Sie sind hier

Abo

Biel

Stadt schnappt Stiftung Fabrik vor der Nase weg

Um ihre Behindertenwerkstatt zu erweitern, hat die gemeinnützige Stiftung L’étrive einen Kaufvertrag für eine Fabrik in Bözingen abgeschlossen. Doch in letzter Sekunde grätscht die Stadt Biel dazwischen – sie will das Gebäude lieber in eine Schule umfunktionieren.

Um die ehemalige Fabrik von Victorinox in Bözingen streiten sich die Stadt Biel und die gemeinsame Stiftung L'étrive. Bild: Aimé Ehi

Lino Schaeren

Die Stiftung L’étrive existiert seit 1983. Sie beschäftigt in ihrer Werkstatt in der Nähe des Bieler Güterbahnhofs rund 40 behinderte Personen, ist vor allem als Zulieferin für die Uhrenindustrie tätig. Doch der Raum wird langsam knapp: Deshalb wurde ein Umzug in eine ehemalige Fabrik in Bözingen vorangetrieben. Die Finanzierung für den Fabrikkauf stand und mit der Stadt war man sich über die Baurechtskonditionen einig. Doch die Grundeigentümerin hat es sich nun anders überlegt, der Gemeinderat will der gemeinnützigen Stiftung die Liegenschaft vor der Nase wegschnappen: Weil sich in Biel ein akuter Schulraummangel abzeichnet, sollen in die ehemalige Fabrik Klassenräume eingebaut werden.

Das fragliche Fabrikgebäude am Grillenweg 4 gehört der Victorinox Swiss Army Watch AG. Der Baurechtsvertrag mit der Stadt läuft noch rund 20 Jahre, die Immobilie wurde aber seit 2017 auf dem Markt angeboten. Vor 15 Monaten hat sich die Stiftung L’étrive auf der Suche nach mehr Raum das Gebäude erstmals angeschaut und laut Direktorin Simone Jaisli sei sofort klar gewesen: «Das ist es!»

Fabrik kostet 2,6 Millionen

Die Frage nach der Finanzierung hat den angestrebten Kauf dann aber lange verzögert. Verkürzt dargestellt: Die gemeinnützige Stiftung hatte Reserven für die Investition in neue Räumlichkeiten angelegt. Dieses Kapital wiederum führte dazu, dass der Kanton Bern die Subventionen für L’étrive massiv kürzte. Der Bank reichte in der Folge das zurückgelegte Eigenkapital aufgrund der düsteren Subventionsaussichten nicht aus, um den für den Kauf nötigen Kredit zu sprechen.

Nach langem Hin und Her kam es dann doch noch zu einer Einigung mit Kanton und Bank, Stiftungsdirektorin Jaisli unterzeichnete am 13. Juni den Kaufvertrag mit Victorinox über 2,6 Millionen Franken. Mit der zuständigen Stadtbehörde hatte sich die Stiftung bereits zum Jahresbeginn auf die Konditionen für das Baurecht geeinigt, die Stadt hatte schriftliche Vorschläge für die Übertragung und die Verlängerung des Baurechts vorgelegt. Dann aber hat der Gemeinderat sein Veto eingelegt: Er will vom Vorkaufsrecht der Stadt Gebrauch machen, mit dem Ziel, die ehemalige Fabrik in eine Schule umzufunktionieren. Das hat er gestern mitgeteilt.

Zehn Klassen der Sekundarstufe und zwei Kindergartenklassen sollen hier ab dem Schuljahr 2021/22 einquartiert werden. Dies, weil die Stadt bei stetig wachsenden Schülerzahlen nicht nachkommt, genügend Schulraum zur Verfügung zu stellen. Der Gemeinderat schreibt, er bedauere die Konsequenzen für die Stiftung L’étrive. Eine Interessenabwägung habe aber zum Schluss geführt, «dass dem ordentlichen und funktionierenden Schulbetrieb oberste Priorität zukommt».

