in einem Backofen.» Der junge Lehrer reagierte aber nicht nur auf den Gestank, sondern auch auf die Misshandlungen. «Als er einmal im Turnen meinen ‹knutschblauen› Rücken sah, fragte er mich, was passiert sei.»

Der Lehrer ging zur Polizei, um Anzeige zu erstatten. «Aber der Landjäger stauchte ihn zusammen. Er habe hier nichts zu sagen, hier laufe das schon seit Jahren so», berichtet Schärrer. Der Landjäger sei jeweils der Erste gewesen, der mit seinem Hund ausrückte, wenn ein Kind getürmt war. «Die Kinder, die er zurückbrachte, hatten alle Bissspuren vom Hund.» Auf dem Hof habe immer die Drohung im Raum gestanden: Wenn du nicht tust, wie wir von dir verlangen, kennen wir Orte, wo dir Ordnung beigebracht wird. «Wir wussten genau, was das hiess.» Kollegen, die von dort zurückkamen, erzählten, wie sie in der Psychiatrischen eingesperrt und gebrochen wurden, bevor sie wieder auf den Bauernhof verlegt wurden.

Arbeiten statt trainieren

Ueli Schärrer blieb auf dem Hof am Gurnigel, bis er die sechste Klasse besuchte. Erst dann durfte er endlich wieder nach Hause. Es habe einfach geheissen, es gehe nun wieder. Das entschied damals der Grosse Rat in Bern. «Das steht in den Akten: Der Grosse Rat sorgte dafür, dass meine Mutter ins Gefängnis kam, und der Grosse Rat entschied, dass wir nach Hause durften.» Als Ueli und seine zwei Geschwister vom Gurnigel nach Biel zurückkamen, holte sie die Mutter am Bahnhof ab, der Vater musste arbeiten. «Eine grosse Wiedervereinigung gab es nicht», erzählt Schärrer.

Die Familie lebte nun am Brüggmattenweg in einer Dreizimmer-Wohnung mit Mansarde. Bis zur neunten Klasse ging Schärrer dann in Biel zur Schule. Im Madretschschulhaus galt der Rückkehrer als der «Heimeler». Beim Turnen etwa hiess es: «Pass auf, das ist ein brutaler Kerl.» Dabei habe er sogar bei Pausenschlägereien, die damals an der Tagesordnung waren, geschaut, nicht in der ersten Reihe zu stehen. In der Schule machte er nun «den Knopf auf». Er habe begonnen, sich für die Schule zu interessieren, im Geografieunterricht sei er gar regelmässig der Beste gewesen, erzählt er.

Und er half mit, die Familie durchzubringen: Dreimal pro Woche trug er den «Amtsanzeiger» aus, jeweils von 16 bis 19 Uhr. So brachte er etwa 400 Franken pro Monat nach Hause. Zudem arbeitete er am Samstag als Ausläufer im Quartierladen. Diesen Zustupf konnte er als Sackgeld behalten. «Das waren immerhin 50 Franken, mit denen ich machen konnte, was ich wollte.» Wenn er doch einmal Zeit hatte, las er das «Bieler Tagblatt», das zwei Familien zusammen abonniert hatten.

Daneben war nun auch der Sport ein Thema. In der achten Klasse erhielt er einen Lehrer, der ein «angefressener» Handballer war. «Wir gewannen einmal sogar ein Handballspiel gegen Gym Biel. Wir waren die Ersten, denen das gelang.» Das habe ihn motiviert. So trat er den Junioren des FC Madretsch bei, bei denen er jedoch nicht oft mitmachen konnte, weil er meist arbeitete, wenn seine Kollegen trainierten. Ausdauer habe er trotzdem gehabt, denn beim Zeitungsaustragen sei er fast immer gerannt. «Ich war damals leicht und mager.

Als ich mich für die Rekrutenschule stellen musste, wog ich 60 Kilogramm bei 1.68 Meter.» In der RS sei er um zwölf Zentimeter gewachsen und am Ende 90 Kilogramm schwer gewesen. «Ich musste dreimal neue Kleider fassen», erzählt er lachend. Dabei habe er zu Hause genügend zu essen erhalten. «Natürlich, Fleisch gab es selten und wenn, wurde es geteilt. So teilten sich meine zwei Geschwister und ich einen Cervelat. Die Eltern teilten sich den anderen.»

«Ich spürte erstmals richtige Anerkennung»

Nach der Schule begann Ueli Schärrer in Schüpfen eine Lehre als Strassenbauer. Es war sein Wunsch, auf dem Bau zu arbeiten. Unter der Woche wohnte er in Schüpfen, wo er im Estrich über dem Werkhof ein Zimmer hatte. Bis zum Lehrabschluss lebte er mit Spaniern und Italienern zusammen, die dort als Saisonniers arbeiteten. «Meine Heimvergangenheit war hier nie ein Thema, auch vom Betrieb her nicht, obwohl die Chefs davon wussten.» An seinem ersten Arbeitstag war er auf einer Baustelle in Aarberg. Der Polier sagte ihm, er solle mit einem Handlanger einen Telefonschacht bauen und drückte ihm einen Plan in die Hand. Nach zwei Wochen war der Schacht fertig betoniert. Achteckig, mit «Trompeten» für die Telefonkabel. «Da zog der Lehrmeister den Hut. Und ich spürte das erste Mal richtige Anerkennung.»  

