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Biel

«Sucht füllt Zeit»

Die Langeweile des Homeoffice verlockt zu Alkohol, Zigaretten oder Kaufrausch. Der Konsum nimmt zu, davon sind Suchtberater überzeugt. Wird der Mehrkonsum die Krise überdauern? Mike Sigrist vom Blauen Kreuz wagt eine Prognose.

Ein Gespräch zwischen Therapeutin und Patientin. Bild: Keystone

Rachel Hämmerli

Jürg von Allmen freut sich über Berichterstattung. Mediale Aufmerksamkeit könnte ihm bei seinem Problem helfen. Oder besser: beim Problem seiner Klienten. Jürg von Allmen betreut für das Blaue Kreuz in Biel Menschen mit Alkohol- und Medikamentenproblemen. Jetzt, wo die schwächelnde Wirtschaft Existenzen bedroht, sollten Suchtberater alle Hände voll zu tun haben. «Es ist gspässig», meint von Allmen. «Wir haben kaum Anfragen.» Das läge auch an der öffentlichen Wahrnehmung.

Viele denken wohl, die Beratung sei wegen des Virus eingestellt, so von Allmen. Mitnichten, das Angebot des Blauen Kreuzes in Biel ist praktisch unverändert. Beratungsgespräche finden nach wie vor statt – sogar Kunsttherapien in Dreiergruppen. Natürlich alles Corona-konform mit Hygiene- und Abstandsregeln. Jeder, insbesondere jene in der Risikogruppe, können Telefonberatungen nutzen oder mit dem Berater eine Videokonferenz starten. Das Blaue Kreuz hat sich dafür mit allerhand Online-Diensten ausgerüstet. Gerade jetzt sei das Angebot nötig.

Die Ruhe vor dem Sturm

Schätzungsweise 250 Menschen melden sich jährlich bei Jürg von Allmen und seinen Kolleginnen. Daneben besteht eine grosse Dunkelziffer. Rund 80 Prozent aller Betroffenen behalten ihr Suchtproblem für sich. «Die Coronakrise bringt sicher mehr Suchtkranke hervor», sagt Jürg von Allmen und untermauert damit die Einschätzung von Suchtexperten landesweit. Gefährdet seien nebst bereits behandelten Patienten die sogenannten Risikokonsumenten. Jene, die mal ein Bier, mal eine Tablette mehr einnehmen und schliesslich den Konsum nicht mehr im Griff haben. Dieser sei oft an einen bestimmten Ort gebunden. Wer sich beispielsweise zuhause nach Feierabend stets ein Glas Alkohol gegönnt hat, laufe jetzt Gefahr, mehr zu trinken, weil man nun dauernd zuhause sei, so von Allmen.

Zwar melden sich derzeit kaum neue Klienten bei Jürg von Allmen, dafür beklagen die bisherigen Patienten vermehrt Rückfälle. «Es rufen auch mehr Angehörige an.» Bis zu 50 Prozent aller Hilfegesuche kommen von der Familie oder dem Freundeskreis. Zwei Jahre dauert es gewöhnlich, bis ein Suchtkranker entwöhnt ist. Der Therapeut baut mit ihm Gewohnheiten auf, die den Konsum verhindern sollen. Einen Alltag, der jetzt unterbrochen ist. Die fehlende Struktur mischt sich mit Angst um den Arbeitsplatz und mündet im Rückfall.

Suchtfalle Internet

Auch Tätigkeiten können süchtig machen. Gemeint ist die sogenannte Verhaltenssucht. Dazu zählen Spiel- oder Kaufsucht, die sich in Zeiten von Corona im Internet abspielt. «Anonym und jederzeit verfügbar», beschreibt Therapeutin Christina Messerli das Internet. Sie betreut unter anderem Menschen mit einer Verhaltenssucht für die Stiftung Berner Gesundheit im Regionalzentrum in Bern. Momentan sei das Internet besonders verführerisch. «Online-Casinos werben noch aggressiver als sonst», so Messerli. Mit personalisierten Nachrichten, die auf dem Bildschirm aufpoppen, oder mit Mails, die auf Sonderaktionen hinweisen. Gerade jetzt, wo auf vielen Menschen ein wirtschaftlicher Druck lastet, werden sich manche denken: «So mache ich schnelles Geld», sagt Messerli. Die Fachstelle für Suchtprobleme Gesundheit Bern betreut jährlich 4000 Menschen mit allen möglichen Suchtproblemen, davon plagt 10 Prozent eine Verhaltenssucht. Betroffen sind vor allem Männer im mittleren Alter, aber auch viele Jugendliche.