Der Stadtrat entscheidet

Doch die Zeit eilt für den Gemeinderat, sehr sogar: Das Vorkaufsrecht läuft nur vier Monate, erlischt aufgrund der Vertragsunterzeichnung zwischen der Stiftung und Victorinox am 13. Oktober. Will die Stadt als Grundbesitzerin die Fabrik erwerben, muss sie jene 2,6 Millionen Franken zahlen, die L’étrive ausgehandelt hat. Dieser Betrag liegt jedoch in der Kompetenz des Stadtrats. Und weil dieser im Oktober erst eine Woche nach Erlöschen des Vorkaufsrechts tagt, will der Gemeinderat das Geschäft jetzt nachträglich auf die Traktandenliste der Stadtratssitzung von nächster Woche setzen.

Damit überhaupt über den Kredit befunden wird, muss das Parlament allerdings laut Geschäftsordnung dieser nachträglichen Ansetzung mit einer Zweidrittelmehrheit zustimmen. Tut er dies nicht, geht die Fabrik an die Stiftung. Die Stadträte werden also vor die unangenehme Wahl gemeinnützige Behindertenwerkstatt oder dringend benötigter Schulraum gestellt.

«Das ist nicht akzeptabel»

Die Stiftung appelliert deshalb in einem Schreiben an die Stadträte, das gestern Abend verschickt wurde, dem Kauf nicht zuzustimmen. Jaisli sagt: «Die Stadt hat zugesichert, dass wir das Gebäude kriegen, nun muss sie zu ihrem Wort stehen. Eine Wende um 180 Grad in letzter Sekunde ist nicht akzeptabel.» Sie wirft den Behörden eine unseriöse Planung vor.

Biels Finanzdirektorin Silvia Steidle (PRR) widerspricht Jaislis Darstellung. Sie bestätigt zwar die grundsätzliche Einigung, was das Baurecht betrifft. Der Gemeinderat habe aber nie darüber befunden und folglich auch keine Kehrtwende vollzogen. Steidle betont, dass die Stadt die Stiftung L’étrive über ihre Absichten informiert habe, noch bevor diese den Kaufvertrag unterzeichnet habe. «Als wir unseren Anspruch geltend gemacht haben, war das Gebäude noch auf dem Markt.»

Steidle sagt, es sei unglücklich, dass nun zwei Parteien auf demselben Objekt beharrten. Es sei aber absolut legitim, dass die Stadt Gebrauch von ihrem Vorkaufsrecht machen wolle.

Die Finanzdirektorin bekräftigt zudem, dass die Stadt der Stiftung grösste Unterstützung bei der Suche nach einem Ersatzobjekt zugesichert habe. Vergangenen Montag haben Steidle, Bildungsdirektor Cédric Némitz (PSR) und Stadtpräsident Erich Fehr (SP) dies den Stiftungsverantwortlichen im Gespräch noch einmal versichert. Man sei dabei «auf gutem Weg», sagt Steidle. Jaisli glaubt indes nicht daran.

Ausser einer «absolut hypothetischen Möglichkeit» hätten die Mitglieder des Gemeinderats feststellen müssen, dass es keine anderen Liegenschaften gebe, die den Ansprüchen der Stiftung entsprechen würden. Denn: Die Stiftung müsse kaufen, eine Miete sei ausgeschlossen – da der Kanton die Subvention laut Jaisli kaum wieder erhöhen dürfte, solange das Eigenkapital für den vorgesehenen Kauf der Fabrik in Bözingen vorhanden ist.

Jaisli sagt, dass die Stiftung mit dem Umzug die Arbeitsfläche für die Behindertenwerkstatt verdoppeln wolle. Sie räumt zwar ein, dass die Existenz der Stiftung nicht unmittelbar gefährdet sei, sollte dies nicht klappen. «Wir hätten aber das Klumpenrisiko verringern können.» L’étrive ist heute zu rund 80 Prozent für die Uhrenindustrie tätig. Laut der Direktorin stünden grosse Kunden aus anderen Branchen bereit, müssten aber aufgrund des fehlenden Platzes vertröstet werden.

Nachrichten zu Biel »