Nach der Lehre und der RS kam er mit der Gewerkschaft in Kontakt. Der Sekretär der Gewerkschaft Bau und Holz kam auf die Baustelle, um die 20-Jährigen zu rekrutieren. Bereits zu Hause am Küchentisch war Politik ein Thema gewesen. Der Vater war in der Gewerkschaft und Mitglied der Partei der Arbeit (PdA). «Wir hatten den ‹Vorwärts› zu Hause. Die PdA-Zeitung gehörte zu meiner Lektüre. Wir hatten eine linke Gesinnung. Aber mein Vater sagte immer, er sei kein Kommunist, er sei Sozialist. Das gilt auch für mich.» Er habe sich immer dafür eingesetzt, dass es allen Leuten gut gehe. «Ich hatte ja erlebt, wie es anders ist.» Ob die Gesinnung seines Vaters mitentscheidend war, dass er verdingt wurde, weiss Ueli Schärrer nicht. «Aber man kann davon ausgehen, dass das auch mitspielte.»  

Die RS absolvierte er als Gebirgsgrenadier. «Weil mein Lehrmeister im Militär Oberst im Generalstab war, wurde ich praktisch verpflichtet, weiterzumachen.» Als er im sechsten WK aus gesundheitlichen Gründen ausgemustert wurde, leistete er als Küchenchef Dienst. Die Ausmusterung kam ihm aus politischen Gründen gelegen. «Aber hauptsächlich waren es meine Rückenprobleme, die auf meine Zeit als Verdingkind zurückgingen.» Zuerst aber hatte er eine Auseinandersetzung mit dem Militärpsychiater. «Er hielt mir meine politische Gesinnung vor, dabei war ich damals in keiner Partei. Ich nannte ihn einen ‹Schnudderbueb›. Kurz danach war ich entlassen.» Aus seinen Akten erfuhr Ueli Schärrer später, dass er bis nach der RS unter Beobachtung stand. Sowohl der Lehrmeister als auch das Militär mussten regelmässig berichten, wie er sich verhielt. «Ich hing immer an einem Faden. Aber ich hatte keine Ahnung davon.» Das hörte erst auf, als er mit 20 Jahren volljährig wurde und das Stimmrecht erhielt.

Nach der zweiten Lehre als Maurer machte Ueli Schärrer die Vorarbeiterschule und fuhr danach grosse Baumaschinen. Er arbeitete, wo man ihm am meisten bezahlte. Auch bei der Ammann AG, für die er Ende der 70er-Jahre in der DDR und der Sowjetunion war, um dort Baumaschinen zusammenzusetzen. «Mein Verbindungsoffizier in Wladiwostok war Wladimir Putin.» Ueli Schärrer lacht schallend. Dieser sei der einzige Geheimdienst-Offizier gewesen, der Deutsch konnte. «Er warf mir vor, ein Sozialist zu sein. Und er wollte mich immer zum Kommunismus bekehren.» Er aber habe zu ihm gesagt: «Vladi, vergiss es, ich bin hier, um zu arbeiten.»

Die berufliche Wanderschaft war zu Ende, als er sich 29-jährig den Rücken operieren lassen musste. So kam er zur Post, wo er in Biel eine Lehre zum Briefträger machte. Nach zwei Jahren in Zürich wurde er in Biel als Ablöser eingesetzt. Als in Studen eine Stelle als Briefträger frei wurde, zog er um. Hier lernte er seine Ehefrau Sonja kennen, ebenfalls ein ehemaliges Verdingkind. «Das schleicht dir irgendwie das ganze Leben lang nach. Wie bei meinem Rücken, den ich mir als kleines Kind auf dem Hof kaputtgemacht hatte, weil ich zu früh zu schwer heben musste.» Die beiden heirateten und hatten drei Kinder, die zwischen 1989 und 1992 zur Welt kamen. Doch die Ehe hielt nicht. «Eines Tages war die Wohnung leer, als ich nach Hause kam. Der Älteste kam damals gerade in die Schule.» So fiel die Familie auseinander. «Ich habe seither kaum mehr Kontakt zu den Kindern. Bloss ab und zu auf Facebook. Dabei bin ich inzwischen Grossvater.»

Bei der Post wurde Ueli Schärrer Mitglied der Gewerkschaft PTT Union, bei der er sich im Vorstand engagierte. Nach den Jahren in Studen kehrte er nach Biel zurück und lernte seine Partnerin Erika kennen, mit der er seit 14 Jahren zusammen ist. Bis vor knapp fünf Jahren arbeitete er als Briefträger. Dann liess er sich mit 62 und einer Überbrückungsrente pensionieren. Doch vor drei Jahren startete er seine politische Karriere, er trat der Bieler PdA bei: «Der 1. Mai war für mich schon immer rot angestrichen.» Nun kandidiert das frühere Verdingkind, der ehemalige «Heimeler», gar für den Nationalrat.


Zur Person

Ueli Schärrer wird am 22. Januar 1953 in Biel geboren. Als «Näschtbutzli», wie er sagt, hat er einen Bruder, zwei Schwestern und einen Halbbruder.
Seine Mutter und sein Vater sind beide als Verdingkinder aufgewachsen. Vergeblich versuchen sie, ihre Familie durchzubringen, ohne auf dem Radar der Behörden aufzutauchen.
Im Herbst 1954 aber entreissen die Behörden den Eltern die Kinder: Ueli Schärrer wird ein Verdingkind. Erst als er die sechste Klasse besucht, darf er wieder nach Hause.
Er beschliesst, sein Schicksal in die eigene Hand zu nehmen. Nach der Lehre und der RS, als 20-Jähriger, meint er, seine «Heimvergangenheit» hinter sich gelassen zu haben.
Doch so einfach ist das nicht. Heute lebt Schärrer in Jens. Er engagiert sich als Rentner in der Gewerkschaft Syndicom und in der Partei der Arbeit, PdA, in Biel.

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