Mit der Digitalisierung nehmen weitere Verhaltenssüchte zu – Stichwort Porno – oder Gamesucht. Da sich das Leben jetzt umso mehr im Internet abspielt, werden auch mehr Menschen davon betroffen sein, prophezeit Messerli – auch jene, die sich vorher kaum im Internet aufhielten. Wer sich stundenlang im Netz aufhalte und Kontakte zu Freunden und Familie vernachlässige, solle sich Unterstützung bei einer Fachstelle holen, so Messerli.

Ein Blick in die Zukunft

Mike Sigrist beschäftigt sich mit der Frage, ob das gestiegene Suchtverhalten nach der Coronakrise weiter anhält. Er leitet den Bereich Beratung und Therapie des Blauen Kreuzes Bern-Solothurn-Freiburg. Sigrist hält zweierlei Szenarien für möglich. Um vorauszusagen, wie die Geschichte endet, fehle ihm die Erfahrung in Pandemie-Situationen. Er hofft: «Sobald die Leute wieder ihre normale Arbeitsstruktur haben, wird der Risikokonsum verschwinden.» Das Homeoffice wirbelt den Alltag durcheinander. Neben der gewohnten Arbeitsstruktur fallen Hobbys weg, weil die Leute nicht mehr raus dürfen. Die Langeweile nistet sich ein. «Sucht füllt Zeit», so Sigrist. Das Feierabendbier wird auf Mittag verlegt, weil die Arbeitskollegen sich nichts dabei denken können. Und am theoretischen Feierabend dann noch eins und noch eins. Dazu wird geraucht und das Internet verlockt zu unnötigen Einkäufen und sonstigem Schabernack. Nach der Krise wird sich dieser Alltag wieder normalisieren, hofft Sigrist und Suchtmittel werden wieder zu Genussmittel.

Nach der Seuche die Sucht

Falls der Alltag bei einer Vielzahl Menschen nicht mehr der gleiche ist, wie vor der Coronakrise, prophezeit Sigrist das zweite Szenario. Wenn Jobverlust, gesundheitliche Probleme oder Krisen in der Familie folgen, wird sich bei vielen Menschen eine Sucht manifestieren, so Sigrist. «Menschen reagieren unterschiedlich auf Krisen.» Meist ist es eine Ansammlung von negativen Erlebnissen, die eine Sucht hervorrufen. Welche Menschen gefährdet sind, verrät eine grobe Formel: «Leute, die Stress und Langeweile mit einem Suchtmittel kompensieren», so Sigrist.

Alternativen zur Sucht

Beides lässt sich auch anders kompensieren. Mike Sigrist schlägt vor: «Dem Tag eine Struktur geben.» Das fängt bei alltägliche Dingen an wie putzen, kochen oder den Pyjama nicht bis Nachmittag tragen. Wenn vor der Krise das Fitnessstudio zum Alltag gehörte, dürfe Sport jetzt nicht fehlen. «Man sollte sich bemühen, den früheren Alltag beizubehalten», so Sigrist.

Wer trotzdem vermehrt zu Zigarette, Flasche oder dem Internet greift, solle sich mal fragen: «Warum tu ich das jetzt?» Für die Psyche wirken Suchtmittel wie eine Belohnung. Man könne sich aber auch andere Belohnungen ausdenken. Ein Stück Schokolade, einen Tee oder einfach mal eine Pause, «um durchzuatmen oder ein Buch zu lesen», so Sigrist. Hilft alles nichts, wirken Gespräche Wunder. «Krisen halten sich nicht an Bürozeiten», sagt Sigrist. Deshalb bietet das Schweizer Sorgentelefon, die dargebotene Hand, rund um die Uhr ein Ohr.

Stichwörter: Sucht, Alkohol, Therapie

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